Branchenmeldungen 05.09.2025

Primärarztsystem: Besser für alle Seiten?



Braucht die Gesundheitsversorgung in Deutschland ein neues Primärarztsystem? Und wenn ja, wie soll dieses aussehen? Die aktuelle Debatte um eine effektiv gesteuerte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen bringt diverse Positionen und Reformvorschläge hervor. Auch wenn das Thema nicht unmittelbar die Zahnmedizin betrifft, berührt es doch den größeren Kontext einer integrierten und zukunftsfähigen Gesundheitsversorgung.

Primärarztsystem: Besser für alle Seiten?

Foto: Alexander Mils – unsplash.com

Im Interview schildert Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth, Hausärztin, Co-Bundesvorsitzende und Co-Vorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands Baden-Württemberg ihre Sichtweise auf die Herausforderungen und Potenziale eines modernen Primärarztsystems.

Zur Person


Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth beleuchtet die Potenziale des modernen Primärarztsystems und die Rolle der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV).

Frau Prof. Dr. Buhlinger-Göpfarth, wie bewerten Sie die geplante Einführung eines verbindlichen Primärarztsystems, insbesondere in ländlichen Regionen mit bereits bestehendem Ärztemangel?

Die Einführung eines verbindlichen Primärarztsystems ist aus unserer Sicht ein notwendiger und richtiger Schritt, um die Gesundheitsversorgung in Deutschland zukunftsfähig zu gestalten. Wir starten dabei nicht bei null: Mit der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) verfügen wir bereits über 17 Jahre praktische Erfahrung in der Umsetzung eines Primärarztsystems. In der HZV ist die Hausarztpraxis der zentrale Zugang zur medizinischen Versorgung und übernimmt für Patienten die Steuerung und Koordination aller notwendigen Behandlungsschritte. Muss ein spezialisierter Facharzt hinzugezogen werden, erfolgt dies gezielt und koordiniert durch den Hausarzt; die Befunde werden zentral in der Hausarztpraxis zusammengeführt und in eine ganzheitliche Versorgung integriert.

Von dieser besseren Versorgung profitieren bundesweit bereits über zehn Millionen Versicherte, in Baden-Württemberg sogar rund ein Drittel aller gesetzlich Versicherten. Die HZV zeigt ganz praktisch, dass ein Primärarztsystem nicht nur möglich ist, sondern zu einer nachweislich besseren Versorgung führt und die Hausarztpraxen stärkt. Auch das IGES-Gutachten des GKV-Spitzenverbandes belegt, dass eine zentrale, koordinierende hausärztliche Versorgung die Hausarztpraxis für den ärztlichen Nachwuchs attraktiver macht. Das bedeutet: Ein Primärarztsystem zieht mehr Ärzte in die hausärztliche Versorgung und entlastet gleichzeitig das Gesundheitssystem insgesamt. Die HZV belegt zudem, dass durch gezielte Steuerung und Koordination in der Hausarztpraxis auch prognostizierte Mehrbelastungen – etwa zwei bis fünf zusätzliche Patientenkontakte pro Tag – gut bewältigt werden können.

Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Rahmenbedingungen stimmen: Hausärztliche Koordination ist eine anspruchsvolle und komplexe Aufgabe, die ein System erfordert, das dieser Leistung auch gerecht wird. In der HZV ist dies bereits heute gelebte Praxis. Die zentrale Frage ist daher nicht, ob ein Primärarztsystem grundsätzlich machbar ist, sondern wie die Rahmenbedingungen gestaltet werden, damit die Praxen diese Aufgabe zuverlässig erfüllen können. Die HZV bietet hierfür ein bewährtes und skalierbares System, auf das die Politik setzen muss.

Pro Tag gibt es in den 99.000 ambulanten Praxen bundesweit durchschnittlich etwa 3,8 Millionen Arzt Patienten-Kontakte sowie rund 50.000 Notfallbehandlungen. Quelle: Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV)

Welche Maßnahmen halten Sie für notwendig, um eine Überlastung der Hausarztpraxen durch zusätzliche Patientenströme zu verhindern und gleichzeitig die Vorteile eines Primärarztsystems optimal nutzen zu können?

Der demografische Wandel führt dazu, dass eine zunehmend ältere und kränkere Bevölkerung mit mehr chronisch Erkrankten versorgt werden muss. Um weiterhin eine hochwertige Versorgung zu gewährleisten, ist es entscheidend, die Hausarztpraxen zu stärken und durch innovative Konzepte für diese Aufgabe zu befähigen. So kann der niederschwellige und wohnortnahe Zugang zur Gesundheitsversorgung, den die Hausarztpraxis bietet, nicht nur erhalten, sondern ausgebaut werden.

