Abrechnung 28.06.2023
Abrechnungsvorsprung für die Alignerbehandlung
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Vor nun etwa zwanzig Jahren betrat die Aligner-Technology der Firma Align den kontinental-europäischen Boden. Die Kostenträger waren zunächst perplex und verneinten die medizinische Notwendigkeit. Die erste zivilrechtliche Entscheidung des Amtsgerichts Mayen, Urteil vom 11.11.2003, 2 652/03, folgte dem dann auch mit der Begründung, dass der Kieferorthopäde gar nicht selbst behandele, sondern die Behandlung im wahrsten Sinne des Wortes aus der Hand gebe (wie bei autonomen Therapieentscheidungen einer künftigen KI) und weil Langzeitergebnisse zur Alignertechnologie noch gar nicht vorlägen. Diese Entscheidung wurde aufgehoben und das Landgericht Koblenz (Urteil vom 16.05.2006, 14 S 388/03) bestätigte sodann Invisalign als Schulmedizin, was bemerkenswert deshalb ist, weil die einzige jemals ablehnende gerichtliche Entscheidung die erste Entscheidung überhaupt war, die heute nur noch von medizinhistorischem Interesse ist. Zugleich bestätigten in der Folge drei Dutzend gerichtliche Entscheidungen zu dem Invisalign-Verfahren dessen Einordnung als Schulmedizin in den unterschiedlichsten Befundklassen und verneinten stets einen vermeintlich bloß kosmetischen Ansatz. Die Kostenträger lernten, dass alleine aus dem Wunsch nach einer nicht sichtlichen Problemlösung nicht abgeleitet werden konnte, dass dieser Ansatz nicht auch zu medizinisch erfolgreichen Ergebnissen führte. Zahnärztliche Interessenvertreter lernten, dass der Wunsch des Patienten nach einer herausnehmbaren Lösung die Behandlungsstrategie unter Verwendung festsitzender Geräte nicht generell infrage stellte, sondern die Kieferorthopädie um eine weitere Facette in sinnvoller und patientengerechter Weise erweiterte. Und Patienten lernten, dass die Kombination eines herausnehmbaren Behandlungsgerätes und einer profunden Software zu zufriedenstellenden Ergebnissen führen konnte.
Medizinhistorische Entwicklung der Alignertherapie
Schon in diesen ersten Jahren erklärten dann um das Berufsbild des Kieferorthopäden besorgte Ärzte, dass schon in wenigen Jahren Aligner im Supermarkt feilgeboten werden würden, und zwar ohne eine echte fachzahnärztliche Begleitung. Heute lässt sich wohl resümieren, dass das Direct-to-Consumer Marketing von Alignerbehandlungen nicht verboten werden konnte und dass diese Anbieter sich um eine immer stärkere Integration zahnärztlichen Sachverstandes in ihre kieferorthopädische Behandlung bemühen. Den Kammern und Verbänden war ein juristisches Verbot dieses Geschäftsmodells nicht gelungen und offenbar in Kenntnis dessen wurde dann die politische Schiene des Verbraucherschutzes bemüht, was aber aus Gründen der gerade auslaufenden Legislaturperiode und der politischen Mehrheitsverhältnisse auch im neu zusammengesetzten Bundestag nicht erfolgreich war. So darf damit gerecht werden, dass dieses Geschäftsmodell in geeigneten Behandlungskonstellationen und mit entsprechender zahnärztlicher Beteiligung wohl weiter von Bestand sein wird. Dem Verbraucher bleibt die nicht oder nur bedingt ärztlich begleitete Therapie auch dadurch verborgen, dass einzelne Krankenversicherungen gesonderte Tarife aufgelegt haben, die diese Form der Alignertherapie so behandeln, als würde ein Kieferorthopäde tätig sein. Auch der Umstand, dass zahnärztliche Abrechnungsgesellschaften die so vertriebenen Aligner finanzieren und letztlich für diese Gewerbe betreiben, als handele es sich um Arzthonorare, bewirkt eine Gleichstellung gewerblicher Tätigkeit mit der freiberuflichen Tätigkeit des Kieferorthopäden – zumindest in der Wahrnehmung der Patienten.
