Praxismanagement 17.09.2013
Betreuung von multimorbiden Patienten
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Durch den demografischen Wandel nimmt die Zahl der älteren Patienten, die zahnärztlich betreut werden müssen, kontinuierlich zu. Dabei gibt es große Unterschiede bei der Generation 65+: Die sogenannten fitten Alten, auch Silbergeneration genannt, sind heute gesünder als früher und nehmen noch aktiv am gesellschaftlichen Leben teil. Eine weitere Gruppe sind die multimorbiden Patienten, die einen größeren Raum in der täglichen Praxis einnehmen. Fortschritte in der Medizin und neue Erkenntnisse in der Forschung machen ein Umdenken in der Praxis erforderlich.
Die Lebensqualität im Alter hängt von vielen Faktoren ab und damit auch, in welchem physischen und psychischen Zustand sich jeder Einzelne befindet. Physiologische Alterungsprozesse und Alterskrankheiten machen bei diesen Patienten eine besondere Betreuung erforderlich. Immer mehr eigene Zähne, auch kariesfreie Zähne, hochwertige prothetische Versorgungen, Prävention und spezielle Prophylaxemaßnahmen sind die Herausforderungen, denen wir uns in der täglichen zahnärztlichen Praxis stellen müssen. Senioren gehören inzwischen zu unserer täglichen Arbeit dazu.
Seit 1984 beschäftigen wir uns mit der Behandlung von multimorbiden Patienten. Hausbesuche in stationärer und häuslicher Pflege sind für unsere Praxis Standard, deshalb haben wir die Praxisstrukturen immer wieder angepasst, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Der Landkreis Goslar gehört bundesweit zu den höchsten im Altersdurchschnitt, wobei Bad Harzburg einen Spitzenplatz einnimmt. Über 40 Prozent der Einwohner sind über 60 Jahre alt, jeder zehnte Bürger ist über 80 Jahre alt. Es wird heute nicht mehr über die Bevölkerungspyramide gesprochen, sondern vom sogenannten Bevölkerungspilz.
Abb. 1: Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland. Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, November 2009. Vollbild.
Der multimorbide Patient
Komplexes Wissen um Physiologie und Psychologie des Alterns bringt bei dem Praxisteam besseres Verständnis bei multimorbiden Patienten hervor. Die medizinische Versorgung von Senioren wird als ein spezielles Präventionsfeld benannt und bildet eine Integration der Seniorenzahnmedizin in die Gerontologie. Die Multimorbidität steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Alterungsprozess. Durch biologische Altersveränderungen gibt es eine Reihe von Begleiterkrankungen und Risikofaktoren, die den mulitmorbiden Patienten charakterisieren:
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Stoffwechselstörungen
- Allergien
- Gehbehinderung
- Eingeschränktes Seh- und Hörvermögen
- Knochen- und Gelenkerkrankungen
- Demenz
Die Multimorbidität eines alternden Menschen nimmt mit steigendem Lebensalter deutlich zu. Deshalb müssen bei vorliegender Multimorbidität die gesamten pathologischen Veränderungen in die gesamtklinische Bewertung mit einbezogen werden. Für diese Patientengruppe, die meist unter schwierigen Bedingungen noch selbst die Praxis aufsucht oder mit einer entsprechenden Begleitung kommt, ist unbedingt ein erhöhter Zeitaufwand einzuplanen. Der Patient kann so optimal behandelt und betreut und in einem engen Recall mit regelmäßigen Präventionsmaßnahmen eingebunden werden.
Interdisziplinäre Diagnostik – Begleiterkrankungen
Alternde Patienten mit chronischen oder multiplen Erkrankungen können mit einseitigen Diagnosen und Therapiekonzepten nicht mehr umfassend zahnärztlich betreut werden. Genaue Kenntnis des Krankheitsgeschehens, der verordneten medizinischen Therapien und Medikamente sowie des sozialen Umfelds des Patienten sind für die zahnärztlichen Behandlungen von großer Bedeutung. Dies setzt eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen beteiligten Fachrichtungen voraus. Eine zentrale Bedeutung hat dabei die Anamnese und das ärztliche Gespräch, um eine vollständige Information von und über den Patienten zu erhalten, wobei der laufende Kontakt zum behandelnden Hausarzt, dem wichtigsten Ansprechpartner, essenziell ist. Denn mit steigendem Alter verändert sich die Wirkungsweise vieler Medikamente.
