Branchenmeldungen 26.02.2013
«Ich bezweifle, dass Ritalin zu besseren Prüfungsleistungen führt»
Einer neuen Studie zufolge soll jeder fünfte Studierende mit
Medikamenten oder Drogen seine Leistung steigern. Pharmakopsychologe
Boris B. Quednow von der Universität Zürich glaubt nicht an diese hohe
Zahl und relativiert die Wirkung der sogenannten Neuroenhancer.
Laut einer Ende Januar erschienenen Studie der
Universität Mainz betreiben zwanzig Prozent der Studierenden Hirndoping. Eine
andere Studie des Instituts für Hochschulforschung hatte noch vor einem Jahr
festgestellt, dass lediglich fünf Prozent zu Ritalin (Methylphenidat) oder
anderen Aufputschmitteln greifen. Sind diese Zahlen realistisch?
Boris B. Quednow: Die Zahl von zwanzig Prozent aus der Mainzer
Studie
halte ich tatsächlich für massiv übertrieben, zumindest wenn man die
Definitionen von Neuroenhancement heranzieht. In der Mainzer Studie
wurden
neben den üblichen Verdächtigen wie Methylphenidat und Modafinil auch
illegale
Substanzen wie Amphetamin und Kokain und auch Koffein-Tabletten
eingeschlossen,
während Präparate, welche die Studenten selbst für Neuroenhancer
hielten, nicht
explizit ausgeschlossen wurden. Damit ist die Studie leider mit keiner
früheren
mehr vergleichbar und auch die Häufigkeit der Einnahme der spezifischen
Substanzen kann nicht ermittelt werden.
Es wurden über 2.000 Studierende befragt, damit ist
die Studie doch breit angelegt.
Boris B. Quednow: Die Anzahl der
Befragten ist nicht das Problem. Bei E-Mail-Befragungen, wie sie die Mainzer
Forscher durchgeführt haben, kann man relativ schnell eine hohe Anzahl an
Probanden rekrutieren. Mein Hauptkritikpunkt an der Studie besteht darin, dass sie
sehr allgemein gefragt und nicht nach der Einnahme von bestimmten
Substanzen unterschieden hat. Es heisst dort: «Nehmen Sie illegale oder
pharmazeutische Substanzen, die man nicht in einer Drogerie oder im Supermarkt
kaufen kann?» Es folgt eine Liste mit Beispielen wie Methylphenidat, Amphetamine,
Koffeintabletten, Kokain und Mephedron, aber eben auch keine Negativbeispiele
wie Vitamine oder Pflanzenextrakte.
Was ist an dieser Fragetechnik falsch?
Boris B. Quednow: Wenn jemand zum
Beispiel ein Ginkopräparat oder Vitamintabletten einnimmt, die nur in der Apotheke
zu kaufen sind, wäre dies nach der Definition der Studie auch ein Fall von
Hirndoping. Ich bin mir sicher, dass viele Studierende aufgrund dieser
Ungenauigkeit in der Fragestellung Angaben gemacht haben, die an der eigentlichen
Fragestellung vorbeigehen. Zudem kann es bei E-Mail-Umfragen schnell auch dazu
kommen, dass die Teilnehmenden aus Jux oder Desinteresse falsche Angaben machen
und damit das Ergebnis verzerren. Die angewandte Methode der «Randomized
Response Technique» ist leider sehr anfällig für sogenannte «Cheater». Skeptisch stimmt mich
auch, dass dieselben Autoren vor zwei Jahren eine Studie mit einer ähnlichen Studierendenpopulation
veröffentlicht haben – damals waren allerdings keine Sportstudierenden und
keine Sprachstudierenden dabei –, in der sie mit einer herkömmlichen Fragetechnik
nachwiesen, dass nur ein bis zwei Prozent der Studierenden Hirndoping betreiben.
Dieser riesige Unterschied lässt aufhorchen.
Wie erklären die Mainzer Forscher die massive
Steigerung innerhalb von nur zwei Jahren?
