Kieferorthopädie 16.08.2023

Gaumennahterweiterung vs. transversale dentoalveoläre Kompensation



Gaumennahterweiterung vs. transversale dentoalveoläre Kompensation

Foto: Poliklinik für Kieferorthopädie, UKM

Ein Beitrag von Dr. med. dent. Jonas Quirin Schmid, Dr. med. dent. Elena Gerberding, Univ.-Prof. Dr. med. dent. Ariane Hohoff, M.Sc. L. O., Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Johannes Kleinheinz, Prof. Dr. med. dent. Thomas Stamm und Dr. med. dent. Claudius Middelberg.

Ein seitlicher Kreuzbiss im Erwachsenenalter stellt Behandelnde häufig vor die Entscheidung, ob eine chirurgisch unterstützte Gaumennahterweiterung zur kieferorthopädischen Korrektur erforderlich ist. Im Folgenden werden die Ergebnisse einer neuen Studie vorgestellt, in der das Ausmaß der dentalen Kippung und die Art der Zahnbewegung bei einem chirurgischen mit einem nicht-chirurgischen Vorgehen verglichen wurde.

Hintergrund

Zu den Behandlungsoptionen für einen posterioren Kreuzbiss bei Erwachsenen gehören in der Regel die chirurgisch unterstützte Gaumennahterweiterung, die Segmentosteotomie, die Miniimplantat-gestützte Gaumennahterweiterung oder die transversale dentoalveoläre Kompensation.

Bis heute besteht kein Konsens über das optimale Vorgehen bei der chirurgischen Gaumennahterweiterung (surgically assisted rapid palatal expansion [SARPE])1–3. Die Invasivität reicht dabei von ausschließlich vestibulären Osteotomielinien4 bis zur vollständigen Trennung der Maxilla vom Gesichtsschädel mit Zerteilung des Oberkiefers in drei Segmente5. Uneinigkeit besteht auch in der Frage, ob zahn- oder knochengetragene Expansionsapparaturen verwendet werden sollen6–8. Mit der SARPE kann im Bereich der ersten Molaren mit durchschnittlichen Expansionswerten von ca. 7 mm gerechnet werden9,10, wobei eigene Untersuchungen zeigen, dass im Einzelfall Expansionswerte bis ca. 15 mm möglich sind11. Eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit zeigt, dass die dentalen Effekte der SARPE etwa doppelt so groß sind wie die skelettalen, weshalb die chirurgische Gaumennahterweiterung primär als ein Verfahren zur Expansion der Molaren und nicht als eines zur rein skelettalen Expansion des Oberkiefers bezeichnet wird10. Die Indikationsstellung zur chirurgisch unterstützten Gaumennahterweiterung bleibt eine subjektive Entscheidung12, da keine Evidenz vorliegt, ab welchem Alter und ab welchem Ausmaß eine SARPE indiziert ist. In der Literatur findet sich häufig die Aussage, dass eine SARPE bei einer transversalen Diskrepanz der Kiefer von mehr als 5 mm indiziert sei, wobei es sich hierbei lediglich um eine Expertenmeinung handelt13,14.

