Wissenschaft und Forschung 22.05.2011
Neandertaler: Spuren im Zahnschmelz widerlegen artspezifische Ernährung
Zum gängigen Bild vom Neandertaler gehört in der Regel auch die
Vorstellung vom Großwildjäger, der in der eiszeitlichen Steppe Mammuts
erlegte. Doch ganz so war es nicht, jedenfalls nicht nur. Die Ergebnisse
von Untersuchungen am Senckenberg Forschungsinstitut zeigen jetzt, dass
der Speisezettel des Steinzeitgesellen weitaus differenzierter war als
vermutet und auch pflanzliche Nahrung enthielt. Fakt ist: Sowohl Homo
neanderthalensis als auch der frühe Homo sapiens haben schlicht das
vertilgt, was der jeweilige Lebensraum zu bieten hatte.
„Wir
können jetzt sagen, dass der Küchenzettel von Homo neanderthalensis
öko-geografisch ausgerichtet war“, sagt Dr. Luca Fiorenza, Erstautor der
jüngst bei PloS ONE publizierten Studie. Demzufolge fanden und nutzten
Neandertaler wie auch Homo sapiens beispielsweise in der
Mittelmeerregion anderes für ihren Speiseplan, als die Bewohner
nördlicher Gefilde.
Steinzeitliche Küchendebatten
Lange war man von einer artspezifischen Ernährungsweise ausgegangen.
Dabei hielt man den frühen Menschen für flexibler in der Nahrungswahl
als seinen unmittelbaren Nachbarn, den Neandertaler. Zum Bild vom
Menschen gehörte, dass Homo sapiens zwar jagte, sich klugerweise aber
noch weitere Nahrungsressourcen erschloss. Unterdessen schrieb man dem
gern auch als tumben Steinzeittrottel dargestellten Neandertaler fast
ausschließlich Fleisch ins Küchentagebuch. Schlussendlich sah man in der
als einseitig erachteten Ernährung sogar eine mögliche Erklärung für
den frühen Niedergang des Homo neanderthalensis.
So schien geraume Zeit „der Vorhang“ zu, doch viele Fragen blieben
offen. In der Folge fanden sich in Höhlenablagerungen der israelischen
Neandertaler-Fundstellen Amud und Kebara jedoch fossile Überlieferungen
von Pistazien, Eicheln und Gemüsepflanzen. Auch die Steinwerkzeuge aus
La Quina, einer Grabungsstelle in Frankreich, wiesen bereits auf die
Verarbeitung von Grünzeug hin. Nicht zuletzt lassen auch die erst
kürzlich entdeckten Mikrofossilien von Pflanzenresten im Zahnstein von
„Shanidar 3“ und spezifische Abnutzungsspuren im Zahnschmelz dieses
Fundes aus dem Nordirak eine solchermaßen eingeschränkte Interpretation
nicht länger zu.
Weiteren Aufschluss gab nun die im Team um Dr. Ottmar Kullmer am
Senckenberg Forschungsinstitut entwickelte Occlusal Fingerprint
Analysis-Methode (OFA): Bis hin zur kleinsten Kontaktfacette wurden die
Kauflächen von insgesamt 73 Oberkiefermolaren untersucht und miteinander
verglichen. Neben den Analysen von Neandertaler- und Homo
sapiens-Funden aus unterschiedlichen Regionen wurden auch die
Backenzähne von Naturvölkern einbezogen, die sowohl überwiegend Fleisch
als auch Mischkost verzehrten. Dazu gehörten Inuit, Bewohner der
Vancouver Inseln, Feuerländer, Aborigines und die Khoisan aus dem Süden
Afrikas. Je nach Fundregion und Zeitraum wiesen die Kauflächen
insgesamt deutliche Unterschiede in der Abnutzung auf. Die Proben von
Individuen aus ökologisch vergleichbaren Regionen zeigten indes eine
Übereinstimmung in den Gebrauchsspuren, die die Nahrung im Zahnrelief
hinterlassen hat.
Warum war das Naheliegende so fern?
Eigentlich leuchtet doch ein, dass die Vertreter der Steinzeit ganz
einfach all das auf dem Speiseplan hatten, was in der Umgebung zu finden
war. Also so etwas wie eine „Regionalküche“ nutzten. Dennoch blieb es
bei der artspezifischen Nahrungszuschreibung und einer generellen
Überbewertung des Fleischanteils in der Neandertalerküche. Einen
plausiblen Grund für derlei Schlussfolgerungen sieht Fiorenza in der
Tatsache, dass Knochen eher versteinern als Pflanzen. Infolgedessen, so
seine Vermutung, wurden vor allem die fossilen Reste steinzeitlicher
Jagdgelage analysiert. Hinzu kam, dass frühere Untersuchungen zur
Neandertalerernährung vorrangig Proben aus Zeiten mit kühlerem Klima
und/oder Funde aus nördlichen Regionen berücksichtigten. Die aktuelle
Senckenberg-Studie berücksichtigt nun den gesamten Lebensraum von Homo
neanderthalensis und Homo sapiens.