Faktoren für gestörte Pharmakotherapie:
- unkontrollierte Medikamenteneinnahme
- unerwünschte Nebenwirkungen (längere Blutungsneigung, Xerostomie, veränderte Schmerzschwelle)
- Xerostomie (Nebenwirkungen, z.B. von Betablockern, Antidepressiva, Analgetika, Diuretika)
Es kommt immer wieder in der Praxis vor, dass eine notwendige Zahnextraktion durchgeführt werden muss, der Patient jedoch ASS oder Blutverdünner nimmt (z.B. Marcumar).
Behandlung in der Praxis
Im Praxisalltag muss sich das gesamte Praxisteam auf die älteren Patienten entsprechend einstellen. Bereits beim Eintreffen des Patienten ist eine sofortige intensive Betreuung nötig. Im täglichen Praxisbetrieb sollte Folgendes unbedingt Beachtung finden:
- Hilfestellung am Empfang (Anmeldeformalitäten, große Schrift, kurze Fragen)
- Begleitung ins Wartezimmer und in die Behandlungsräume
- Klare deutliche kurze Sätze, eventuell öfter wiederholen
- Anamnese ständig aktualisieren (Medikamentenplan kopieren, Angehörige, evtl. Betreuer)
- Terminabsprache, schriftlich mitgeben (evtl. einen Tag vorher erinnern)
- Wunschtermine
- Hilfestellung bei multimorbiden Patienten (Rollstuhl, Rollator, Gehstützen)
Der Senior muss sich bei Betreten der Praxis von Beginn an wohlfühlen. Viele wollen auch mal etwas erzählen, sie wollen sich verstanden wissen. Ein Glas Wasser oder Ähnliches tragen auch zu einer guten Praxisatmosphäre bei. Demente Patienten bedürfen einer besonderen Zuwendung, wobei hier besonders ein erhöhter Zeitfaktor mit eingeplant werden muss. Diesen speziellen Anforderungen werden wir in unserer Praxis mit ständigen Fortbildungen, zum Beispiel nach dem Marte Meo-Konzept, gerecht.
Die seniorengerechte Praxis
Eine komplett senioren- und behindertengerechte Praxis nach offiziellen Richtlinien lässt sich meist nicht darstellen. Dabei sind bauliche, räumliche und finanzielle Gegebenheiten zu berücksichtigen. Wie groß die Möglichkeiten für Umbauten in der Praxis sind, hängt außerdem von den Eigentumsverhältnissen ab. Es lässt sich aber mit wenig finanziellem Aufwand die Praxis seniorengerecht gestalten:
- Behindertengerechter Praxiszugang (Rampe, Fahrstuhl, Treppenlift – soweit baulich möglich) für Rollstuhl, Rollator, Gehstützen
- Praxisklingel, Türöffner (muss auch für Rollstuhlfahrer leicht erreichbar sein)
- Anmeldeformulare – übersichtlich und mit großer Schrift
- Lesehilfen – Lupen
- Abstellmöglichkeiten für Rollstuhl und Rollator
- einfache und praktische Gehstützenhalter am Empfang, Wartezimmer, Behandlungszimmer
- Armlehnstühle im Wartebereich – für leichteres Aufstehen
- Behindertengerechte Sanitäreinrichtung, mit Notfallklingel
- Rollstuhlgeeignete Behandlungsräume
- Speitrichter für die Absauganlage
- vertrautes Personal als gleichbleibender Ansprechpartner
Gehstützenhalter am Empfang.
