Branchenmeldungen 11.10.2024
Zahnmedizin in der Pflege: Kein Platz für Laienwissen
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Unterläge die (zahn-)medizinische Versorgung von Pflegebedürftigen, egal, ob stationär oder ambulant, einer Feindiagnostik, wäre die Diagnose eindeutig: weitreichende Mangelerscheinungen, die von einem überdurchschnittlichen Engagement Einzelner abgefedert werden. Ein problematisches Attest für eine zunehmend alternde Gesellschaft! Ramona Waterkotte, examinierte Pflegefachkraft, Soziologin und Pädagogin, fasst das Thema anhand ihrer Kompetenz und großen Erfahrung in fünf Blöcken für uns zusammen.
Herausforderungen in der ambulanten und vollstationären Pflege
Hier gibt es zwei wesentliche Punkte zu benennen: Erstens erhält das Thema der Mundgesundheit pflegebedürftiger Menschen innerhalb der Pflege bisher zu wenig Aufmerksamkeit, sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. Zweitens übernehmen aufgrund des Fachkräftemangels dreijährig ausgebildete Fachkräfte nur noch selten die Körperpflege und damit einhergehend die Mundpflege von Pflegebedürftigen, egal, ob sie ambulant oder stationär versorgt werden. Diese pflegerische Aufgabe obliegt stattdessen oft Altenpflegehelfern oder Krankenpflegehelfern, die nur einjährig qualifiziert sind. Auch hier herrscht ein Mangel, sodass in vielen Fällen komplett ungelernte Pflegehilfskräfte für die Mundpflege zuständig sind. In der vollstationären Pflege kann die kontinuierliche Anwesenheit einer Fachkraft in jeder Schicht diese bestehenden Defizite zumindest teilweise ausgleichen. In der ambulanten Pflege bedeutet dies jedoch, dass eine Fachkraft bei einer gemeldeten Auffälligkeit im Mund eines Pflegebedürftigen zusätzlich zu diesem fahren müsste, um das vermutete Problem zu untersuchen.
Aus eigenen, nicht repräsentativen Umfragen unter ambulant tätigen Fachkräften konnte ich feststellen, dass in der ambulanten Versorgung die Zuständigkeiten oft unklar sind. Die regelmäßigen medizinischen Versorgungen wie Hausarztbesuche, Neurologen, Orthopäden und Diabetologen stehen im Fokus der Fachkräfte und werden entsprechend überwacht und terminiert. Die zahnmedizinische Betreuung hingegen wird oft vernachlässigt. Sobald Angehörige mit an der Versorgung beteiligt sind, entstehen häufig Unsicherheiten darüber, wer sich um welche Aufgaben kümmert. Die zahnmedizinische Versorgungslandschaft ist aufgrund des demografischen Wandels ebenfalls problematisch, da es nicht nur in der Pflege, sondern auch in der Zahnmedizin an ausreichendem Personal mangelt. Eine Fachkraft berichtete mir von einer Zahnarztpraxis, die auf die Anfrage eines Termins für einen schwerst pflegebedürftigen Menschen antwortete: „Wenn Sie nicht herkommen können, können wir nichts für Sie tun.“ Diese zusätzlichen Probleme verschärfen die bereits genannten Herausforderungen weiter.
Interdisziplinarität zwischen Pflegefachkräften und zahnmedizinischem Personal
Meine Arbeit konzentriert sich hauptsächlich darauf, dass Zahnmediziner und zahnmedizinisches Praxispersonal die aktuellen Rahmenbedingungen der Pflege verstehen. Zu diesem Zweck halte ich regelmäßig Vorträge für Zahnmediziner, Mitarbeitende und Zahnmedizinstudenten. Die Pflegebranche leidet unter einem Mangel an Fachkräften bei gleichzeitig steigender Anzahl pflegebedürftiger Menschen. Wir brauchen ein gegenseitiges Verständnis, das zu einer respektvollen Zusammenarbeit führt.Es wäre sinnvoll, regelmäßige Abstimmungen zu den Problemen der zu pflegenden Personen zwischen den Berufsgruppen Zahnmedizin/Pflege, Geriatrie und Hausarzt einzuführen. Grundsätzlich muss die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit noch stärker betont werden. Denn neben der Zahnmedizin sind auch Pflegewissenschaft, Logopädie und Ernährungswissenschaft ebenfalls entscheidend für eine gute Versorgung pflegebedürftiger Menschen im Kontext Mundgesundheit. Im Januar 2024 haben wir als Team aus all diesen Fachrichtungen den 5. Tag der Seniorenzahnmedizin unter der Headline „Interdisziplinäre Fachtagung zur Förderung der Mundgesundheit im Alter und bei Pflegebedarf“ mit der Zahnärztekammer Nordrhein in Neuss organisiert. Die Veranstaltung begeisterte über 150 Teilnehmende und war ein gelungener interdisziplinärer Tag.
