Implantologie 10.10.2014
Herausforderungen der Implantatversorgung bei alternden Patienten
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Die Entwicklung der Bevölkerungszahlen mit dem allgegenwärtigen Begriff des demografischen Wandels macht auch vor der zahnärztlichen Versorgung nicht halt. Ökonomischer Wohlstand und die Möglichkeiten der modernen Medizin beeinflussen die Lebenserwartung von Männern und Frauen positiv. Patienten leben heute im Durchschnitt länger bei guter körperlicher und geistiger Gesundheit, Zähne und umgebende Weichgewebe sind von diesem Trend mit eingeschlossen: der längere Erhalt der eigenen Zähne ist die Folge. Wird Zahnersatz nötig, besteht zunehmend der Wunsch nach einer festsitzenden, implantatgestützten Lösung.
Eine abwechslungsreiche Ernährung in Gesellschaft ist wesentlicher Bestandteil einer guten Lebensqualität, die gerade für Patienten im höheren Alter nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Bei Prothesenträgern ist die problemlose Kaufähigkeit nicht selten eingeschränkt; vor allem die Versorgung des zahnlosen Unterkiefers stellt hohe Anforderungen an die prothetische Planung und Umsetzung. In vielen Fällen kann eine implantatgetragene Versorgung die Kaufähigkeit der Betroffenen optimieren.
Die Versorgung von Patienten in höherem Lebensalter mit Implantaten wirft sowohl beim Betroffenen als auch beim Behandler noch viele Fragen auf: Bestehen spezielle altersbedingte Risiken? Ist mit dem gleichen Implantationserfolg zu rechnen wie bei jüngeren Patienten? Lohnt sich der Aufwand noch? Wie ist die Einnahme verschiedener Arzneimittel in der Behandlungsplanung zu berücksichtigen? Im Zuge dieser Übersicht sollen die physiologischen Veränderungen des Knochens im Alterungsprozess und die daraus resultierenden Anforderungen an den Implantologen dargestellt werden. Weiterhin wird dem Einfluss häufig verordneter Medikamente auf den Knochenumbau und die damit verbundene Osseointegration Rechnung getragen.
Physiologische Veränderung
Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes wird bis zum Jahr 2030 der Anteil der über 67-Jährigen um über 40 Prozent ansteigen. In einer Analyse des künftigen Bedarfs für zahnärztliche Behandlung ergibt sich, dass sich der Therapiebedarf entsprechend verändern wird. Ein denkbares Szenario in dieser Analyse ist, dass eine Mehrheit der künftigen Patienten mit einem großen Teil ihrer eigenen Zähne bei guter Gesundheit alt wird. Diese Patienten werden hohe Anforderungen an eine ästhetisch ansprechende konservierende und prothetische Versorgung ohne Abstriche in der Kaufunktion stellen. Es wird eine Verschiebung einerseits zugunsten der parodontologischen Behandlung und andererseits zugunsten des festsitzenden Zahnersatzes stattfinden; die Notwendigkeit für die Anpassung von Totalprothesen wird nach heutigen Daten signifikant zurückgehen und mehr Patienten in höherem Lebensalter betreffen als heutzutage (Brecht et al., 2009). Um den besonderen Anforderungen älterer Patienten an ein sicheres und prognostizierbares chirurgisches Vorgehen gerecht werden zu können, ist es sinnvoll, sich mit den Herausforderungen der physiologischen Alterungsprozesse des Knochens zu befassen. Das Knochengewebe des alternden Patienten ist unter anderem aufgrund von verringerter Belastung und veränderter hormoneller Regulation typischen Anpassungsprozessen im Hinblick auf Struktur und Metabolismus unterworfen. Die Umbauvorgänge betreffen zum einen das knöcherne Hartgewebe und die versorgende Vaskularisation zum anderen.
Knöchernes Hartgewebe
Morphologisch ist der alternde Knochen durch ein vermindertes kortikales Volumen und eine Zunahme der spongiösen Trabekularisierung charakterisiert. Histologisch imponieren typischerweise Osteozyten, die keine sekretorische Funktion mehr aufweisen: biologisch tote Zellen. Nach einer osteozytären Lebenszeit von etwa 35 Jahren obliterieren die Kanälchen um die sekretorisch inaktiven Knochenzellen. Die Folge ist eine zunehmend sklerotische Knochenstruktur, die einer einwirkenden mechanischen Belastung insgesamt weniger (elastischen) Widerstand entgegenzusetzen hat. In endokrinologischen Analysen konnte gezeigt werden, dass sowohl bei Männern als auch bei Frauen mit zunehmendem Alter die Sekretion von Parathormon (PTH) steigt; der steigende PTH-Spiegel hat typischerweise eine verminderte Kalziumresorption aus dem Darm und sinkende Kalzitoninwerte mit konsekutiver Osteopenie oder -malazie zur Folge (Chapuy et al., 1983, Zhang et al., 1999). Da das Skelett das größte Kalziumreservoir des Körpers darstellt, wird die sensible Kalziumhömöostase im Serum in erster Linie über den kurz-, mittel- und langfristigen Knochenmetabolismus stabilisiert. Dies beinhaltet eine Freisetzung von benötigtem Kalzium aus dem Knochen innerhalb weniger Minuten bis hin zu einer dauerhaften negativen Kalziumbilanz mit Atrophie der knöchernen Strukturen, die auch Zähne, Kiefer und Alveolarfortsatz betrifft (Roberts et al., 1992).
