Oralchirurgie 27.05.2024
Oralchirurgische Behandlung und Sedierung in der Praxis
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Dieser Beitrag ist unter dem Originaltitel "Geriatrische Patienten: Oralchirurgische Behandlung und Sedierung in der Praxis" im OJ Oralchirurgie Journal erschienen.
Geriatrische Patienten stellen in der Oralchirurgie eine besondere Herausforderung dar, da sie oft mit verschiedenen altersbedingten körperlichen und geistigen Einschränkungen zu kämpfen haben. In der Regel benötigen sie eine spezielle Betreuung und eine individuelle Behandlungsplanung. Zudem müssen mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten und Erkrankungen berücksichtigt werden. Eine sorgfältige Diagnostik, eine schonende Behandlung und eine gute Nachsorge sind entscheidend, um Komplikationen zu vermeiden und eine schnelle Genesung zu ermöglichen. Dr. Frank G. Mathers vom Kölner Institut für dentale Sedierung berichtet über Herausforderungen und Fallstricke bei der zahnmedizinischen Betreuung älterer Patienten.
Einleitung
Ein gesundes Gebiss, ohne Parodontalerkrankungen, Karies und Zahnverlust ist wichtig für die Kommunikation, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, die Ernährung und damit auch für die Gesundheit und Lebenszufriedenheit im Alter.1 Geriatrische Patienten verdienen eine gute Versorgung. So schneidet z. B. bei Untersuchungen zur Lebensqualität von älteren Menschen ein festsitzender Zahnersatz im Vergleich zu herausnehmbaren Prothesen deutlich besser ab.2 Umfangreiche Behandlungen im höheren Lebensalter nehmen zu und dazu gehört in vielen Fällen auch die zahnärztlich geführte Sedierung.3
Zahnärzte haben in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Gesundheit dieser Patientengruppe zu verbessern, doch weitere Anstrengungen sind, insbesondere bei einer Untergruppe, den Pflegebedürftigen, von Nöten. Diese Patienten haben mehr Karies, weniger eigene Zähne und häufiger herausnehmbaren Zahnersatz als die gesamte Altersgruppe der Senioren über 75 Jahre. Hinzu kommt, dass 60 Prozent der Pflegebedürftigen nicht in der Lage sind, einen Zahnarzttermin zu vereinbaren und dann in die Praxis zu gehen.2 In Deutschland hat sich die Mundgesundheit in den letzten Jahren deutlich verbessert, aber es gibt gerade in der Alterszahnmedizin noch einiges zu tun.4 Die Versorgung dieser Patienten hat viele Facetten und gerade oralchirurgisch und implantologisch tätige Zahnärzte werden sich ein Minimum an internistischem Wissen aneignen müssen, um dem Gerecht zu werden.3
Die Prophylaxe hat ebenfalls einen besonderen Stellenwert, wobei bislang der Schwerpunkt eher auf die Kariesprävention gelegt wurde. Beim geriatrischen Patienten stehen jedoch pathologische Veränderungen des Zahnfleisches und des Zahnhalteapparates im Vordergrund und die Versorgung muss entsprechend altersgerecht angepasst werden.5 Die Zunahme an älteren Patienten wird eine Fokussierung des gesamten Gesundheitssystems auslösen6 (Abb. 1). Hierbei müssen die Auswirkungen der alternden Bevölkerung mit ihren spezifischen klinischen Bedürfnissen, z. B. die deutlich geringere Beanspruchung von zahnmedizinischen Leistungen im Alter, bedacht werden4 (Abb. 2).
Infolge physiologischer, pharmakokinetischer und pharmakodynamischer Veränderungen kommt es bei älteren Menschen vielfach zu veränderten Reaktionen auf diverse Pharmaka in der Zahnarztpraxis.7 Der geriatrische Patient ist willkürlich definiert als Mensch, der das 65. Lebensjahr vollendet hat.8 Am Anfang des 20. Jahrhunderts galten Menschen mit 50 Jahren bereits als „alt“ und so wird deutlich, dass sich die Definition des Begriffs „alt“ oder „geriatrisch“ ständig verändert. Letztendlich ist aber ohnehin die Einschätzung des funktionellen Alters des Patienten weitaus wichtiger als das chronologische Alter, denn die fortschreitende Funktionseinschränkung ist für den physiologischen Alterungsprozess verantwortlich.9 Der gesamte menschliche Organismus wird zunehmend vulnerabel, wenn abnehmenden Organfunktionen nicht mehr vollständig kompensiert werden können. Tabelle 1 beschreibt die physiologischen Aspekte des Alterungsprozesses.
