Parodontologie 28.02.2011
Parodontale Erkrankungen bei chronischer HIV-Infektion
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Die mit einer HIV-Infektion assoziierten oralen Manifestationen werden in der seit 1993 gültigen Classification and Diagnostic Criteria for Oral Lesions in HIV Infection nach ihrer Strenge der Assoziation zur HIV-Infektion eingeteilt (Tabelle I). Es werden drei Gruppen unterschieden, von denen die Parodontalerkrankungen überwiegend in die Gruppe der oralen Manifestationen mit der höchsten Assoziation zur HIV-Infektion angesehen werden. Neben den klassichen HIV-assoziierten parodontalen Erkrankungen wie den nekrotisierenden ulzerierenden Verlaufsformen oder auch dem linearen Gingivaerythem zählt die chronische Parodontitis nach Auffassung der American Academy of Periodontology ebenso zu den HIV-assoziierten Erkrankungen. In der Diagnose und Therapie parodontaler Erkrankungen sowie der konsiliarischen Infektionsüberwachung kommt dem Zahnarzt bei Patienten mit HIV und AIDS daher eine besondere Bedeutung zu.
EC-Clearinghouse-Klassifikation oraler Läsionen bei der HIV-Infektion |
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Gruppe 1 |
Läsionen, streng mit der HIV-Infektion assoziiert
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Gruppe 2 |
Läsionen, weniger häufig mit der HIV-Infektion assoziiert
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Gruppe 3 |
Läsionen, die bei der HIV-Infektion auftreten
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Tab. 1 Klassifikation oraler Manifestationen bei der HIV-Infektion.
Pathogenetische Zusammenhänge
Orale Manifestationen waren häufig ein erstes klinisches Zeichen für eine nicht diagnostizierte HIV-Infektion. So stellt die Epstein-Barr-Virus-induzierte orale Haarleukoplakie weiterhin die einzige pathognomonische HIV-assoziierte opportunistische Infektion dar.1 Der pathogenetische Zusammenhang zwischen einer HIV-Infektion und parodontalen Erkrankungen liegt offensichtlich in unterschiedlichen Alterationen immunologischer Reaktionsmuster:
- Bereits im asymptomatischen Infektionsstadium ist die antimikrobielle und antivirale Potenz polymorphkerniger neutrophiler Granulozyten eingeschränkt, insbesondere die Chemotaxis, wohingegen die Phagozytosefähigkeit erhalten bleibt2.
- Die Aktivität von Monozyten/Makrophagen ist dramatisch limitert3.
- Bedingt durch eine ausgeprägte Disorganisation von Lymphozyten im gingival-parodontalen Gewebe ist die Differenzierung von Plasmazellen auf mitogene Reize gestört mit der Konsequenz einer ausbleibenden Produktion von Immunglobulinen.4 So ist die progressive HIV-Infektion in den wesentlichen zeitlichen immunologischen Abläufen sowie im zellulären und humoralen Arm negativ mit wirtseigenen Reaktionsvorgängen gegen pathogene Keime bzw. Vorgänge assoziiert.
- Zunehmende Bedeutung erlangen die spezifischen Aspekte der antiretroviralen Therapieregime für die Zahnheilkunde, da sie unmittelbare Auswirkungen auf die Integrität oraler Strukturen haben können5 und fundierte Kenntnisse hinsichtlich möglicher Wechselwirkungen mit in der Zahnheilkunde verordneten Arzneimitteln erfordern.