Eine häufig beobachtete Veränderung des alternden Organismus ist die Veränderung der Zusammensetzung der Magensäure, die mit einer Erhöhung des pH-Werts einhergeht. Diese pH-Wert-Verschiebung hat einen hemmenden Effekt auf die intestinale Kalziumresorption. Der im höheren Lebensalter häufig zu messende erhöhte pH-Wert der Magensäure führt zu einer weiteren Reduktion der Kalziumresorption. Eine altersbedingte Einschränkung der Nierenfunktion kann weiterhin die Dichte und Regenerationsfähigkeit des Knochengewebes systemisch reduzieren: Grundlage dafür ist die eingeschränkte Mineralisationsfähigkeit des Osteoids durch verminderte renale Kalziumaufnahme. Für diese renale Funktionseinschränkung ist der Einfluss auf den Erfolg dentaler Implantation bereits untersucht: bei Patienten, deren Nierenfunktion gemessen an der Kreatininclearance unter 50 Prozent liegt, ist eine erhöhte Verlustrate nach Implantation beschrieben (Malluche und Faugere, 1990).
Versorgende Vaskularisation
Eine Rarefizierung der Gefäßversorgung, insbesondere nach Zahnverlust, ist ein weiteres typisches Merkmal des alternden Knochens. Diese Verringerung der Perfusion führt einerseits zu einer erhöhten Infektanfälligkeit des Knochens durch eine Einschränkung des Erregerabtransports in Kombination mit einer verminderten Bereitstellung von Abwehrzellen; andererseits entsteht durch das abnehmende Angebot von Sauerstoff und Nährstoffen eine Reduktion der Knochenapposition. Eine übermäßige Denudierung des Knochens mit einer weiteren Unterbrechung der periostalen Blutgefäße ist daher zu vermeiden. Regressive Veränderungen der großen und kleinen Speicheldrüsen mit konsekutivem Speichelmangel und Xerostomie und einer Verschiebung der Speichelqualität hin zu einer mehr muzinösen und viskösen Konsistenz kann negativen Einfluss auf die Widerstandsfähigkeit der Mukosa und letztlich die Wundheilung in der Mundhöhle nehmen (van Steenberghe et al., 2000). Trotz dieser vermeintlich ungünstigen Entwicklung der Knochenphysiologie und -morphologie ist in vergleichenden pro- und retrospektiven Untersuchungen keine systematisch erhöhte Implantatverlustrate bei älteren Patienten beschrieben, sodass das chronologische Alter des Patienten keine Kontraindikation und per se auch keinen Risikofaktor für einen zu erwartenden Implantatverlust darstellt (McDermott et al., 2003, Renvert et al., 2014). Altersbedingte, physiologische Knochenveränderungen umfassen die verminderte Vitamin-D-Synthese, die eingeschränkte Kalziumresorption, erhöhte Parathormon- bei verminderten Kalzitoninspiegeln und eine insgesamt erhöhte Turnover-Rate. Durch Nikotinabusus, wenig körperliche Aktivität, Leber- und Nierenerkrankungen und kalziumarme Ernährung können diese Effekte verstärkt werden. Um die knöcherne Regeneration zu optimieren, kann vor implantologischen Eingriffen eine internistische Abklärung und Behandlung von Magen- und Nierenerkrankungen und bei Bedarf eine perioperative Nahrungsergänzung mit Kalzium und Vitamin D sinnvoll sein.
Abb. 1 und 2: Komplikationslose Implantation von vier interforaminären Implantaten bei einer 74-jährigen Patientin unter langjähriger Steroid- und Betablockermedikation mit fortgeschrittener mandibulärer Atrophie. – Abb. 3: Röntgenbild.