Boris B. Quednow: Die Methode der «Randomized
Response Technique» verspricht den Teilnehmenden absolute Anonymisierung. Dadurch
soll die Bereitschaft, ehrlich zu antworten, deutlich erhöht werden, da auch
auf peinliche Fragen offen geantwortet werden kann, denn der Zufall entscheidet
bei diesem Verfahren darüber, ob der Student eine harmlose Frage beantwortet
oder eine zum Hirndoping. Die Mainzer Forscher führen die ungewöhnlich hohe
Rücklaufquote von etwa 90 Prozent auf diese Methode zurück.
Ist das als Erklärung ausreichend?
Boris B. Quednow: Die «Randomized
Response Technique» wird häufig angewandt und hat sich bewährt. Trotzdem bleibt
für mich das Ergebnis der Mainzer Studie fragwürdig. Allein die Gruppe der
Sportstudierenden, die zum ersten Mal befragt worden ist, kann nicht für die
hohe Prozentzahl verantwortlich gemacht werden, auch wenn Sportler möglicherweise
eher dazu neigen, leistungssteigernde Substanzen einzunehmen.
Und ich habe noch
einen weiteren Grund zur Skepsis: An der Mainzer Studie haben sehr viel mehr
Frauen als Männer teilgenommen. Aus zahlreichen früheren Studien weiss man
jedoch, dass Frauen normalerweise sehr viel vorsichtiger mit leistungssteigernden
Substanzen umgehen und weniger Stimulanzien konsumieren als Männer. Der hohe
Anteil der Frauen lässt diese Zahlen daher zusätzlich unglaubwürdig erscheinen.
Wenn Studierende zu Neuroenhancern greifen – welche Substanz
bevorzugen sie dann?
Boris B. Quednow: Wahrscheinlich
Ritalin, also Methylphenidat, da die Substanz im Verhältnis zu andern
Substanzen wie Amphetamin und Modafinil einfacher zu bekommen ist. Viele
konsumieren Methylphenidat aber eher als eine Art «Kokain light», weil es wach
macht und auch sozial enthemmend wirken kann. Deshalb wird es von Studierenden nicht
nur für die Prüfungsvorbereitung eingenommen, sondern auch vor dem Ausgang. Ich
schätze, dass wir wahrscheinlich ungefähr fünf Prozent gelegentliche Methylphenidat-Konsumenten
unter den Studierenden in Zürich haben. Viele von ihnen haben ein Arztrezept dafür.
Die Anzahl derjenigen, die die Substanz regelmässig und ohne medizinische
Indikation konsumieren, ausschliesslich um besser lernen zu können, liegt
wahrscheinlich nur bei etwa ein oder zwei Prozent.
Wie kommen Sie auf diese Zahlen?
Boris B. Quednow: Aus meiner Forschung
zu den Folgen des Kokainkonsums. Von unseren Probanden, unter denen viele
Studierende sind, nehmen wir Haarproben, um den Drogenkonsum nachzuweisen.
Falls jemand regelmässig Methylphenidat einnimmt, würden wir das anhand der
Haarproben erkennen. Auch bei unserer jüngsten Untersuchung mit 90 gesunden Probanden
hat kein einziger regelmässig Methylphenidat eingenommen. Wenn 20 Prozent der Zürcher
Studenten Methylphenidat einnehmen würden, hätten wir in dieser Stichprobe mit
sehr vielen Studenten wesentlich mehr Methylphenidat-positive Personen finden
müssen.
Es ist auch gar nicht so einfach, an Ritalin heranzukommen.
Boris B. Quednow: Methylphenidat muss
von einem Arzt verschrieben werden. Einige Studierende bekommen das Rezept sicher
auf legalem Weg, weil ihnen der Arzt eine Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert
hat. Man kann Methylphenidat aber auch bei Drogen-Dealern an der Langstrasse
erwerben. Der Haupttransfer läuft jedoch wohl häufig über die Familie oder
Freunde. Wenn ein Geschwister zum Beispiel Methylphenidat einnimmt, kann auch
schnell mal etwas abgezweigt werden. Übers Internet Methylphenidat zu beziehen,
ist in der Schweiz risikoreich, weil viele Pharma-Sendungen aus dem Ausland
mittlerweile vom Zoll abgefangen werden.
Ist die dauerhafte Einnahme von Ritalin bei ansonsten
Gesunden überhaupt schädlich?