Grundlage für eine effektive Prophylaxe in der Alterszahnmedizin ist der Einsatz von altersgerechten Mundhygieneartikeln. Auf dem Markt sind nur wenige Prophylaxeartikel für ältere Patienten erhältlich, sodass in der Praxis Improvisation gefragt ist. Fakt ist, dass mit zunehmendem Alter auch die Qualität der Mund- und Prothesenhygiene stetig abnimmt. In einem engmaschigen Recall kann bei diesen Patienten die Mundhygiene kontinuierlich verbessert werden.
Zur Grundausstattung für die Mundhygiene bei multimorbiden Patienten gehören:
- Zahnbürsten
- Interdentalbürsten
- Prothesenreinigungsbürsten
- Zungenreiniger
- Mundspüllösungen
- Griffverstärkungen (Fahrradgriffe, Tennisbälle u.ä.)
- Aufbisskeil
- Ultraschallreinigungsbad-Geräte
- Einwegbecher (verstärkt)
- Putzfinger, Tupfer mit Nadelhalter
Zusammenfassung
In der heutigen Zeit werden Zahnarztpraxen mit immer älteren und hochbetagten Patienten konfrontiert, deren Anzahl stetig ansteigt. Es gibt eine Reihe von den sogenannten „fitten Alten“, doch der Anteil an pflegebedürftigen alternden Menschen nimmt ebenfalls kontinuierlich zu. Die Alterszahnmedizin beschäftigt sich mit solchen Patienten, die physischen und psychischen Altersveränderungen unterliegen. Das Bewusstsein der Patienten führt zu vermehrtem Interesse, die eigenen Zähne intensiver zu pflegen, was auf einen höheren Bildungsgrad zurückzuführen ist. Die Zahl der hochwertigen und implantatgetragenen prothetischen Versorgungen wächst.
Das Altern der Menschen stellt die Zahnmedizin vor neue Aufgaben. Veränderungen der Physiologie und Psychologie setzen ein komplexes Wissen und Verständnis beim gesamten Praxisteam voraus. Als Lebensqualität im Alter wird dabei nicht nur der allgemeine Gesundheitszustand als Gradmesser herangezogen, sondern es muss auch eine Aussage über die Selbstständigkeit im Alltag eines älteren Menschen getroffen werden. Denn durch Zunahme des Alters kommen nicht nur mehr multimorbide Patienten in die Praxis, sondern müssen auch im Rahmen von Hausbesuchen zahnmedizinisch behandelt werden.
Um einen multimorbiden Patienten effektiv behandeln zu können, ist eine ausführliche, gründliche und immer aktuelle Anamnese erforderlich. Eine interdisziplinäre und intensive Zusammenarbeit mit dem zuständigen Hausarzt oder anderen Fachrichtungen ist zwingend erforderlich. Nebenwirkungen von Medikamenten müssen bekannt sein, besonders bei Auftreten einer Xerostomie. Auch bei Einnahme von Blutverdünnern ist bei akuten chirurgischen Eingriffen Vorsicht geboten.
Das Praxisteam muss sich auf den multimorbiden Patienten in der Zahnarztpraxis einstellen. Entsprechende Hilfestellungen bei den Anmeldeformalitäten und Begleitung während des gesamten Praxisaufenthaltes sind wichtig. Der Patient soll sich von Anfang an wohlfühlen. Zugleich ist eine seniorengerechte Ausstattung natürlich Voraussetzung für die Behandlung alternder Menschen. Um eine optimale zahnmedizinische Betreuung bei multimorbiden Patienten gewährleisten zu können, ist ein ständiger Kontakt mit den Angehörigen, dem Pflegepersonal und bestellten Betreuern nötig. Die Alterszahnmedizin ist ein fester Bestandteil im täglichen Praxisbetrieb geworden, der wir uns in Zukunft noch mehr und intensiver stellen müssen. Auch multimorbide Patienten haben einen Rechtsanspruch auf zahnärztliche Behandlung, dem es gilt gerecht zu werden. Darüber hinaus sind Politik, Krankenkassen und Verbände in der Pflicht, den immer noch unzureichenden finanziellen Rahmen dafür zu schaffen.