Verbraucherschutz in der Kieferorthopädie
Vielleicht entspricht es aber gerade auch einem wohlverstandenen Verbraucherschutz, wenn eine kieferorthopädische Behandlung mit einer eher leichteren Befundsituation im Sinne einer Kieferumformung geringen Grades im Sinne von 6030 GOZ einem jungen Erwachsenen für 2.000 Euro statt für 6.000 Euro zugänglich ist. Dass dies notweniger Weise zulasten der Behandlungsqualität gehen muss, hat sich angesichts der geringen Fallzahlen von Haftungsklagen gegen sog. Aligner-Shopbetreiber gerade nicht bestätigt. Inwieweit die Aufrufe, Negativberichte über gescheiterte Aligner-Shop-Behandlungen einzusenden, wettbewerbsrechtlich überhaupt zulässig waren, darf bezweifelt werden. Im Ergebnis hat sich bislang nicht gezeigt, dass die eingetretenen Schädigungen größer oder häufiger wa-ren als jene in der Folge einer standardwidrigen kieferorthopädischen Therapie.
Nrn. 6100, 6110a GOZ bleiben auch bei Alignern
Seit mindestens 2012 darf die analoge Abrechnung der Alignerbehandlung als gesichert gelten, da infolge der Nichtänderung der GOZ in den hierfür relevanten Gebührentatbeständen die bisherigen gebührenrechtlichen Urteile maßgeblich bleiben. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Analogie der Nummer 6100 und der Nummer 6110 der GOZ für das Einbringen und Entfernen der Attachments. Zwar wurde im Kontext der festsitzenden Lingualretainer kürzlich die Abrechenbarkeit dieser Ziffern durch das BVerwG in einem sogenannten Musterverfahren verneint. Der Ansatz der Kostenträger, diese Ziffern nun auch im Kontext der Attachments zu streichen, wurde aber jetzt zurückgewiesen (LG Stuttgart, Urt. v. 15.02.2023, 4 S 153/22), sodass diese Ziffern im Rahmen der Alignerbehandlung weiterhin valide sind und bleiben (so auch der GOZ-online-Kommentar der Arbeitsgemeinschaft der Bundes- und Landeszahnärztekammern).
Nr. 2197 GOZ bleibt bei Attachments
Seit 2012 ist die Invisalign-Erstattungspflicht der Beihilfe in Bund, Ländern, Kommunen und Kreisen im Sinne der Anwender und Patienten geklärt. Der Verband meinte nach der Einführung der Nr. 2197 GOZ im Rahmen der GOZ-Novelle 2012 zwar, dass die Ziffer für das Kleben von Klebebrackets ansetzbar sei, was jedoch durch das BVerwG als naheliegender Verstoß gegen das Doppelberechnungsverbot qualifiziert wurde („adhäsive Befestigung eines Klebebrackets“). Zugleich hatte der Verband diese Ziffer für die adhäsive Befestigung von Attachments im Rahmen der von ihm nur bedingt erwünschten Aligerbehandlung für nicht abrechenbar erklärt, was falsch war, da aktuell diverse Amtsgerichte bestätigten, dass der Abrechnungsausschluss der Nr. 2197 zwar für die Versorgung mit festsitzenden Klebebrackets gelte, nicht aber für die Therapie mit herausnehmbaren Alignern, die an adhäsiv befestigten Attachments befestigt sind (AG Waiblingen, Urt. v. 21.07.22, 7 C 533/20; AG Ludwigsburg, Urt. v. 10.05.22, 5 C 571/21; AG Köln, Urt. v. 18.10.22, 119 C 151/21). Dem folgen auch die hiermit zuletzt befassten Landgerichte: LG Stuttgart (Urt. v. 15.02.2023, 4 S 153/22; LG Wiesbaden, Urt. v. 25.05.2023, 1 S 86/20). Sollte sich diese Tendenz in der Rechtsprechung weiter verfestigen, ergibt sich wegen Nr. 2197 GOZ ein Abrechnungsvorsprung der Alignertherapie gegenüber der festsitzenden vertragszahnärztlichen Versorgung, wo die Abrechnung dieser Ziffer ausgeschlossen ist.