Beispiel: Ist-Zustand, Ideal-Zustand, Future-Zustand
Anhand eines Fallbeispiels aus der Publikation Mundgesundheit im Alter erhalten1, möchte ich den Status quo und mögliche Verbesserungen in der interdisziplinären Zusammenarbeit anschaulich erläutern:
Stellen Sie sich den 85-jährigen Willi K. vor, er leidet an fortgeschrittenem Morbus Parkinson und wird von seiner 74-jährigen Ehefrau Elli K. zu Hause gepflegt. Seine Mobilität ist stark eingeschränkt, er benötigt Hilfe beim Transfer und bei allen körpernahen Verrichtungen aufgrund eines ausgeprägten Tremors und Schluckbeschwerden. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen hat ihm Pflegegrad 4 zuerkannt. Ein ambulanter Pflegedienst unterstützt Elli zweimal täglich bei der Pflege. Seit dem letzten Wochenende verweigert Willi seine Mahlzeiten, einschließlich seiner geliebten Milchsuppe. Seine Reaktionen machen Elli sehr besorgt. Beim nächsten Besuch des Pflegedienstes bittet die Ehefrau um Rat.
In vielen Fällen der momentane Ist-Zustand:
In dem geschilderten Szenario des Willi K. ist es möglich, dass die Pflegefachperson die Mundhöhle des Patienten nicht inspiziert, da sie sich entweder nicht verantwortlich fühlt oder über unzureichendes Wissen zur Zahn- und Mundgesundheit verfügt. Sie misst aber die Vitalwerte und dokumentiert Fieber, woraufhin sie die Bedarfsmedikation, einschließlich der Schmerzmittel empfiehlt. Sie informiert die behandelnde Hausärztin. Die Hausärztin leitet keine weiteren diagnostischen Verfahren ein und verschreibt telefonisch fiebersenkende Schmerztropfen. Bei einem späteren Hausbesuch wird der stark reduzierte Allgemeinzustand des Patienten bemerkt. Fieber und erhöhte Entzündungsparameter führen zur Krankenhausaufnahme in der Geriatrie zur Ausschlussdiagnostik einer Pneumonie. Die Ursache wird schließlich zahnärztlich festgestellt, woraufhin eine Zahnextraktion erfolgt. Postoperativ entwickelt der Patient ein Delir, was den Krankenhausaufenthalt verlängert. Nach der Reha muss der Pflegegrad neu beantragt und eine vollstationäre Versorgung organisiert werden. Die Pflegefachperson wird nur informiert, dass der Patient in eine Pflegeeinrichtung gewechselt ist und die ambulante Versorgung beendet wurde.
Der wünschenswerte Ideal-Zustand:
Im idealen interdisziplinären Zusammenwirken übernimmt die Pflegefachperson eine zentrale Rolle bei der Diagnosefindung und Therapie des Patienten. Sie erkennt, dass eine dauerhafte Schmerzmedikation oft nicht zur Schmerzfreiheit führt. Daher inspiziert sie die Mundhöhle des Patienten mithilfe eines Assessments, was nach dem DNQP-Expertenstandard zur Förderung der Mundgesundheit in der Pflege (DNQP 2023) regelmäßig empfohlen wird. Dabei entdeckt sie eine Schwellung im linken Unterkiefer und stellt fest, dass der Patient Schmerzen hat und Fieber aufweist. Sie dokumentiert diese Befunde und informiert die behandelnde Hausärztin sowie den Patienten und dessen Angehörige über die nächsten Schritte. Die erfahrene Hausärztin untersucht den Patienten, stellt erhöhte Entzündungswerte fest und zieht eine Zahnärztin hinzu. Die mobile Zahnärztin führt eine Röntgenaufnahme durch, entdeckt eine Wurzelentzündung, extrahiert den betroffenen Zahn und beginnt eine Antibiotikatherapie. Die Hausärztin, die Pflegefachkraft und die Ehefrau werden über die Behandlung und Medikation informiert.
Langfristiges Zusammenwirken:
Nachdem die Pflegefachkraft alle Informationen von der Zahnärztin erhalten hat, weiß sie, worauf sie postoperativ achten muss. Durch gezielte Rückfragen und tägliche Mundkontrollen kann sie den Rückgang von Schwellung und Schmerzen schnell erfassen und an die Hausärztin und Zahnärztin weitergeben. Die Zahnmedizinerin berät die Pflegefachkraft zur Übernahme der Mund- und Prothesenpflege, da in der zahnärztlichen Untersuchung erhebliche Defizite festgestellt wurden. Die Hausärztin überprüft die Entzündungsparameter im Blut, die rückläufig sind, und setzt die Antibiotika ab. Sieben Tage nach der Extraktion besucht die Zahnmedizinerin den Patienten, entfernt die Fäden und bespricht den weiteren Unterstützungsbedarf mit der Pflegefachkraft. Die Pflegefachkraft erhält zusätzlich eine Schulung durch die Zahnmedizinerin. In der Patientenakte wird dokumentiert, dass die Antibiotika abgesetzt sind. Künftig sind regelmäßige Routineuntersuchungen alle sechs Monate durch die mobile Zahnmedizinerin sowie regelmäßige Besuche der Hausärztin erforderlich. Die tägliche Unterstützung bei der Mund- und Prothesenpflege durch die Pflegefachkraft bleibt ebenfalls notwendig. Weitere Probleme werden interdisziplinär besprochen, um Krankenhausaufenthalte zu vermeiden und ein Leben im gewohnten Umfeld zu ermöglichen.