Implantologie unter Polymedikation
Vom Wissenschaftlichen Institut der AOK wurden die Top Ten der meist verschriebenen Medikamente des Jahres 2010 publiziert, die bis zu 20 Millionen Mal pro Jahr verordnet werden: Unter den zehn am häufigsten verordneten Medikamente befinden sich in erster Linie Analgetika, Blutdrucksenker und Protonenpumpenhemmer. Etwa 30 Prozent dieser Arzneimittel werden zusammen mit 40 Prozent der frei verkäuflichen Medikamente von älteren Patienten eingenommen (Piraino, 1995). In Deutschland nimmt ein Großteil der Menschen, die älter als 65 Jahre sind, typischerweise regelmäßig und langfristig drei oder mehr Arzneimittel pro Tag ein. Die im höheren Lebensalter charakteristische Veränderung der Pharmakokinetik und -dynamik erschwert die Vorhersehbarkeit der Arzneimittelwirkung und -nebenwirkung weiter: Bei über 60-Jährigen steigt die Rate der unerwünschten Arzneimittelwirkungen auf das Doppelte; werden mehr als sechs Medikamente parallel eingenommen liegt die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von unerwünschten Wirkungen bei 25 Prozent. Nahezu alle häufig verordneten Arzneimittel sind vor allem an unerwünschten Arzneimittelwirkungen beteiligt, die in erster Linie ältere Patienten betreffen (Grandt et al., 2005). Diese Polymedikation bedarf nicht nur der kritischen und engmaschigen Kontrolle durch die verordnenden Behandler, sondern stellt insbesondere im Zusammenhang mit geplanten operativen Eingriffen einen schwer kalkulierbaren Einfluss- oder Risikofaktor dar (Jainkittivong et al., 2004). Für den Implantologen ist die gründliche Anamnese, bei Bedarf mit Rücksprache mit dem Hausarzt und Internisten unerlässlich; die wichtigsten allgemeinmedizinischen Medikamente, die mit dem Knochenstoffwechsel interagieren können, sind Glukocorticoide, Psychopharmaka und Analgetika.
Corticoide
Corticoide werden häufig verordnet; gängige Indikationsbereiche sind Hautkrankheiten, Rheumatoide Arthritis oder chronische entzündliche Erkrankungen, Crohn, Allergien, Asthma bronchiale. Steroide interagieren mit dem Kalziummetabolismus und bewirken eine reduzierten Kalziumgehalt des Knochens mit osteoporotischer Knochenrarefizierung. Darüber hinaus kann durch eine Interaktion mit der Kollagensynthese die Widerstandsfähigkeit und regenerative Potenz der oralen Schleimhäute nachlassen. In verschiedenen Untersuchungen konnte keine signifikant erhöhte Implantatverlustrate bei Patienten unter Prednisolontherapie in einer Dosierung bis 10 mg pro Tag nachgewiesen werden. Für die Implantation wird eine perioperative antibiotische Abschirmung empfohlen (Neugebauer et al., 2009, Thomason et al., 1999). Unter hochdosierter Steroidtherapie muss das Risiko des operativen Misserfolgs – auch unter dem Aspekt der zugrunde liegenden Grunderkrankung – kritisch gegen den angestrebten Zugewinn an Kaufähigkeit abgewogen werden.
Betablocker
In Hinblick auf kardiovaskuläre Erkrankungen ist die Verordnung von blutdrucksenkenden Medikamenten wie Betablockern oder ACE-Hemmern bereits bei Patienten im mittleren Lebensalter weitverbreitet. In der aktuellen Literatur wird ein positiver Effekt einer Betablockermedikation auf den Knochenstoffwechsel im Sinne eines Resorptionsschutzes diskutiert: In verschiedenen In-vitro- und In-vivo-Ansätzen konntegezeigt werden, dass unter dem Einfluss antiadrenerger Medikation die Differenzierung von Osteoklasten beeinträchtigt und der Knochenanbau gesteigert werden kann. In Untersuchungen am Menschen konnten diese Daten nicht einheitlich unterstrichen werden, insbesondere eine Empfehlung der Einleitung einer antiadrenergen Medikation zur Osteoporose- oder Frakturprophylaxe kann bis dato nicht abgeleitet werden (Graham et al., 2008). Eine vergleichbare Datenlage existiert für Angiotensin-Rezeptor-Antagonisten. Die allgegenwärtige pharmakologische antihypertensive Therapie scheint kein additives Risiko für den Implantaterfolg darzustellen.