Boris B. Quednow: Es gibt keine
Studien, die mit gesunden Personen über einen längeren Zeitraum durchgeführt
wurden. Und wir wissen auch nicht, was bei einer Dauereinnahme im Gehirn
passiert. Bekannt ist lediglich, dass es bei Patienten, die Methylphenidat regelmässig
einnehmen, zu Herz-Kreislauf-Problemen und anderen unangenehmen Nebenwirkungen kommen
kann. Und nicht jeder reagiert gleich: Manche gesunden Personen entwickeln
unter Methylphenidat Angstzustände, innere Unruhe oder massive Schlafstörungen.
Es muss aber an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass Patienten mit
einer Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung kognitiv wie sozial sehr
von der Einnahme profitieren können, was die Gabe trotz der Nebenwirkungen bei
diesen Patienten rechtfertigt.
Was passiert, wenn Studierende Ritalin einnehmen?
Boris B. Quednow: Die Wirkmechanismen
von Methylphenidat und Kokain sind sehr ähnlich. Wir beobachten bei den gelegentlichen
Kokain-Konsumenten bereits relativ starke Veränderungen sensorischer und
kognitiver Funktionen, welche auf eine bereits veränderte Neurochemie hindeuten. Die dauerhafte
Einnahme von Kokain und wahrscheinlich auch Methylphenidat verändert daher die Hirnchemie.
Beim Absetzen der Substanzen ist damit auch nicht alles gleich wieder so wie vor
der regelmässigen Einnahme, sondern das Gehirn hat sich auf die stetige
Stimulation eingestellt. Die kognitive Leistungsfähigkeit durch Methylphenidat zu
verbessern, ist die eine Sache, die andere ist, dass nach Absetzen der Substanz
die Leistungsfähigkeit zunächst einbrechen kann. Wir planen im Moment mit dem
Schweizerischen Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF) eine Studie
zur regelmässigen Einnahme von Methylphenidat bei Gesunden und den daraus
resultierenden Folgen für die kognitiven Leistungen.
Ritalin hat den Ruf, dass es die Konzentration
fördert. Macht es auch kreativer?
Boris B. Quednow: Substanzen wie Methylphenidat
bekämpfen vor allem Müdigkeitseffekte. Die selektive Aufmerksamkeit wird erhöht,
man kann besser fokussieren und mehr Dinge im Arbeitsgedächtnis halten. Methylphenidat
hilft aber nicht, wenn zum Beispiel wechselnde Aufmerksamkeit gefragt ist,
diese Funktion wird eher verschlechtert. Ein Gespräch mit unterschiedlichen Ansprechpartnern
zu moderieren, fällt mit Methylphenidat enorm schwer. Kreative Prozesse sind sehr
wenig erforscht, ich vermute aber, dass Methylphenidat die Kreativität eher nicht
steigert.
Dann ist Ritalin für die Prüfungsvorbereitung
eigentlich gar nicht so nützlich?
Boris B. Quednow: Die meisten
Stimulanzien führen dazu, dass man sich besser fühlt und die eigene
Leistung überschätzt. Der tatsächliche Gewinn ist daher nicht so gross wie der
subjektiv empfundene. Studien mit Stimulanzien haben zudem gezeigt, dass durch das
Ankurbeln des Arbeitsgedächtnisses das Langzeitgedächtnis eher leidet. Es kann
also sein, dass ein Ritalinkonsument in der Bibliothek lange gearbeitet und
viel Stoff gepaukt hat, doch bei der Prüfung nicht alles abrufen kann, weil nicht
der ganze Lernstoff im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden konnte. Die
Einnahme von Methylphenidat verursacht bei vielen Personen ein subtiles, angenehmes
Gefühl und steigert die Motivation. Ob dies am Ende zu einer höheren Prüfungsleistung
führt, bezweifle ich allerdings.
In der im Interview erwähnten Studie der Universität Mainz wurden rund 2.600 Fragebögen ausgewertet, die von repräsentativ
ausgewählten Mainzer Studenten verschiedener Fakultäten ausgefüllt wurden. Die
meisten Hirndoper gab es demnach unter den Sportwissenschaftlern (25 Prozent),
die wenigsten unter den Sprach- und Erziehungswissenschaftlern (12,1 Prozent).
Erschienen sind die Ergebnisse in der Fachzeitschrift «Pharmacotherapy».
Quelle: Universität Zürich, Marita Fuchs, Redaktorin UZH News