Implantologie 24.01.2023

Komplexe Unterkieferaugmentation

Komplexe Unterkieferaugmentation

Foto: Dr. Andreas Born

Das vertikale Alveolarkammdefizit, insbesondere im Unterkieferseitenzahnbereich, stellt in der praktischen Implantologie nach wie vor eine Herausforderung dar. Es sind deshalb unterschiedliche Verfahren entwickelt worden: Die aus der craniofazialen Chirurgie entwickelten Distraktoren und Sandwich-Osteotomien, auch Inlay-Technik genannt, haben sich im implantologischen Praxisalltag eher nicht durchgesetzt, üblich sind stattdessen aufgeschraubte Knochenblock-Transplantate, auch als Onlay-Grafts bezeichnet, die mit Eigenknochen oder alloplastischen Knochenersatzmaterialien aufgefüttert werden.1 Der folgende Fachbeitrag stellt eine komplette Unterkieferaugmentation unter Einsatz von intraoperativ angepasstem Titan-Mesh und autologem Knochentransplantat vor.

Am meisten verbreitet sind augmentative Verfahren, die auf einer Auflagerungsosteoplastik mit Eigenknochen und/oder Fremdmaterial plus Abdeckung mit einer Membran beruhen. Zur Ruhigstellung des Knochentransplantats werden Membrane zunehmend mit Titanverstärkung verwendet. In den letzten zehn Jahren wurden durch den Einzug der CAD/CAM-Technologien präformierte Titannetze inauguriert, die zumeist mit Knochenersatzmaterial befüllt wurden.1–4 Obwohl dieses Prozedere sehr ausgefeilt ist, bestehen aus unserer Sicht mehrere Problematiken, die uns veranlasst haben, dieses Verfahren zu modifizieren. Die von Seiler und anderen Autoren vorgestellten, sehr eindrucksvollen Fälle basieren auf einer Planung mittels DVT und anschließend anhand der digitalen Datensätze hergestellten Titannetze. Der erhöhte präoperative Aufwand erspart durch das leichte Einbringen des individuell angepassten Netzes sicherlich intraoperativ Zeit, was eindeutig als Pluspunkt zu vermerken ist.

Im praktischen Alltag, wie auch immer wieder bei Patienten mit Implantationswunsch, besteht aber nicht selten eine Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach einem optimalen Endergebnis und dafür finanziell einzusetzender Mittel. Diese Bereitstellung der aufwendigen Infrastruktur, mit DVT, CAD/CAM-Fräsmaschine inklusive entsprechender Software, muss bezahlt werden und schlägt im Kostenvoranschlag und konsekutiv in der Rechnung dementsprechend zu Buche. Die Kosten dürften auch angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Hinblick auf die Patientenversorgung wieder mehr in den Fokus rücken.

Ein vertikales Knochendefizit ist auch anhand eines OPG mit transversaler Schichttechnik und Gipsmodellanalyse hinreichend beurteilbar. Ob nun dafür ein deutlich strahlenintensiveres Verfahren wie das DVT, auch im Hinblick auf sonstige medizinische Röntgendiagnostik mittels CT, wirklich unbedingt notwendig ist, kann durchaus überdenkenswert sein. Dies leitet zu unserem nächsten Gedanken über. Im Rahmen unserer kieferchirurgischen Tätigkeit im Krankenhaus sind wir mit dem Ankonturieren und Einbringen von Titan-Meshs in der Traumatologie und Defektrekonstruktion vertraut. Intraoral besteht im Gegensatz zur Verwendung im Gesichtsbereich der Erfahrung nach ein größeres Risiko der Exposition eines Transplantats und Osteosynthesematerialien insbesondere im Unterkieferseitenzahnbereich im weiteren postoperativen Verlauf.1 Exponierter körpereigener Knochen kann relativ problemlos abkürettiert werden, wohingegen sich allogenes Material trotz Antibiose chronisch entzünden kann. „Das autologe Transplantat gilt weiterhin als Goldstandard“.5 Von daher haben wir uns in der Praxis bei implantologischen Augmentationen weitgehend von Knochenersatzmaterialien verabschiedet. Bei der Suche nach einem geeigneten Gitternetz war der in der Mund-, Kiefer-und Gesichtschirurgie beigebrachte Grundsatz der absoluten „Frakturruhe“6 der knöchernen Anteile eine wegweisende Richtschnur. Die Anwendung von mehr oder weniger präfabrizierten Titan-Meshs, die intraoperativ eingepasst werden, sind vor dem Einzug der CAD/CAM-Verfahren bereits von Dumbach7, Peuten8 und Warnke9 beschrieben und praktiziert worden. Wir haben uns deshalb für eine Titan-Mesh-Platte (Maschenplatte 1.3, 38 x 45 mm, DePuy, ehemals Synthes) mit einer Dicke von 0,4 mm entschieden, die auf Belastung mit dem Finger nicht nachgibt und damit das Transplantat sicher abschirmt. Angelehnt an das Tentpole-Konzept10 fungiert das Titan-Mesh als „Bone-Box“, die per se osteoinduktiv wirkt und deshalb nicht komplett, sondern locker mit Eigenknochen-Chips unterlegt werden kann. Aus den ca. ein Dutzend Fällen, in denen wir die Vorgehensweise praktiziert haben, soll ein besonders anschaulich und gut dokumentierter Fall präsentiert werden.