Individueller Löffel und Stripping
Im Zuge dieser aktuellen Rechtsprechung wurde en passant die Berechtigung der Ziffern 2200a GOZ für die ASR bestätigt und 5170 GOZ für die individuelle Abdrucknahme – jeweils bezogen auf die Invisalign-Behandlung. Diese günstige Entwicklung gilt für die Produkte der diversen Alignerhersteller gleichermaßen.
Patientenwahl ist Kostenentscheidung
Wenn Geld im Rahmen einer kieferorthopädischen Behandlung eine Rolle spielt, ob auf Patienten- oder Behandlerseite, dann blieb bis heute ein GOZ-Aspekt zu wenig beachtet: Die Kosten der Apparatur sind nach dem Willen des Gesetzgebers bei allen festsitzenden Behandlungsansätzen im Behandlerhonorar bereits enthalten, belasten also mangels Weiterberechenbarkeit an den Patienten/dessen Kostenträger die Bilanz des Behandlers. Anders ist dies bei herausnehmbaren Apparaturen wie Alignerschienen/Miniplastschienen, hier darf der Kieferorthopäde auch selbst gefertigte Alignerschienen dem Patienten berechnen und dessen Kostenträger muss diese erstatten. Damit kann nur hier ein Wertschöpfungsprozess im Eigenlabor gelingen. Werden die Aligner von einem Fremdlabor industriell gefertigt und dem Kieferorthopäden berechnet, so kann diese Rechnung an den Patienten weiterbelastet werden, wodurch für den Aligneranwender die Fremdlaborkosten zumindest bilanzneutral bleiben. Wenn also Geld eine Rolle spielt, dann kann gesagt werden, dass die Entscheidung des Patienten für ein Alignersystem statt für eine festsitzende Behandlung, zu einer höheren Erstattung seines Kostenträgers führt, zum Beispiel in Höhe eines Mehrbetrages von 2.000 Euro (wenn dies beispielsweise die Kosten sind, die ein Fremdlabor für die industriell gefertigte festsitzende Apparatur berechnet, die eo ipso nicht weiterberechnungsfähig sind).
Im Zweifel für den Zahnarzt
Gerade in den letzten fünf Jahren erfreut sich das Invisalign-System großer Beliebtheit bei den bislang allgemeinzahnärztlich tätigen Behandlern. Dies wird dadurch erkennbar, dass auch solche Behandler sich in die Auseinandersetzung mit den Beratungsärzten – insbesondere jenen der privaten Kostenträger – begeben, die dafür bezahlt werden, den Kapitalgesellschaften formell-medizinische Ablehnungsbegründungen zu liefern, die dann in aller Regel vor Gericht nicht belastbar sind. Die Sachverständigenauswahl vor Gericht folgt dann drei Regeln: erstens der zu bestellende Sachverständige muss der Fachrichtung des Behandlers angehören (ist der Behandler ein auch kieferorthopädisch tätiger Allgemeinzahnarzt, so muss dies auch für den Gutachter gelten; ist der Behandler ein Fachzahnarzt für Kieferorthopäde, muss dies auch für den Gutachter gelten); zweitens: Behandler und Gutachter sollen derselben Versorgungsstufe angehören: die Begutachtung der Behandlung eines Ordinarius für Kieferorthopädie soll durch einen Universitätsprofessor erfolgen; drittens: der Gutachter muss ebenfalls für die Alignertherapie durch Align zertifiziert sein und selbst eigene Erfahrungen hiermit gesammelt haben. Es liegt dabei auf der Hand, dass der Gutachter eine höhere Zahl abgeschlossener Alignerbehandlungen vorweisen können sollte als der Anwender, dessen Fall er oder sie begutachtet.
Fazit
Die Alignerschiene hat sich durchgesetzt und behauptet sich auch in den jüngsten Abrechnungsdebatten zwischen Verband und Justiz. Ihre Beliebtheit bei Minderjährigen und ihre Therapiekompetenz hat bislang nicht zu ihrer Einführung als vertragszahnärztliche Leistung geführt, ob dies nun berufspolitisch wünschenswert wäre oder nicht.
Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.