Kardiovaskuläres System
Mit zunehmender Alterung des Patienten treten eine Vielzahl anatomischer und physiologischer Veränderungen im kardiovaskulären und autonomen Nervensystem auf. Ein verminderter Tonus des parasympathischen Nervensystems, eine Abnahme der Reaktionsfähigkeit der Beta-Rezeptoren und eine Versteifung des Gefäßsystems haben schwerwiegende Folgen für ältere Patienten. Tabelle 2 zeigt spezifische kardiovaskuläre Veränderungen beim geriatrischen Patienten.
Pulmonales System
Die Elastizität des pulmonalen Systems ist bei geriatrischen Patienten vermindert und verringert die Anpassungsfähigkeit der Lunge. Wie die altersbedingte Reduktion der Körpergröße zeigt, schrumpfen die Wirbel und Wirbelzwischenräume, was zu einer Veränderung der Thoraxkrümmung führt. Zudem verliert die Brustwand an Elastizität und der anatomische und physiologische Totraum nimmt durch den Verlust an Diffusionsfläche zu. Eine Verringerung der Ziliaraktivität, der Reaktivität der Atemwege und der Schutzreflexe prädisponiert den geriatrischen Patienten für Aspirationen.
Oralchirurgen müssen bei der Durchführung von Sedierungen bedenken, dass der geriatrische Patient eine begrenzte Lungenreserve hat, verbunden mit der Unfähigkeit, die Atemfrequenz und das Volumen im Fall von Hypoventilation und Hypoxie zu erhöhen. Infolge der anatomischen Strukturveränderungen ermüdet die Atmungsmuskulatur früher. Lachgas führt zu keiner Atemdepression und gilt als sicher. Die orale und/oder intravenöse dentale Sedierung sollte jedoch mit größ-ter Vorsicht durchgeführt werden.
Renales System
Verlust von Nierenmasse, Gefäßveränderungen, verminderte Durchblutung der Nieren und eine reduzierte glomeruläre Filtrationsrate bei geriatrischen Patienten erfordern geringere Dosierungen, sowie den Einsatz von Medikamenten mit kurzen Halbwertszeiten und ohne aktive Metaboliten. Die verminderte Reserve kann das Risiko einer Niereninsuffizienz erhöhen und beeinflusst auch die Wirkdauer vieler Pharmaka, insbesondere von Sedativa. Die Beurteilung des Patienten vor der Behandlung erfordert eine sorgfältige Überprüfung des Flüssigkeitsstatus.
Hepatisches System
Bei Patienten im höheren Alter ist die Leberdurchblutung reduziert. Hepatische mikrosomale Enzyme, wichtig für oxidierende Medikamente, sind weniger aktiv. Die Umwandlung von fettlöslichen Medikamenten in wasserlösliche Metaboliten durch Konjugation ist ebenfalls verringert. Dies kann auch dazu führen, dass die Wirkdauer vieler fettlöslicher Medikamente, einschließlich einiger Anästhetika und Beruhigungsmittel, verlängert wird.
Zentrales Nervensystem
Zu den wichtigen altersbedingten Veränderungen beim älteren Patienten gehört ein kontinuierlicher Verlust der neuronalen Dichte. Biochemische Veränderungen, die mit dem Alterungsprozess verbunden sind, schließen eine Reduzierung der Neurotransmitter ein, wie in Tabelle 3 beschrieben. Die Auswirkungen des Alterns auf das zentrale Nervensystem führen häufig zu vermehrtem Auftreten von Verwirrung, Delirium und erhöhter Empfindlichkeit gegenüber pharmakologischen Wirkstoffen.