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Wechselwirkungen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen
Neben den grundsätzlichen beschriebenen zellulären Alterationen, die eine verlängerte Blutungszeit bei chirurgischen Eingriffen bedingen können, vermögen antiretrovirale Medikamente aller Wirkstoffgruppen, also der Protease-Hemmer, Nukleosidanaloga, nichtnukleosidalen Reverse Transkriptase-Hemmer und Fusionshemmer in verschiedenen Ausprägungen, auch in der Mundhöhle orale Manifestationen zu begünstigen, die der Gruppe der Erkrankungen mit der geringsten Assoziation zur HIV-Infektion in der Klassifikation zugeordnet werden. Sie weisen daher per se keine durchgängige Prävalenz auf. Zu ihnen zählen orale Ulzera, Dysgeusie, Speicheldrüsenerkrankungen, Papillome, (peri)orale Parästhesien und die aphtöse Stomatitis. Aufgrund der inhibierenden Wirkung besonders der Protease-Hemmer auf das Cytochrom P450-Isoenzym CYP3A4 können Wechselwirkungen mit in der Zahnheilkunde angewandten Therapeutika aus der Gruppe der Psychopharmaka/Sedativa zur Prämedikation, Antimykotika in der Candidiasis-Therapie, Kortikoide in der medikamentösen Unterstützung inflammatorischer Zustände und Antiinfektiva (insbesondere Metronidazol) in der Parodontologie von Bedeutung sein.6
Infektionen mit Candida albicans
Es werden zwei Formen unterschieden: die erythematöse Form zeichnet sich durch gerötete Areale aus, die typischerweise im Sinne einer Abklatschsituation am Gaumen lokalisiert ist – und ebenso auf dem Zungenrücken. Dort erscheinen sie besonders als glänzend erscheinende Verwaschungen der Geschmackspapillen und sind nicht zu
verwechseln mit einem weißlich-gelben Zungenbelag. Die pseudomembranöse Form präsentiert sich als die typische weißliche Veränderung, die mit einer Candidiasis assoziiert ist (Abb. 1). Punktuell oder in Plaques können sie auf allen Weichteilregionen in der Mundhöhle auftreten. Sie sind abwischbar; häufig befinden sich darunter gerötete Schleimhautbereiche, die dann zu bluten beginnen. So sind sie von anderen extrinsischen Auflagerungen zu unterscheiden. Die erythematöse Form kommt hauptsächlich im Frühstadium der HIV-Infektion vor, während die pseudomembranöse Form eher im Spätstadium auftritt.7
Abb. 1 Erythematöse (1a) als frühe und pseudomembranöse (1b) Candida-Infektion als späte orale Manifestation bei HIV-Infektion. Abb. 2 Orale Haarleukoplakie am lateralen Zungenrand als prognostischer Marker einer progressiven HIV-Infektion.
Orale Haarleukoplakie
Sie wurde erstmals von Greenspan beschrieben und scheint die einzige für die HIV-Infektion pathognomonische Erkrankung zu sein (Abb. 2). Erkennbar ist sie an nicht abwischbaren, zumeist beidseitig auftretenden weißlich- grauen Streifen am lateralen Zungenrand. Das Auftreten der oralen Haarleukoplakie wird als prognostischer Marker für eine zu erwartende Verschlechterung der immunologischen Situation und der Progression zu AIDS angesehen. Ihre Ätiologie durch das Epstein-Barr-Virus gilt als gesichert.7 Unter dem Einfluss einer antiretroviralen Therapie verschwinden die Veränderungen in der Regel innerhalb weniger Wochen, wenngleich damit keine EBV-Erradikation verbunden ist.
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Lineares Gingivaerythem
Zu den HIV-assoziierten gingivalen Erkrankungen zählt das lineare Gingivaerythem (Abb. 3). Es ist gekennzeichnet durch ein gerötetes Band am Marginalsaum der freien Gingiva und in Bereichen der befestigten Gingiva, das sich als Erythem punktuell oder konfluierend in der Alveolarmukosa fortsetzen kann, sowie durch Hyperplasien der Interdentalpapillen mit der Tendenz zu Spontanblutungen. Der starke Entzündungscharakter der Gingiva steht dabei in einem Missverhältnis zum Plaquebefall. In Studien zur mikrobiologischen Zusammensetzung der beteiligten Keime zeigte sich eine grundsätzliche Übereinstimmung zu bakteriellen Profilen bei der chronischen Parodontitis, nicht jedoch zu Bakterienkulturen, die von plaqueinduzierten, gingivalen Erkrankungen gewonnen wurden.8 In der Klassifikation der Parodontalerkrankungen von 1999 wird das lineare Gingivaerythem in die Sektion der pilzbedingten Gingivaerkrankungen eingeordnet.
Abb. 3 Lineares Gingivaerythem mit typischem geröteten Saum der Gingiva. Abb. 4 Nekrotisierende ulzerierende Parodontitis als hochakutes parodontales Erkrankungsbild bei HIV-Infektion; im Oberkiefer vergesellschaftet mit einer fortgeschrittenen chronischen marginalen Parodontitis.