Wie diese Transformation gelingen kann, haben wir als Hausärztinnen- und Hausärzteverband mit dem HÄPPI-Konzept konkret beschrieben. HÄPPI steht für „Hausärztliches Primärversorgungszentrum – Patientenversorgung Interprofessionell“ und verfolgt das Ziel, Hausarztpraxen nachhaltig zu stärken und zukunftssicher aufzustellen. Im Zentrum steht die Versorgung im interprofessionellen Team: Neue Gesundheitsberufe wie Primary Care Manager oder Physician Assistants werden unter hausärztlicher Supervision in die Praxis integriert und entlasten so die Ärzte. Die gezielte Nutzung digitaler Lösungen optimiert Praxisabläufe und steigert die Effizienz der Versorgung. HÄPPI baut auf die HZV auf und stärkt die Hausarztpraxis als zentrale Koordinationsstelle im Gesundheitssystem. Das Konzept wurde im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg erfolgreich pilotiert und hat gezeigt, dass es für Praxen jeder Größe umsetzbar ist und die Versorgung einer größeren Patientenzahl ermöglicht. Aufbauend auf diesen Erfahrungen haben wir gemeinsam mit der AOK Baden-Württemberg im HZV-Vertrag jetzt eine Vergütung für Hausarztpraxen eingeführt, die das Konzept umsetzen. Damit machen wir deutlich: Die Transformation der Primärversorgung ist kein Modellprojekt, sondern kann in der HZV als echte Versorgungsrealität für alle Praxen gestaltet werden.

Wie könnten aus Ihrer Sicht spezifische Lösungen für Patientengruppen mit chronischen Erkrankungen in das Primärarztsystem integriert werden, ohne die Effizienz und Patientensteuerung zu gefährden?

Grundsätzlich zeigen die Evaluationen der HZV, dass die primärärztliche Steuerung allen Patienten Vorteile bringt – besonders profitieren jedoch Menschen mit chronischen Erkrankungen. Die HZV belegt, dass durch die zentrale Steuerung in der Hausarztpraxis unkoordinierte Facharztbesuche und Komplikationen bei chronischen Erkrankungen deutlich reduziert werden, und das bei niedrigeren Gesamtkosten. Für chronisch Kranke bedeutet das: bessere Versorgung, weniger Komplikationen, mehr Lebensqualität und oft auch mehr Lebensjahre.

Eine zentrale Voraussetzung für diesen Erfolg ist die Versorgungskontinuität in der Hausarztpraxis. Gerade für chronisch erkrankte Menschen braucht es keine punktuellen Case-Management-Ansätze, sondern eine kontinuierliche, ganzheitliche Betreuung, die einordnend, koordinierend und langfristig an der Seite der Patienten steht.

Hierfür wesentlich ist die enge Zusammenarbeit zwischen Hausarztpraxis und spezialisierter Facharztpraxis. In Baden-Württemberg haben wir diese Kooperation durch gezielte Facharztverträge geregelt, die an die HZV angebunden sind und so eine enge Verzahnung von hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung ermöglichen. Dieses erfolgreiche Konzept sollte auch bundesweit ausgebaut werden.

Entscheidend ist, dass die Hausarztpraxis als zentrale Koordinationsstelle alle relevanten Informationen zusammenführt und einordnet. So werden Effizienz und Versorgungsqualität gesteigert, Versorgungsbrüche vermieden und die Patienten erhalten eine ganzheitliche, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Betreuung. 

Mehr Infos zur Hausarztzentrierten Versorgung (HZV)

Konzeptpapier der BÄK zu Koordination und Orientierung in der Versorgung.

ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis


Dieser Beitrag ist in der ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis erschienen.

Seit mehr als 29 Jahren ist die ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis das Wirtschaftsmagazin für den Zahnarzt. Als GeneralInterest-Titel deckt die ZWP das gesamte Spektrum der erfolgreichen Praxisführung ab. Mit zwölf Ausgaben pro Jahr (zwei Doppelausgaben) und einer Auflage von 40.800 Exemplaren zählt sie zu den frequenz- und auflagenstärksten Titeln und gehört zweifellos zu den am meisten beachteten Informationsquellen im Dentalmarkt.

Mehr News aus Branchenmeldungen

ePaper