Zeige mir deine Zähne und ich sage dir, was du isst
In Abhängigkeit vom Nahrungstyp verändert sich das Zahnrelief durch das
Zerkleinern der Nahrung. Auf den Kauflächen entstehen Spuren, die sich
im Laufe eines Lebens zu charakteristischen Mustern verdichten. Ottmar
Kullmer erklärt: „Bei fossilen oder auch noch existierenden Arten können
wir solche Kaumuster mit der neuen OFA-Methode analysieren. Die
Ernährungsgewohnheiten eines Individuums lassen sich so in der Tat sehr
genau interpretieren.“ - Dazu formen die Wissenschaftler die Backenzähne
mit Präzisionskunststoff ab. Aus den so entstandenen Negativen werden
Positiv-Modelle erstellt, die eine Fülle von Informationen bieten.
Eingescannt lassen sich die Nachbildungen dann in hoher Auflösung und
dreidimensional von allen Seiten am Bildschirm betrachten und präzise
vermessen.
Was sich da in Super-Makro zeigt, ähnelt einer topografischen Landkarte:
Neben Furchen und Rillen ragen Höcker in die Landschaft der Kaufläche.
Auch stark abgetragene Flächen mit deutlichen Schleifspuren sind zu
erkennen. „Das sind Facetten, die sich im Kontakt mit dem Gegenzahn im
Unterkiefer gebildet haben“, erklärt Ottmar Kullmer. Wie der
Senckenberg-Wissenschaftler weiter erläutert, sind die Facetten, je nach
Beschaffenheit der Nahrung, unterschiedlich ausgeprägt und bilden sich
auch an verschiedenen Stellen. „Ja“, sagt Kullmer, „der Kauvorgang
passt sich dem an, was ein Individuum jeweils zwischen die Zähne
bekommt.“ Und je nachdem wo Neandertaler und/oder frühe Menschen lebten,
fiel das anders aus.
„Im Grunde lässt der Kauvorgang sich in zwei Phasen unterteilen:
Zunächst wird die Nahrung grob zerkleinert und dann zermahlen“, erklärt
der Wissenschaftler weiter. Also je nachdem, ob nun festes Material
zerkaut wird, wie etwa Wurzeln und Stängel, weichere Pflanzenteile wie
Früchte und Keime oder faseriges Fleisch, fällt der Kontakt zwischen
Ober- und Unterkiefermolaren aus. So entstehen die spezifischen Muster.
Das heißt, die Interpretation der Ernährung basiert auf einem Vergleich
dieser Gebrauchsspuren. „Und danach lässt sich auch die Beziehung
zwischen der Nahrung und den öko-geografischen Unterschieden des
Lebensraums bestimmen“, fasst Ottmar Kullmer zusammen.
Bild des Neandertalers ein weiteres Mal korrigiert
„Unsere Untersuchungsergebnisse zeigen eindeutig, dass die Nahrung bei
beiden Vertretern der Gattung Homo insgesamt vielseitig ausfiel.
Wesentlicher ist aber, dass das Angebot jeweils von den
öko-geografischen Gegebenheiten abhing, also vorgegeben war“, sagt Luca
Fiorenza und ergänzt: „Das widerlegt die Auffassung von einer
artspezifischen Nahrungsstrategie und korrigiert ein weiteres Mal das
Bild vom Fleisch verzehrenden Neandertaler.“
Bei den Analysen wurden auch Informationen über die Tierwelt, die
Vegetation und die Böden berücksichtigt. Analog zum Nord-Süd-Gefälle des
Lebensraums, den Neandertaler und der frühe Mensch sich annähernd 200
000 Jahre lang teilten, wurden die Daten drei öko-geografischen Regionen
(Laubwald, mediterranes Immergrün und Steppe-/Nadelwald) zugeordnet,
mit denen die Ergebnisse der OFA-Methode korrelieren. - Die Autoren
betrachten die erweiterten Ergebnisse zur Nahrungsvielfalt der
Neandertaler als Beitrag zum Verständnis der Entwicklung und Ausbreitung
von Neandertaler und frühem Homo sapiens. (dve)
Publikation: „Molar Macrowear Reveals Neanderthal Eco-Geographic Dietary
Variation“ Luca Fiorenza, Stefano Benazzi, Jeremy Tausch, Ottmar
Kullmer, Timothy G. Bromage, Friedemann Schrenk. Erschienen bei PLoS ONE
6(3): e14769. doi:10.1371/journal.pone.0014769
Auch direkt bei PloS ONE im Open Access unter: http://www.plosone.org/article/info:doi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0014769