Nekrotisierende ulzerierende Gingivitis/Parodontitis
Es wird zwischen einer rein gingivalen Affektion und einer gingivoparodontalen Verlaufsform der nekrotisierenden Parodontalerkrankungen unterschieden: nekrotisierende ulzerierende Gingivitis (NUG) und Parodontitis (NUP) (Abb. 4). Die Nomenklatur der HIV-assoziierten nekrotisierenden Parodontalerkrankungen war lange Zeit uneinheitlich. Eine frühe Begriffsdefinition lautet AIDS-Virus Associated Periodontitis als einer Kombination aus einer akuten nekrotisierenden ulzerierenden Gingivitis, vergesellschaftet mit einer lokalisierten, rasch fortschreitenden Parodontitis. Sie wurde später als HIV-assoziierte Parodontitis bezeichnet. Durch das zeitgleiche Vorliegen einer NUG mit rapidem Zerfall der Interdentalpapillen und einer aggressiven Parodontitis mit raschem Hartgewebeabbau kommt es nur selten zu einer Taschenbildung. Vielmehr wurde durch den progredienten Krankheitsverlauf innerhalb kurzer Zeit von Lockerungen oder vom Verlust von Zähnen berichtet. Weitere klinische Symptome sind: intensives Erythem der marginalen und befestigten Gingiva, nächtliche Spontanblutungen, charakteristischer Foetor ex ore sowie ein tiefer, in den Knochen projizierter Schmerz. Die mikrobiologische Zusammensetzung ist mit A. actinomycetemcomitans, P. gingivalis, P. intermedia, C. rectus, Eikenella corrodens und Tannerella forsythia vergleichbar dem bakteriologischen Profil HIV-seronegativer Patienten mit aggressiver Parodontitis.9 Immunbiologisch wurde eine hohe Makrophagen-Turnover-Rate und erhöhte HIV-Reproduktivität in den Leukozyten des Taschenexsudats gezeigt. Dabei wiesen die Makrophagen kaum CD14-Oberflächenmoleküle auf, was mit einer verminderten Reaktivität auf die von den Parodontalpathogenen ausgeschiedenen Lipopolysaccharide assoziiert und dadurch die starke Gewebereaktion auf die mikrobielle Plaque in diesen Läsionen erklärt wurde. Wegen des raschen Gewebezerfalls und dem häufigen Vorliegen einer fortgeschrittenen Immunsuppression erfordern nekrotisierende Parodontalerkrankungen bei HIV-seropositiven Patienten eine unmittelbar einsetzende und engmaschige Intervention im Sinne lokaler mechanischer und chemotherapeutischer Dekontaminationsmaßnahmen. Ob eine adjuvante, systemische Antibiotikatherapie erforderlich ist, wird kontrovers diskutiert. In der gemeinsamen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde und der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie wird sie bei Vorliegen einer Allgemeinsymptomatik und bei Immunsuppression empfohlen. Medikamentös werden unterstützende Mundspülungen mit Polividon-Jod empfohlen, weil sie neben der antiseptischen Wirkung auch die Blutungsneigung günstig beeinflussen und leicht anästhesierenden Charakter haben.
Chronische Parodontitis
Weil die chronische Parodontitis neben der Zahnkaries eine der oralen Haupterkrankungen darstellt und somit auch bei Patienten ohne systemische Hintergründe in hoher Prävalenz auftritt, scheint sie in keiner besonderen Assoziation zur HIV-Infektion zu stehen. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen immunologischen Alterationen tritt sie jedoch verstärkt im Zusammenhang mit einer HIV-Infektion auf. Daher zählt die American Association of Periodontology sie zu den Risikoerkrankungen bei HIV-Infektion. Besonders mit der Entwicklung antiretroviraler Therapieoptionen und der damit verbundenen, deutlich verlängerten Überlebenszeit treten weiterhin die akuten Parodontalerkrankungen zugunsten chronischer Verlaufsformen in den Hintergrund.10 Unsere Untersuchungen konnten weiterhin zeigen, dass eine konservative Behandlung der chronischen Parodontitis mit anschließender engmaschiger Erhaltungstherapie und überdurchschnittlicher häuslicher Plaquekontrolle im Vergleich zu einer HIV-seronegativen Kontrollgruppe zu ebenbürtigen langfristigen Ergebnissen führen kann. Folgende Thesen wurden daher formuliert:
- Die chronische Parodontitis mit der systemischen Hintergrunderkrankung einer HIV-Infektion ist dieselbe Krankheit wie bei Patienten mit HIV-seronegativem Status; sie kann jedoch im Hinblick auf Initiation, Progression und Präsentation modifiziert sein.