Wärmeregulierung
Patienten, die sich einer dentalen Sedierung unterziehen, sind nicht den gleichen Temperaturschwankungen ausgesetzt wie im OP-Saal, dennoch regulieren geriatrische Patienten ihre Körpertemperatur nicht so effizient wie jüngere Menschen. Sedierte Patienten sollten deshalb bei allen Eingriffen warmgehalten werden, um Schüttelfrost zu verhindern. Zittern zur Wärmegeneration kann nach manchen Untersuchungen den Sauerstoffverbrauch um bis zu 400 Prozent erhöhen, auch wenn andere Studien niedrigere Zahlen angeben.10 Der verstärkte Sauerstoffverbrauch erhöht auf jeden Fall die Herzmuskelbelastung und kann zur Entwicklung einer Hypoxie führen.
Pharmakokinetik und Pharmakodynamik bei älteren Menschen
Die skizzierten physiologischen Veränderungen wirken sich auf die Reaktion des geriatrischen Patienten auf pharmakologische Substanzen aus. Zusätzliche Überlegungen im Zusammenhang mit der betagten Bevölkerung sind:
- Verminderte Plasmaproteinbindung
- Veränderte Körperzusammensetzung
Die Plasmaproteinbindung ist in der geriatrischen Patientenpopulation aufgrund einer verminderten Menge an zirkulierendem Protein häufig vermindert. Plasmaproteine, die aufgrund ihrer Unfähigkeit, Zellmembrane zu durchdringen und pharmakologische Wirkung zu entfalten, inaktiv sind, „binden“ pharmakologische Präparate an den „gebundenen“ Teil des Medikaments. Der verbleibende „freie“ Anteil des Medikaments übt eine pharmakologische Wirkung aus. Diese Abnahme der Plasmaproteinbindung ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass geriatrische Patienten häufig eine überschießende klinische Wirkung auf Sedativa, Hypnotika und Opioide zeigen.11
Weitere altersbedingte Veränderungen in der Körperzusammensetzung sind ein Rückgang der Skelettmuskulatur (magere Körpermasse) und eine Erhöhung des Körperfettanteils.12 Dieser erhöhte Fettgehalt in Verbindung mit einer Verringerung des Blutvolumens von über 20 Prozent tritt mit dem Alterungsprozess auf.13 Daher wird bei älteren Patienten die Injektion von Betäubungsmitteln zunächst in ein reduziertes Blutvolumen verteilt, was zu einer höheren Plasmakonzentration des Medikaments führt als erwartet. Hinzu kommt, dass viele Betäubungsmittel anschließend auf das Fettgewebe umverteilt werden, was zu einer verlängerten Schläfrigkeit des geriatrischen Patienten führt.14 Tabelle 4 zeigt die Auswirkungen vieler dieser Veränderungen auf die Halbwertszeiten häufig verwendeter Sedierungsmittel.
Benzodiazepine
Geriatrische Patienten sind besonders anfällig für die beruhigenden Wirkungen, die mit der Verabreichung von Benzodiazepinen verbunden sind. Eine Dosisreduktion von 30 bis 50 Prozent kann erforderlich sein, wenn einem geriatrischen Patienten Benzodiazepine verabreicht werden. Deren beruhigende Wirkung wird durch eine verminderte Aktivität der hepatischen mikrosomalen Enzyme und eine verringerte Nieren-Clearance verstärkt. Überlegungen zur Verabreichung von Benzodiazepinen beinhalten eine sorgfältige Titration, eine verminderte Gesamtdosis und die Verwendung von Benzodiazepinen mit inaktiven Metaboliten (Midazolam).
Opioide
Eine verminderte Proteinbindung und eine verminderte pharmakologische Clearance, verbunden mit einem erhöhten Verteilungsvolumen, können zu einer verlängerten Wirkdauer und einer verstärkten pharmakologischen Wirkung führen. Diese Schwankungen haben auch signifikante respiratorische und kardiovaskuläre Depressionen in der geriatrischen Patientenpopulation zur Folge. Die Gabe von Opioiden zusätzlich zu Benzodiazepinen erzeugt einen ausgeprägten synergetischen Effekt. Atemdepression ist eine häufige Komplikation, die mit der Kombination von Benzodiazepinen und Opioiden assoziiert wird.