Anamnese

Die 34-jährige Patientin stellte sich 2019 mit dem Wunsch einer Implantatversorgung im linken Unterkieferseitenzahnbereich bei uns vor. Bei der klinischen Inspektion einschließlich der Analyse des Gipsmodells (Abb. 1-3) und der radiologischen Befundung (Abb. 4) zeigte sich ein vertikales Knochendefizit von ca. 2 bis 3 mm mit abgeflachtem Vestibulum sowie mesial ein ausgeprägter Narbenzug mit spitz zulaufendem Alveolarkamm in Regio 36. Aufgrund der schwierigen Ausgangssituation war von vornherein ein zweizeitiges Prozedere geplant. Die hier dargestellte Vorgehensweise mit Verzicht auf Knochenersatzmaterial hatten
wir bereits zuvor bei anderen Patienten erfolgreich angewendet, sodass die Patientin sich leichter dazu entschließen konnte. Sowohl die wissenschaftlichen Ergebnisse des Bone-Box- oder Tentpole-Konzeptes10 als auch die eigene klinische Erfahrung mit dieser von uns praktizierten Methode ermutigten dazu, den zu regenerierenden Defekt nicht komplett mit Knochen ausstopfen zu müssen. Stattdessen kann die osteokonduktive Potenz des körpereigenen Knochens sehr vorteilhaft genutzt werden. So reichen bei kleineren Defekten mit dem Bone Scraper gewonnene Knochenspäne in Größe von ein oder zwei Alveolen.

