Endodontologie 09.01.2012

Das volle Potenzial eines Dentalmikroskops nutzen



Das volle Potenzial eines Dentalmikroskops nutzen

Noch ist das Dentalmikroskop in der allgemeinzahnärztlichen Praxis eher selten anzutreffen. Die Gründungstagung der Deutschen Gesellschaft für Dentalmikroskopie DGmikro am 24. September 2011 in Köln hat eine Gruppe von Zahnärzten zusammengeführt, die sich ihres Exotenstatus durchaus bewusst sind. Vereint sind diese Kollegen aber vor allem durch die begeisternde Erfahrung, dass sich durch den Einsatz des Mikroskops im zahnärztlichen Alltag eine neue Dimension in den Möglichkeiten ihrer Therapie auftut.

Niedergelassene Zahnärzte nutzen das Mikroskop in aller Regel hauptsächlich für die Endodontie. Das Auffinden zusätzlicher Kanäle, die Darstellung einer komplexen Pulpenanatomie und die kontrollierte Wurzelfüllung machen die Ergebnisqualität der Wurzelkanalbehandlung vorhersagbarer und nachweislich besser. Vorteile bietet die vergrößerte Sicht auch bei der Wurzelspitzenresektion.

Ambitionierte parodontalchirurgisch tätige Zahnärzte setzten das Mikroskop unter anderem für den mikrochirurgischen Wundverschluss ein, um mit einer 7.0 Naht oder feiner die Wundränder atraumatisch zu adaptieren und so ein ästhetisch überzeugendes Ergebnis zu ermöglichen. Die koaxialen Lichtverhältnisse machen den Einsatz des Mikroskops auch beim internen Sinuslift oder der Implantologie attraktiv. In diesem Einsatzspektrum wird das Mikroskop eher statisch verwendet: Das Sichtfeld wird zu Beginn der Behandlung eingestellt, der Patient darf sich möglichst wenig bewegen. Spraynebel entsteht nicht, sodass Wasser auf dem Spiegel kein Problem darstellt. Für den Patienten erzeugt diese Behandlungsmethode eine eher bedrohlichere und auch physisch belastendere Situation als die bekannte Behandlung.


Großes Potenzial
Doch das Potenzial des Dentalmikroskops lässt sich auch in die dynamische Dimension erweitern und eröffnet damit nicht nur zusätzliche Einsatzfelder, sondern im Besonderen auch die Möglichkeit, den Patienten auf eine Reise durch seine individuelle Mundsituation mitzunehmen.

Wir setzen das Mikroskop regelmäßig für die Befundaufnahme während der Erstuntersuchung des Patienten ein. Dabei überträgt eine am Mikroskop installierte HD-Videokamera das Bild an einen Monitor, der an der Zimmerdecke montiert ist. Auf diese Weise kann der Patient die Diagnostik quasi mit den Augen des Behandlers mitverfolgen und wird währenddessen über das, was wir sehen, mit einem laienverständlichen Wortkonzept informiert.



Dieses Vorgehen erfordert ein bestimmtes technisches Setup:

  • Für den Ablauf der Untersuchung gibt es ein festgelegtes Drehbuch, das Weichgewebe, Parodontium, Zahnhartsubstanz, vorhandene Rekonstruktionen und Funktion bei Okklusion und Artikulation mit einschließt. Dabei wird mit einer moderaten Vergrößerung eine Orientierung im Mund erleichtert. Nur für die Darstellung von Details wird zu einer höheren Vergrößerung gewechselt.
  • Der Nennfokus des Mikroskops ist so optimiert, dass ohne Nachfokussierung zwischen den Vergrößerungsstufen gewechselt werden kann. 
  • Das Mikroskop ist so ausbalanciert, dass es leicht geschwenkt und in seiner Neigung verändert werden kann, sodass alle Abschnitte der Mundhöhle ohne Umlagerung des Patienten eingesehen werden können.
  • Damit die Darstellung der Mundhöhlensituation unkompliziert gewährleistet ist, setzen wir Hilfsmittel wie Optragate® mit reflektierender Folie beschichtete Parotispflaster und unterschiedlich große Spiegel ein.
  • Der Patient wird so gelagert, dass er den an der Zimmerdecke montierten Monitor gut sehen kann; die HD-Videokamera ist auf „Landschaftsmodus“ eingestellt, was ausreichende Tiefenschärfe gewährleistet.
  • Die Untersuchung kann gegebenenfalls komplett (auch mit Ton) aufgezeichnet werden, oder es werden nur besonders markante Details als Standbild/Foto gespeichert. Die Vor- und Nachteile beider Verfahren erläutern wir später.


