Oralchirurgie 03.02.2016

Angstabbau, schnell und langsam



Angstabbau, schnell und langsam

Foto: © alphaspirit – Shutterstock

Die hier vorgestellte Methode des Angstabbaus wendet zu Beginn der Sitzung physiologische und kommunikative Techniken an, um die Grundangst des Patienten abzubauen. Dann folgen abwechslungsweise reizarme Manipulationen, die die Angstreflexe verhüten, und kurze Pausen, die die Selbstkontrolle des Patienten bestärken. Die Sitzung endet mit schmerzfreien Arbeitsschritten, damit sie in guter Erinnerung bleibt. 

Langfristig bewirkt die Methode eine Abnahme der Zahl der verlangten Anästhesien und eine Zunahme der Anmeldungen von neuen Angstpatienten.

Einleitung

Seit über 50 Jahren wird die hohe Zahl der Angstpatienten beklagt. Abbildung 1 zeigt ein Beispiel. Signalisiert das Kind Kooperation oder Angst? Muss man nun mit ihm spielen und allen Instrumenten neue Namen geben? Und wenn es beim Bohren doch ängstlich ausweicht? 2002 ließ ich mich von einer Psychotherapeutin beraten. Wir entwickelten das Konzept „Sechs einfache Hilfen bei Angstpatienten“ (Weilenmann und Egli, 2004). Es beinhaltet u.a. das kühle Stirntuch, reizarme Behandlungen und Pausen zum Sprechen. Unterdessen haben wir weitere Techniken gefunden und es sind neue Ideen von zwei anerkannten Psychologen dazugekommen: „Schnelles Denken, langsames Denken“ (Nobelpreisträger Daniel Kahneman, 2012) und „Der Marshmallow-Test“ (Walter Mischel, 2015).

Angst, Selbstkontrolle und Erinnerung sind die Leistungen zweier Denksysteme. System I ist unbewusst, autonom, heiß und impulsiv, stereotyp, emotional, dauernd aktiv und sehr schnell (reagiert innert Millisekunden). Es bewertet schon beim Säugling jeden Sinnesreiz als angenehm oder unangenehm und reagiert mit motorischen und hormonellen Reflexen. So werden Reize wie Streicheln, unbequemes Liegen, Kälte, Hitze, ein erfreutes oder erschrecktes Gesicht, Schmerz, Lärm, Schläge am Zahn reflexartig beantwortet mit Entspannung, Verkrampfung, stockender Atmung oder Abwehr, Wohlfühl- oder Stresshormonen, Freude oder Angst. System II ist das bewusste Selbst. Es benutzt die Sprache, ist kalt und abwägend, flexibel, intelligent, nur aktiv, wenn wir wollen, und eher langsam (reagiert nach mehreren Sekunden). Es wird durch die Umwelt geformt und ist erst im Erwachsenenalter ausgereift. So entwickeln Kinder wenig Selbstkontrolle und fallen eher in ein misstrauisches, impulsives Verhalten, wenn die Eltern beispielsweise ihre Versprechen oft nicht einhalten. Bei anderen Eltern hingegen, die zuverlässig ihren Absprachen folgen, können die Kinder eine starke Selbstkontrolle gegenüber unangenehmen Gefühlen entwickeln.

System I dominiert meistens. Es blockiert zum Beispiel automatisch das System II in überwältigenden Momenten (Abb. 1) oder aktiviert es bei Überraschungen (wenn eine Behandlung viel besser war als erwartet). Diese Dominanz ist nur mit starker Selbstkontrolle zu überwinden (wie bei Hypnose oder konzentrierter geistiger Arbeit). Laufend finden schnelle und langsame Lernprozesse statt. Zum Beispiel überträgt sich die Angst einer Mutter vor Schlangen, Insekten, Spritzen oder Zahnärzten rasch und autonom auf das Kind, während man das System II nur langsam und mit Willensanstrengung durch Studieren, Üben, Beobachten und Erfahren lernen kann. Eine gute Erinnerung entsteht bei den meisten Menschen, wenn das Erlebnis schmerzlos endet, auch wenn es länger dauert und insgesamt mehr Schmerzen bereitet als ein kurzes Erlebnis mit schmerzhaftem Ende. Der mit dem Angstabbau beschäftigte Behandler muss beachten, ob der Patient eher ein „Kontrolleur“ oder „Ausblender“ ist. Der erste wünscht Informationen wie ein Tell-Show-Do, der zweite Ablenkungen wie TV und Hypnose.