Operatives Vorgehen

Nach Präparation eines ausgedehnten Mukoperiostlappens mit Schnittführung im Vestibulum, um eine ausreichende Dicke der bedeckenden Schleimhaut zu erzielen, wird der
Knochendefekt dargestellt (Abb. 5 und 6). Bei einem so großen Alveolarkammdefizit bedarf es einer Knochenblockentnahme, jedoch nicht in dem Umfang wie bei der Schalentechnik, da hier der Knochenblock in kleine Teile geschnitten wird. Hierfür verwenden wir eine Knochenschneidezange (DX501R, Aesculap®). Knochenmühlen und Mahlzangen haben sich bei uns nicht bewährt, da bei diesen Instrumenten die Schneidplatten und -einsätze schnell stumpf werden, die Ausbeute durch anhaftende Partikel reduziert und die Aufbereitung mühsam ist. Wir benutzen sterilisierte Alufolie, die intraoperativ zurechtgeschnitten wird, als Schablone für das Titan-Mesh mit einer Dicke von 0,4 mm. Allein diese Dicke gewährleistet unseres Erachtens eine ausreichende Rigidität gegenüber Druckbelastungen, sodass das Knochentransplantat frei von Druckatrophie einheilen kann. Mit der Drahtabschneidzange (DP512R, Aesculap®), der Aderer-Drahtbiegezange (DP315R, Aesculap®) und der Universalzange (DP031R, Aesculap®) gelingt das Zuschneiden und Ausformen/Konturieren des Titan-Meshs an den bestehenden Knochendefekt relativ problemlos (Abb. 7). Im Anschluss daran werden die Knochenpartikel durch das mit drei Schrauben (DePuy®, Kortikalisschraube PlusDrive™ Ø 1,5 mm, selbstschneidend, 6 mm Länge) fixierte Titannetz in das künstlich erzeugte Lumen gehäufelt (Abb. 8). Drei und vier Schrauben gewährleisten unserem Eindruck nach am ehesten eine absolute „Ruhe“ der Titan-Mesh-„Überdachung“ und damit des Transplantats wie in Abbildung 9 im postoperativen OPG erkennbar. Zur Sicherstellung der initialen Knochenheilung undlangmöglicher Schleimhautintegrität wird über das Gitternetz eine Membran (Bio-Gide®, Geistlich Biomaterials) geschichtet. Die Naht erfolgt mit 5/0 MAPROLEN® Einzelknopfnähten (Catgut; Abb. 10 und 11). Trotz aller ambitionierter chirurgischer Maßnahmen stellen wir im distalen Unterkieferseitenzahnbereich nach drei bis vier Wochen immer wieder Dehiszenzen mit Exposition des Gitternetzes und einzelnen Knochentransplantatpartikeln fest (Abb. 12). Wir führten dies auf den Wangenzug beim Schluckakt und Rückstellungseffekten der Mukosa trotz Lappenmobilisation und Periostschlitzung zurück. Die deutliche Verbreiterung des Alveolarkamms ist auf dem Gipsmodell, das für die Herstellung einer Verbandsplatte angefertigt wurde, gut zu sehen. Wir sehen bisweilen eine regelrechte „Durchwanderung“ des Netzes durch die Schleimhaut, vor allem bei einem Zeitraum länger als vier Monate (Abb. 13). Aus unserer Sicht stellt in diesem Zusammenhang die Beschränkung auf lediglich körpereigenen Knochen einen eindeutigen Vorteil dar, weil der nicht osseointegrierte Knochen zumeist ohne Wundinfektion abgestoßen wird. Somit ist die Sorge um eine bakterielle Kontamination von Knochenersatzmaterial geringer. Nach vier Monaten wird die Entfernung des Osteosynthesematerials vorgenommen (Abb. 14 und 15). Festzustellen ist dabei fast immer eine bindegewebige Einscheidung des Titannetzes, die zusammen mit Schleimhautperforationen die Entfernung und plastische Deckung erschweren. Deshalb erfolgt die eigentliche Implantation ca. drei bis vier Wochen nach Abheilung. Wegen der Vorteile für die Hygiene der periimplantären Weichgewebe favorisieren wir im weniger einsehbaren Seitenzahnbereich Tissue-Level-Implantate. Eindrücklich sind im Meistermodell (Abb. 16) als auch im Mundfilm (Abb.17) die Verbesserung des Alveolarkamms in transversaler und vertikaler Dimension zu sehen. Der Endbefund intraoral und auf den Röntgenbildern stellte die Patientin zufrieden (Abb. 18–21).

Fazit

Anhand der Fallpräsentation wurde das von uns praktizierte Konzept der Alveolarkamm-Augmentation vorgestellt: Aufbau des Alveolarkamms mit intraoperativ angepasstem Titan-Mesh und Unterfütterung mit Eigenknochen. Folgende Vorteile sehen wir bei diesem Verfahren:

  • Einfachheit durch konventionelle digitale Planung und damit verbunden geringere Strahlenbelastung für die Patienten
  • kostengünstigeres Prozedere im Vergleich zur 3D-Planung und CAD-Herstellung von Meshs und Bohrschablonen
  • Reduktion der Knochenentnahme gegenüber der Schalentechnik durch Beschränkung auf Eigenknochentransplantation und Verminderung des Infektionsrisikos

Die Literaturliste können Sie sich hier herunterladen.

Dieser Artikel ist im IJ Implantologie Journal 1+2/2023 erschienen.

Autor: Dr. Andreas Born

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