Welche Konsequenzen ergeben sich durch die mikroskopunterstützte Untersuchung?

  • Zunächst einmal erreichen wir eine weit über das Maß der Untersuchung mit bloßem Auge hinausgehende Detailwahrnehmung. Wir können so auch Befunde erfassen, die einer minimal- invasiven, maximal-protektiven Behandlung zugänglich sind. Andererseits können wir durch die Darstellung von Schmelzrissen (Cracks) und Infrakturen oder Abrasionsflächen den Umfang zu planender Restaurationen vorausschauender definieren. Wir entdecken undichte Restaurationen oder Plaqueretentionsstellen, die eine Neuversorgung erforderlich machen. Insgesamt erfassen wir vollständig den Behandlungsbedarf über das mit bloßem Auge Sichtbare hinaus. Daraus resultieren umfangreiche Sanierungspläne.
  • Ein außerordentlicher Vorteil der mikroskopunterstützten Untersuchung aber ist das Verständnis, das wir bei dem Patienten für seinen Behandlungsbedarf erzeugen. Würden wir ihn nur aufgrund unserer klassischen 01-Untersuchung mitteilen, dass zahlreiche Defekte oder ein erkranktes Parodontium versorgt werden müssen, hätten wir ein Glaubwürdigkeitsproblem, hat der Patient doch subjektiv keine oder nur lokal begrenzte Beschwerden und von seinem Vorbehandler immer nur gehört „Alles in Ordnung“.
  • Die Darstellung der individuellen Situation in der Mundhöhle und die damit verbundene ausführliche Beratung ermöglichen es dem Patienten, sich vom „Opfer auf dem Behandlungsstuhl“ hin zum Auftraggeber für die Wiederherstellung seiner Mundgesundheit zu entwickeln. Die unmittelbare Betroffenheit des Patienten führt dazu, dass er die Initiative ergreift, um seine Zahngesundheit durch uns wiederher-stellen zu lassen. Wir erzeugen so eine außergewöhnlich hohe Compliance – und darin liegt über alle fachlichen Vorteile hinaus der eigentliche Marketingeffekt des Mikroskops. 

 

Was spricht gegen eine Videoaufzeichnung während der Untersuchung?

  • Um einen technisch hervorragenden Videofilm zu drehen, bedarf es einer sehr starren Lagerung des Patienten. Dazu kann der Kopf in einem  Vakuumkissen fixiert werden. Andernfalls stören Zittern, Wackeln oder Kopfbewegungen. Das bedeutet in aller Regel, dass der Patient die Untersuchung nicht direkt am Monitor verfolgen kann. Um die Länge des Videos überschaubar zu halten, muss auf begleitende Erläuterungen verzichtet werden.
  • Anschließend muss das Videomaterial geschnitten werden, damit unscharfe oder sehr unruhige Sequenzen herausgenommen werden. Das erfordert Zeit (in aller Regel nach Feierabend). Außerdem entsteht eine große Datenmenge, die in der Regel auf einer separaten Festplatte gespeichert werden muss, um den Server nicht zu überfrachten.
  • Der Patient muss dann zu einer Befundbesprechung einbestellt werden. Das Video wird ihm vorgeführt und erläutert. Durch die zeitliche und räumliche Trennung von der unmittelbaren Untersuchungssituation ergibt sich eine gewisse Distanz, die die Betroffenheit des Patienten gegenüber seinen Befunden verringert. Die Situation hat eher etwas von einem Dokumentarfilm wie im Fernsehen.
  • Vorteilhaft ist, dass der auf DVD gebrannte Film mit nach Hause genommen werden kann, um sich und ggf. Angehörigen die Situation nochmals vor Augen zu führen. Wir haben allerdings die Erfahrung gemacht, dass davon eher selten Gebrauch gemacht wird.