Methode

Das Ziel der Methode ist, System I ruhig zu halten und System II zu aktivieren. Abbildung 2 zeigt die einzelnen Techniken. Sie werden rechtzeitig beim Erscheinen eines Angstsignals angewendet, und zwar bei jeder Sitzung in variabler Zahl und Reihenfolge. Der zusätzliche Zeitaufwand beträgt etwa zehn bis 15 Minuten in einer konservierenden Sitzung.

Zuerst wird die Grundangst des Patienten abgebaut (heiße Stirn, kalte Hände, stockende Atmung, hochgezogene Schultern, Logorrhö usw.). Dann kommt eine Vorbereitung für System I mit kleinen Reizen im Mund durch Annäherung einer kleinen Absaugkanüle, dann Berühren des Zahnes mit stehendem Bohrer usw., wie kurze Tell-Show-Do-Einheiten mit anschließender Frage, ob es gut sei. Danach beginnt der Wechsel von reizarmen Arbeitsschritten und Pausen. Taktgeber sind die äußeren Angstsignale des Patienten (unruhige Zunge, verkrampfte Hände, Stöhnen usw.) und die inneren des Zahnarztes und der Dentalassistentin (unsichere Einschätzung des Patienten, aufkommende Ungeduld usw.). Das Behandlungsende wird durch feine, schmerzfreie Arbeitsschritte gebildet.

Schnelle Techniken

Rückzug und Ersatz

Weinende, verzweifelte Kinder im Wartezimmer bekommen noch mehr Angst, wenn sie den Zahnarzt sehen. Er zieht sich am besten zurück. Als Ersatz kann die DA mit der Mutter Hygienemöglichkeiten besprechen und den Mund des Kindes inspizieren.

Kaltes Stirntuch

Halten Sie sich selber ein nasskaltes Tuch (Abb. 3) an ihre Stirn. Sie spüren sofort ein Wohlgefühl und eine Erfrischung. Das Stirntuch wird zu Beginn der Sitzung, insbesondere vor jeder Anästhesie, mit einer Frage aufgelegt wie „Die meisten mögen das. Ist das gut?“. Nur selten wird es abgelehnt, und oft ist es nach kurzer Zeit warm und muss neu gekühlt werden.

Handwärmer

Halten Sie eine Hand in ein Waschbecken und lassen Sie kaltes Wasser einlaufen. Überlegen Sie nach 30 Sekunden, ob Sie mit der kalten Hand eine Zahnbehandlung möchten. Manche Angstpatienten haben eiskalte Hände. Nach kurzem Augenkontakt und einer Frage wie „Darf ich kurz?“können Sie die Hand des Patienten berühren. Der Handwärmer (Abb. 3) ist eine mit warmem Wasser gefüllte PET-Flasche.

Süßgetränk

Kinder und junge Erwachsene lieben Zucker. Er macht sie mutiger. Süßes Getränk (Abb. 6) nach Wahl.

Patientenlagerung

Strecken Sie den Kopf nach hinten und versuchen Sie zu schlucken. Es wird Ihnen schwerfallen. Etliche Angstpatienten halten den Kopf so weit nach hinten, dass sie nicht schlucken können und einen Schluck-, Husten- oder Würgereiz bekommen. Der Rachen wird frei durch Hochlagern, manchmal auch durch Seitwärtsdrehen des Kopfes. Hochlagern der Beine und des Oberkörpers entspannt den Rachen und erleichtert zugleich die Atmung.

Reizarm behandeln

Nehmen Sie ein blaues Winkelstück (ohne eingesetzten Bohrer) und halten Sie es an ihren Frontzahn bei minimaler und maximaler Drehzahl und Anpresskraft. Sie werden zwar keinen Schmerz, aber trotzdem Angst und Abwehrreflexe spüren. Anästhesien alleine bewirken zu wenig Reizarmut in Bezug auf Knochenschall, Vibrationen, Lärm und kalter Motorluft.