Wir haben noch viel zu tun!
Dieser Satz beschreibt am besten, was die Patientengruppe und wir als Pflegende brauchen: einen zielführenden, gesunden Aktionismus! Die Zukunft der Mundgesundheit pflegebedürftiger Menschen muss zunehmend interdisziplinär sein. Pflegekräfte könnten enger mit Zahnärzten und weiteren Disziplinen zusammenarbeiten, um die Mundhygiene zu verbessern und Mundkrankheiten frühzeitig zu erkennen. Integrierte Ausbildungsprogramme könnten Pflegekräften das notwendige Wissen und die Fähigkeiten vermitteln, um die Mundgesundheit ihrer zu Pflegenden effektiv zu fördern. Technologische Innovationen könnten die Überwachung und Pflege unterstützen, wobei Telemedizin und digitale Tools eine Rolle spielen könnten, um den Zugang zur zahnärztlichen Versorgung zu erleichtern und präventive Maßnahmen zu stärken – all das unabhängig vom Qualifikationsniveau.
Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben viele kompetente und engagierte ungelernte Mitarbeitende in der Pflege. Dennoch liegt es aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen oft in der Verantwortung dieser Berufsgruppe, bei Auffälligkeiten im Mundraum die Fachkraft hinzuzuziehen. Im Kern bedeutet dies, dass Mitarbeitende mit Laienwissen im Bereich Mundgesundheit die Verantwortung für die Mundgesundheit multimorbider Menschen übernehmen müssen, ohne dafür angemessen vorqualifiziert zu sein. – Ramona Waterkotte
Meine Agenda
Als gelernte Zahnarzthelferin und examinierte Pflegefachkraft verfolge ich, oftmals in intensiver Zusammenarbeit mit anderen, mehrere langfristige Ziele zur Verbesserung der Mundgesundheit und Interdisziplinarität in der Pflege:
Förderung des interprofessionellen Austauschs:
Mein Ziel ist es, die Zusammenarbeit zwischen Pflegekräften, Zahnmedizinern und anderen Disziplinen zu stärken. Durch regelmäßige Workshops, Schulungen und Netzwerke möchte ich dazu beitragen, dass Fachleute aus verschiedenen Bereichen gemeinsam an der Mundgesundheit von pflegebedürftigen Menschen arbeiten.
Entwicklung und Nutzung digitaler Plattformen:
Als Mitwirkende an Projekten wie mund-pflege.net (zum Team gehören außerdem Prof. Dr. Harald Mehlich, Dr. Elmar Ludwig, Julian Michel, Daniel Zellfelder und Dr. Carolin Kinzel) sehe ich es als wichtig an, digitale Plattformen zur Verfügung zu stellen, die Pflegefachkräften und Zahnmedizinern fundierte Informationen und Ressourcen zur Mundgesundheit und Vernetzungsmöglichkeiten bieten.
Forschungs- und Entwicklungsprojekte:
In Zusammenarbeit mit universitären Einrichtungen und Fachgesellschaften möchte ich innovative Projekte vorantreiben, die neue Ansätze zur Verbesserung der Mundgesundheit in der Pflege erforschen. Dies könnte beispielsweise die Entwicklung neuer Pflegekonzepte oder die Evaluation von Präventionsmaßnahmen umfassen.
Schaffung von Bewusstsein und Sensibilisierung:
Ein weiteres Ziel ist, das Bewusstsein für die Bedeutung der Mundgesundheit bei pflegebedürftigen Menschen in der Öffentlichkeit und unter Fachkräften zu stärken. Hierbei unterstütze ich Aufklärungsinitiativen, Schulungen und Workshops, die auf die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen in diesem Bereich hinweisen.
Ramona Waterkotte bietet Workshops zur Mundgesundheit bei Pflegebedürftigkeit in derFort- und Weiterbildung ander Universitätsmedizin Mainz (www.unimedizin-mainz.de) an. Dabei sensibilisiert sie für den Expertenstandard, Mundgesundheit von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf und die Notwendigkeit einer gelebtenInterdisziplinarität. Auch die Lernplattform mund-pflege.net ist Teil des Programms. Außerdem haben Ramona Waterkotte und Christine Drauschke ein Pilotprojekt zur Förderung derMundgesundheit entwickelt, das erstmals auf der Stroke Unit der Klinik für Neurologie anläuft, mit Unterstützung der Poliklinik für Kieferorthopädie der Universitätsmedizin Mainz.
1 Röhrig-Herzog, Waterkotte, Barbe (2023): Mundgesundheit im Alter erhalten. Ein interdisziplinärer Praxisleitfaden für medizinische und pflegerische Berufe. Kohlhammer Verlag.
Dieser Artikel ist in der ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis erschienen.