Sedativa
In der geriatrischen Patientenpopulation ist erforderlich, die Gesamtdosis aller Mittel zur Dämpfung des zentralen Nervensystems zu verringern. Eine reduzierte Clearance in Verbindung mit einer veränderten Pharmakokinetik erfordert sorgfältige Titration aller sedierenden Medikamente. Spezifische gerontologische Überlegungen schließen eine reduzierte Gesamtdosis (30 bis 50 Prozent) ein, die langsam bis zur klinischen Wirkung titriert wird. Eine verringerte Herzleistung geriatrischer Patienten erfordert, dass der sedierende Arzt einige Minuten nach der Verabreichung jeder Medikamentendosis abwartet und der Zirkulation Zeit lässt, damit eine Beurteilung der vollständigen pharmakologischen Wirkung möglich ist.
Beurteilung der Atemwege
Während der Sedierung kann sich das Management der Atemwege des geriatrischen Patienten als besonders schwierig erweisen.15 Redundantes oropharyngeales Gewebe im zahnlosen Patienten kann zu einem frühzeitigen Atemwegskollaps und einer Obstruktion der oberen Atemwege führen. Ein begrenzter Bewegungsradius muss von sedierenden Ärzten beachtet werden, um tiefe Sedierungszustände zu vermeiden. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit von Arthrose-Patienten prädisponiert sie für ein eventuell schwieriges Atemwegsmanagement, wenn eine Notfallsituation eintritt. Der Verlust der knöchernen Kieferstruktur im betagten Patienten verzerrt das Gesicht, was die Wiederbelebung des Patienten oder die Überdruckbeatmung erschweren kann.
Psychologisches Wohlbefinden
Es ist wichtig, bei Sedierungen das psychologische Wohlbefinden des geriatrischen Patienten zu berücksichtigen. Viele ältere Patienten sind an einen bestimmten Tagesablauf gewöhnt. Die Verabreichung von Sedativa für diagnostische, therapeutische oder kleinere chirurgische Eingriffe entzieht dem Patienten sein spezifisches Verhaltensmuster. Körperliche Einschränkungen (Hör-, Sehschwäche) und mangelnde Autonomie können zu vermehrter Frustration und Verwirrung führen. Der Arzt, der sich mit der Betreuung dieser Patientenpopulation beschäftigt, sollte eine langsame Sprechweise wählen, spezifische Patientenbedürfnisse einschätzen und bei Bedarf zusätzliche Informationen anbieten.
Geriatrische Patienten sprechen häufig nicht gut auf schnelle, unorganisierte Praxissituationen an. Für den geriatrischen Patienten ist eine kontrollierte Umgebung erforderlich, die für die sozialen und klinischen Bedürfnisse des Einzelnen sensibilisiert ist.
Zusammenfassung
Die Behandlung von geriatrischen Patienten ist komplex und erfordert internistische und anästhesiologische Kompetenz vom Zahnarzt und Oralchirurgen. Umfangreiche Eingriffe erfordern oft die Verabreichung von Sedativa und/oder anderer Pharmaka wie Antibiotika, systemische Analgetika usw. Der Zahnarzt muss hier die richtigen Strategien bereits vor der Behandlung/Sedierung erarbeiten, um die Kontrolle über Begleiterkrankungen, das Behandlungsprotokoll und die Wirksamkeit der Therapie zu behalten. Eine sorgfältige Überprüfung des kardiopulmonalen Systems ist erforderlich, um z. B. die Existenz einer koronaren Herzkrankheit, einer Hypertonie, eines früheren Myokardinfarkts oder einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung festzustellen. Notwendige Sedativa müssen bedarfsangepasst und mit großer Vorsicht titriert werden.
In der Behandlung dieser besonderen Patientengruppe leisten Zahnärzte und Oralchirurgen einen signifikanten Beitrag zur Volkgesundheit und finden darüber hinaus sehr dankbare Patienten, deren Lebensqualität maßgeblich erhalten oder sogar verbessert wird.
Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.
Dieser Beitrag ist im OJ Oralchirurgie Journal erschienen.