Zwei Beispiele:

Reizarme Zangenextraktion: den Zahn behutsam kippen und gleichzeitig langsam rotieren, ohne ruckartige Bewegungen zu riskieren.

Reizarme Exkavation ohne Anästhesie: minimale Anpresskraft, neue Bohrer, nur miniaturisierte Hilfsmittel (wenn überhaupt), blutungsfrei präparieren, Ausschläge verhüten, das Winkelstück bimanuell halten. Zunächst den Schmelz ohne Dentinkontakt entfernen. Dann das Dentin trocken exkavieren, Drehzahl unter 2.000 rpm, bis zur Stelle, die minimal empfindlich ist. Sie kann unverhofft rasch oder auch erstaunlich spät kommen. Der Patient signalisiert sie mit einem Zucken, Brummen, Handzeichen usw., und sie ist stets hart und kratzfest (Abb. 4). Bei einer hochaktiven Karies ist das Dentin übermäßig empfindlich. Dann die Kavität nicht ausblasen, sondern mit Pellets trocknen und die Motorluft abkleben (Abb. 5). In diesen Fällen wird manchmal doch der Wunsch nach einer Anästhesie geäußert.

Gute Erinnerung

Die Behandlung wird mit einigen behutsamen Polituren im ästhetischen Bereich oder Ähnlichem verlängert, wenn zuletzt noch ein Schmerz oder Schreck entstanden sein sollte.

Langsame Techniken

Entwarnung

Angstpatienten haben oft übertriebene Befürchtungen, und der vermeintlich dringende Behandlungszwang steigert ihre Not. In diesen Fällen bauen Entwarnungen am Telefon und bei der ersten Sitzung die Angst ab. Die Leitidee heißt: „Im Mund besteht bei Schmerzlosigkeit keine unmittelbare Gefahr.“

Atmung, Tonus, Logorrhö

Übermäßige Erregung zu Beginn der Behandlung im Stuhl zeigt sich in stockender oder rasender Atmung, Verkrampfungen oder Redeschwall. Zur Beruhigung wird der Patient angeleitet, bewusst zu atmen, seinen Nacken zu entspannen, seine Hand auf den Bauch zu legen oder wieder aufzustehen und herumzugehen (oder zur Mutter zurückzukehren).

Bild und Modell

„Kontrolleure“ (nicht „Ausblender“) interessieren sich für Bilder und Zahnmodelle. Primarschüler öffnen für ein Bild mit der Intraoralkamera gerne den Mund, auch wenn sie ihn sonst vor Angst verschließen. Erklärungen am Zahnmodell können die Angst vor einer Wurzelbehandlung abbauen. Oft gelobt wird auch ein an der OP-Lampe befestigter Spiegel, in dem der Patient die Behandlung beobachten kann.

Handzeichen

Der Patient kann eine Hand auf die Brust legen und sofort mit den Fingern ein Zeichen geben, wenn etwas schmerzt oder wenn er eine Pause wünscht. Eine solche Abmachung gehört zum System II und versagt oft, auch bei einem „Kontrolleur“. Deshalb sind die spontanen Angstsignale von System I weiterhin maßgeblich.

Pause und Frage

In der Pause soll der Patient aufsitzen, spülen und eine einfache Frage beantworten, zum Beispiel: „Wie gehts?“. Durch Nachdenken aktiviert er System II, und mit seiner Antwort kontrolliert er die weitere Behandlung. 