Psychopharmaka
Vornehmlich bei älteren Patienten werden im Sinne einer antidepressiven Therapie Psychopharmaka aus der Gruppe der Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer sowie der Monoaminooxidase-(MAO)-Hemmer verordnet. Auch diese Stoffgruppe scheint Einfluss auf den Knochenstoffwechsel zu nehmen. Unter der Gabe von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern ist im Tiermodell eine Reduktion der Knochendichte mit veränderter Knochenarchitektur und mechanischer Stabilität im Sinne eines katabolen Effekts beschrieben. Eine Lithiumgabe, vor allem indiziert bei bipolaren Störungen, führte im Gegenteil reproduzierbar zu einem Knochenanbau, der mit einem positiven Einfluss auf den Wnt/β-Catenin-Signalweg beschrieben wird. Die körperliche Aktivität nahm keinen Einfluss auf diese Effekte (Warden et al., 2009; Richards et al., 2007; Zamani et al., 2009). Klinische Untersuchungen, die gezielt die Osseointegration unter psychopharmakologischer Therapie beleuchten, liegen bis dato nicht vor.
Analgetika
Analgetika werden in allen Altersstufen regelmäßig verschrieben. Die unerwünschten gastrointestinalen und kardiovaskulären Arzneimittelwirkungen dieser zum Teil frei verkäuflichen Medikamente sind bekannt. Nicht steroidale Antiphlogistika wie Ibuprofen, das am häufigsten verordnete Medikament 2010, werden im klinischen Alltag in der postoperativen Phase nach Zahnentfernung oder Frakturversorgung eingesetzt. Die Wirkung wird über die Interaktion mit der Prostaglandinsynthese durch die Hemmung der Cyclooxygenase 2 vermittelt. Die Cyclooxygenase 2 spielt jedoch eine wesentliche Rolle in der initialen Phase der Knochenregeneration beispielsweise nach Fraktur. In Tiermodellen konnte gezeigt werden, dass diese Cox-2 Inhibition, die auch unter Steroideinfluss beobachtet wird, zu einer verzögerten Frakturheilung und verminderten Knochenapposition führt. In Vergleichsgruppen, die mit Paracetamol behandelt wurden, konnten diese Effekte nicht nachvollzogen werden. In retrospektiven klinischen Untersuchungen konnte für Patienten unter kurzfristiger NSAID-Medikation keine signifikant erhöhte Frakturgefahr oder eine signifikant verlängerte Frakturheilungsphase beobachtet werden. Dennoch bleibt die klinische Relevanz dieser weitverbreiteten Medikation unklar; eine Konsequenz könnte sein, bei Patienten mit bereits bestehenden Knochenstoffwechselstörungen, eine alternative postoperative Analgesie nach Implantation zu empfehlen (Vuolteenaho et al., 2008).
Cholesterinsenkende Präparate
Die Therapie mit cholesterinsenkenden Präparaten ist weitverbreitet, die Wirkstoffe zählen zu den umsatzstärksten in der Pharmaindustrie. Für die Statine, Wirkstoffe, die das Cholesterin nach intrazellulär verschieben und so den Cholesterinspiegel senken, sind günstige Effekte auf den Knochenmetabolismus beschrieben. Über die gesteigerte Synthese verschiedener Wachstumsfaktoren unter Statineinfluss soll der Knochenanbau gefördert werden. In implantologischen Untersuchungen am Tiermodell konnte nach lokaler Statinapplikation eine vergrößerte Kontaktfläche zwischen Knochen und Implantat erreicht werden; der vorhandene Knochen zeichnete sich im Vergleich zur Kontrollgruppe durch höhere Dichte aus. Eine dauerhafte, cholesterinsenkende Medikation steht nicht im Verdacht, den Erfolg der Implantatinsertion zu gefährden (Annussek et al., 2012).
Diskussion
Untersuchungen, die gezielt die Auswirkung der mitunter komplexen Polymedikation multimorbider Patienten nachvollziehen, liegen bis dato nicht vor. Diese Studien sind nicht nur vor dem Hintergrund (oral-)chirurgischer Fragestellungen dringend erforderlich, sondern müssen auch internistische Risiken durch unbekannte Wirkstoffinteraktion eliminieren. Grundsätzlich muss bei jedem Patienten jede einzelne zusätzliche Verordnung kritisch hinterfragt, im Bereich der minimalen effektiven Dosis verabreicht und wenn möglich wieder abgesetzt werden.
Zusammenfassung
Das chronologische Alter eines Patienten stellt grundsätzlich keine Einschränkung für die Insertion von Implantaten dar. Bei vorliegenden Veränderungen des Knochenmetabolismus mit einer strukturellen Dichteminderung kann eine weiterführende Diagnostik und Therapie als Vorbereitung einer erfolgreichen Implantation zielführend sein. Die Kenntnis der Medikation des Patienten ist für nahezu jede (zahn-)ärztliche Behandlung unerlässlich; insbesondere die Einnahme von Medikamentenkombinationen, die Einfluss auf den Knochenmetabolismus oder die Blutgerinnung nehmen, macht eine interdisziplinäre Therapieplanung durch ein Team erfahrener internistischer und chirurgischer Behandler erforderlich.
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