- Der Einsatz hochaktiver antiretroviraler Therapien führt zu einer nachhaltigen immunologischen Rekonstitution, welche sich auch positiv auf das langfristige Therapieergebnis systematischer Parodontalbehandlungen auswirken kann.
- Die leichte bis moderate, generalisierte, chronische Parodontitis im Zusammenhang mit einer HIV-Infektion kann erfolgreich konservativ behandelt werden.
- Das bakterielle Profil der chronischen Parodontitis bei HIV-Infektion scheint vergleichbar mit dem der chronischen Parodontitis ohne systemische Hintergrundfaktoren.
- Eine individuelle, subgingivale Rekolonisation mit fakultativ parodontalpathogenen Keimen nach systematischer Parodontalbehandlung bei HIV-seropositiven Patienten unter hochaktivem antiretroviralen Einfluss findet statt.
- Durch den Einsatz von Protease-Hemmern könnte die postoperative, subgingivale Rekolonisation mit fakultativ parodontalpathogenen Keimen hinsichtlich einer geringeren Prävalenz für Keime des „orangefarbenen“ Komplexes und möglicherweise von Einzelkeimen beeinflusst sein.
- Die erfolgreiche, frühe Intervention bei der chronischen Parodontitis und HIV-Infektion sowie eine unterstützende Parodontitis-Therapie können möglicherweise das Auftreten akuter oder aggressiver gingivoparodontaler Folgezustände bei späterer Immunsuppression verzögern, abmildern oder verhindern.
- Unter dem Einfluss einer potenten, hochaktiven antiretroviralen Therapie kann eine sichere, systematische Parodontalbehandlung in der leichten bis moderaten, generalisierten Form der chronischen Parodontitis bei HIV-seropositiven Patienten ohne systemische antibiotische Abdeckung durchgeführt werden.
- Akute Parodontalerkrankungen zeigen bei anhaltender Immunrekonstitution unter HAART eine niedrige Prävalenz. 10. Auch vor dem Hintergrund einer HIV-Infektion ist die chronische Parodontitis eine Erkrankung einzelner Parodontien und nicht der gesamten Dentition.11
Literatur
1) Greenspan JS, Greenspan D, Lennette ET, Abrams DI, Conant MA, Petersen V, et al. Replication of Epstein-Barr Virus within the epithelial cells of oral „hairy“ leukoplakia, an AIDS-associated lesion. N Engl J Med. 1985; 313:1564
2) Gabrilovich D, Kozich A, Suvorova ZK, Ivanov VS, Moshnikov SA, Chikin LD, et al. Influence of HIV antigens on functional activity of neutrophilic granulocytes. Scan J Immunol. 1991; 33:549
3) Perno C, Newcomb F, Davis D, Aquaro S, Humphrey R, Calió R, et al. Relative potency of protease inhibitors in monocyte/macrophages acutely and chronically infected with human immunodeficiency virus. J Infect Dis. 1998; 178:413
4) Steidley KE, Thompson SH, Mc, Quade MJ, Strong SL, Scheidt MJ, van Dyke TE. A comparison of T4:T8 lymphocyte ratio in the periodontal lesion of healthy and HIV-positive patients. J Periodontol. 1992; 24:823
5) Tomar SL, Swango PA, Kleinman DV, Burt BA. Loss of periodontal attachment in HIV-seropositive military personnel. J Periodontol. 1995; 66:421
6) Jordan RA. Implikationen der antiretroviralen Therapie in der Oralmedizin – Eine Literaturübersicht. Schweiz Monatsschr Zahnheilkd. 2007; 20:1210
7) Reichart PA. Oral manifestations in HIV infection: fungal and bacterial infections, Kaposi´s sarcoma. Med Microbiol Immunol. 2003; 192:165
8) Winkler JR, Robertson RB. Periodontal disease associated with HIV infection. Oral Surg Oral Med Oral Pathol. 1992; 73:145
9) Tenenbaum H, Mock D, Simor A. Periodontitis as an early presentation of HIV infection. Calif Med Assoc J. 1991; 144:1265
10) Jordan RA, Raetzke P, Gängler P. Prävalenz oraler Manifestationen bei HIV-seropositiven Patienten unter dem Einfluss der hochaktiven antiretroviralen Therapie. Dtsch Zahnärztl Z. 2007; 62:376
11) Jordan RA, Gängler P, Jöhren P. Clinical treatment outcomes of periodontal therapy in HIV-seropositive patients undergoing highly antiretroviral therapy. Eur J Med Res. 2005; 11:2322