 

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

In unserer Praxis hat es sich bewährt, auf das perfekte Video zu verzichten und den Patienten stattdessen live an unserer Untersuchung teilhaben zu lassen. Einzelne interessante Sequenzen zeichnen wir auf oder halten sie mit Standbildern ähnlich wie mit einer Digitalkamera als Einzelfotos fest. Diese Bilder können dann direkt in der digitalen Patientendatei hinterlegt werden und stehen so ohne weitere Bearbeitung bei Beratungsgesprächen oder Behandlungsplanungen zur Verfügung. Auch die Bearbeitung von Rückfragen der Kostenerstatter wird auf diese Weise erleichtert – ein Bild sagt eben mehr als tausend Worte. Die Datenmenge bleibt überschaubar. Mit der mikroskopunterstützten Untersuchung ist das Potenzial des Dental-mikroskops aber noch lange nicht ausgeschöpft. Wenn wir das Mikroskop z.B. auch für die Kavitäten-, Kronen- oder Veneerpräparation einsetzen und es dem Patienten ermöglichen, die Behandlung auf dem Monitor direkt zu verfolgen, erreichen wir nicht nur eine verbesserte Präzision, sondern erzeugen beim Patienten auch eine überaus große Wertschätzung für unser sorgfältiges Vorgehen. Bei der Behandlung sehr ängstlicher Patienten verringert die Möglichkeit zuzusehen, das Gefühl, dem Zahnarzt wehrlos ausgeliefert zu sein. Stattdessen wird das Prozedere überwiegend als technisch interessant wahrgenommen. Ähnlich positiv entwickelt sich das Verständnis von Eltern, die die Versorgung der Zähne ihrer Kinder am Monitor verfolgen, und es entsteht Einsicht in Behandlungsnotwendigkeit und Umfang.



Arbeitsabläufe müssen angepasst werden

Setzt man das Mikroskop für Behandlungsschritte ein, bei denen Wasserkühlung obligat ist, stellt allerdings das Feuchtigkeitsmanagement eine Herausforderung für die Assistenz dar. Hier ist eine gut eingespielte Vierhandtechnik Voraussetzung. Der routinemäßige Einsatz des Mikroskops im zahnärztlichen Alltag macht es notwendig, einige gewohnte Handgriffe und Abläufe zu verändern. Idealerweise erarbeitet sich das Team aus Zahnarzt und Assistenz gemeinsam ein auf die Anforderungen der Dentalmikroskopie optimiertes Behandlungsprotokoll unter Anleitung erfahrener Kollegen. Die wesentlichen Prinzipien lassen sich aus unserer Erfahrung innerhalb eines  Trainingstages erlernen. Einen weiteren Aspekt möchten wir herausstellen: die Selbstkritik. Kontrollieren wir unsere Präparationen, Restaurationen, Kronen- und Füllungsränder unter dem Mikroskop, unterwerfen wir uns einer schonungslosen Demaskierung der eigenen Grenzen in der Präzision. Hier erfüllt auch die Videodokumentation der Behandlung eine ganz herausragende selbstschulende Funktion. Der Lerneffekt, der beim wiederholten Betrachten der eigenen Arbeitsweise auftritt, ist wahrscheinlich höher als durch jede externe Fortbildung. Seit wir mit dem Dentalmikroskop arbeiten, hinterfragen wir unsere Behandlungsabläufe hinsichtlich der Ergonomie, sind kritisch bei der Auswahl der verwendeten Verfahren, Instrumente und Materialien und optimieren so unsere Ergebnisse. Dies hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass wir täglich mehr Freude an unserer Arbeit haben.

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