Sozialer Angstabbau

Kommt ein Angstpatient mit Begleitung, so möchte Letztere auf Distanz („Ausblender“) oder in der Nähe bleiben („Kontrolleur“). Im letzteren Fall kann der Mut der einen Person auf die andere übertragen werden. Beispiel: Mutter und Kind erscheinen zwecks Extraktion von 14 wegen Platzmangel. Das Kind liegt, die Mutter hält ihre Hand auf sein Bein. Sie war selber ein „Ex-Fall“. Beide haben kalte Hände („die sind zu Hause immer so kalt“). Aber die Füße des Kindes zittern. Süßgetränk, Stirntuch, Handwärmer, dem Kind beteuern, dass es der Mutter gut geht, und umgekehrt. Nun erkläre ich der Mutter und dem Kind die Anästhesie: „In der Umschlagfalte ein weißes Feld zwischen roten Äderchen suchen“, und zeige es der Mutter. Lippe zu steif, erste Pause mit Aufsitzen und Süßgetränk. Dann wieder das weiße Feld suchen, nun mit der Sonde berühren und leicht dagegen drücken. Tut nicht weh, aber die Lippe wehrt ab. Zweite Pause mit Aufmunterung. Dann Versuch, das Feld mit der Nadel zu berühren. Wieder Verkrampfung, dritte Pause und Gespräch mit der DA: „Willst du den Zahn weg haben?“ Es will. „Also: wenn du den Mund öffnest, dann lass die Lippe weich!“ Neuer Versuch, und nun gelingt es: Nadel einen Millimeter tief einsinken lassen und langsam injizieren. Die Mutter zeigt Freude, und die Hände werden wärmer. Vierte Pause mit Erklärungen. Nun problemlos reizarme Injektion mit Peripress und Ex wie oben beschrieben. Die Sitzung endet nach 39 Minuten. Beide haben warme Hände und lächeln, und das Kind sieht viel älter aus: wie ein mutiger, stolzer, zwölfjähriger Bursche. Ich darf ihn fotografieren (Abb. 6).

Resultate

25 Prozent weniger Anästhesien: Abbildung 7 zeigt die Zahl der Anästhesien bei konservierenden Sitzungen insgesamt. Sie sank von 30,8 auf 23,5 Prozent (2004: 339/1101, 2015: 213/908).

Weniger Angst, aber 100 Prozent mehr Angstpatienten: Etwa die Hälfte der Angstpatienten verliert die Angst nach wenigen Sitzungen und wird in normalen Terminen behandelbar. Etwa ein Viertel empfindet nach einigen Sitzungen keine Angst mehr, möchte aber auf keinen Fall den Zahnarzt wechseln. Diese Patienten reagieren immer noch heftig bei jedem Ausschlag, „um zu verhindern, dass der Zahn verletzt wird“. Sie benötigen aber nur wenige Behandlungspausen. Die übrigen klagen auch nach mehreren Sitzungen und Jahren noch über die Angst und brauchen längere Termine. Deshalb markieren wir sie in der Krankengeschichte. Abbildung 8 zeigt ihre Statistik: Ihr Anteil bei den Neupatienten stieg auf über das Doppelte von 1,3 auf 3,2 Prozent (1995–2004: 25/1920, 2005–2015: 78/2429), und ihr Anteil bei den Sitzungen beim Zahnarzt stieg von 2,9 auf 5,8 Prozent (1995–2004: 533/18584, 2005–2015: 990/17214).

Diskussion

Die Abnahme der Zahl der Anästhesien ist allein eine Folge der Technik „reizarm behandeln“. Sie wird nicht nur bei Angstpatienten, sondern auch bei den zahlreichen anderen Patienten, die keine Anästhesie mögen, angewendet. 

Etwa die Hälfte der Angstpatienten braucht nach wenigen Sitzungen keine zusätzliche Behandlungszeit mehr. Dies ist ein Lerneffekt der Methode. 

Die Zunahme der Sitzungen mit Angstpatienten zeigt die gute Verträglichkeit der Methode. 

Die Steigerung der Neuanmeldungen von Angstpatienten ist eine Folge von Empfehlungen in Social Media etc. 

Einige Angstpatienten reden lieber mit der DA als mit dem Zahnarzt. Sie lassen sich gerne von ihr bemuttern und trösten, und sie reden mit ihr in ihrer Umgangssprache oder in der gemeinsamen Muttersprache. In diesen Fällen kann die DA alle extraoralen Techniken durchführen und den Rhythmus von Behandlung und Pausen moderieren, während sich der Zahnarzt auf die intraoralen Techniken konzentriert.

Verdankung

Ich bin Frau Beate Witzgall zu besonderem Dank verpflichtet. Sie hat u.a. mit den Techniken „Handwärmer“ und „Patientenlagerung“ wesentlich zur Methode beigetragen. 

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