Da die SARPE oft nur den ersten Schritt einer interdisziplinären kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Behandlung darstellt, besteht häufig der Wunsch nach nicht-chirurgischen Alternativen zur Korrektur einer transversalen Diskrepanz. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die transversale dentoalveoläre Kompensation als mögliche Therapieoption bei Erwachsenen mit posteriorem Kreuzbiss. Die Ansicht, dass eine transversale Diskrepanz der Kiefer von bis zu 5 mm dentoalveolär kompensiert werden kann13,14, konnte in klinischen Studien bestätigt werden15,16. Allerdings wurde in diesen wie auch anderen Studien der Kreuzbiss ausschließlich durch verschiedene Arten der Expansion im Oberkiefer korrigiert17, während eine Veränderung der Bogenform im Unterkiefer aufgrund von Bedenken bezüglich der Stabilität18 kaum verbreitet ist. Nur wenige Fallberichte beschreiben die Möglichkeit einer dentoalveolären Kompression im Unterkiefer19,20 oder einer chirurgischen Konstriktion der Mandibula21.Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, die nicht-chirurgische transversale dentoalveoläre Kompensation mittels vollständig individueller lingualer Apparaturen (VILA) mit der chirurgisch unterstützten Gaumennahterweiterung bei Erwachsenen mit posteriorem Kreuzbiss zu vergleichen. In einer ersten Publikation wurde das Ausmaß der Kreuzbisskorrektur bei Erwachsenen verglichen, die entweder chirurgisch mit SARPE und bukkalen Straightwire-Apparaturen oder nicht-chirurgisch mit dentoalveolärer Kompensation mittels VILA und Expansions- sowie Kompressionsbögen behandelt wurden.11 Beide Konzepte führten zu einer vergleichbaren Gesamtkorrektur des Kreuzbisses im Seitenzahnbereich. Die Kreuzbisskorrektur wurde jedoch auf unterschiedliche Weise erreicht. Die Expansion im Oberkiefer war in der chirurgischen Gruppe größer, während die dentoalveoläre Kompensation zu einer größeren Kompression im Unterkiefer führte, da im letzteren Falle die transversale Korrektur aus beiden Kiefern erfolgte.

Bei der dentoalveolären Kompensation eines Kreuzbisses wird häufig ein hohes Risiko für eine reine Kippung der Zähne gesehen. Ziel dieser Studie war es daher, die bukkolinguale Inklinationsänderung und die Art der Zahnbewegung einer nicht-chirurgischen transversalen dentoalveolären Kompensation mittels VILA mit einer chirurgisch unterstützten Gaumennahterweiterung bei Erwachsenen mit posteriorem Kreuzbiss zu vergleichen.

Material und Methoden

Um die Änderung der Inklination und die Art der Zahnbewegung im Rahmen der Kreuzbisskorrektur zu vergleichen, wurden in dieser retrospektiven Kohortenstudie zwei Gruppen gebildet: Die chirurgische Gruppe (SARPE-Gruppe) wurde mit SARPE und bukkalen StraightwireApparaturen therapiert. Die nicht-chirurgische Gruppe (VILA-Gruppe) wurde mit dentoalveolärer Kompensation und WIN-Apparaturen (DW-Lingual Systems GmbH, Bad Essen) behandelt.

Inkludiert wurden erwachsene Patient*innen mit Kreuzbiss an mindestens zwei Zähnen im Seitenzahnbereich. Patient*innen mit Syndromen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten oder multiplen Nichtanlagen wurden exkludiert. Zähne, die in sagittaler Richtung bewegt wurden, um Lücken zu öffnen oder zu schließen, wurden von der Messung ausgeschlossen.

Die SARPE-Gruppe bestand aus Patient*innen, die zwischen 2018 und 2021 in der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Münster operiert wurden. Die Messungen erfolgten an digitalen Modellen vor Beginn der Behandlung (T0, Abbildung 1) und nach der Kreuzbisskorrektur (Abbildung 2) bei der Planung der anschließenden Umstellungsosteotomie (T1, Abbildung 3). Das chirurgische Vorgehen bei SARPE bestand aus einer subtotalen Le-Fort I-Osteotomie mit Durchtrennung der pterygomaxillären Verbindung. Die folgenden Umstellungsosteotomien wurden digital mit dem „University Münster model surgery system for orthognathic surgery“ geplant22,23.

Die VILA-Gruppe bestand aus konsekutiv entbänderten Patient*innen, die zwischen 2019 und 2021 in einer kieferorthopädischen Fachpraxis (Bad Essen, Deutschland) behandelt wurden. Die Messungen wurden an digitalen Modellen vor der Behandlung (T0, Abbildung 4) und nach dem Debonding (T1, Abbildung 5) durchgeführt. Alle Patient*innen dieser Gruppe wurden mit individuellen Bögen behandelt, die mit einem Biegeroboter hergestellt wurden24. Um die erforderliche transversale Korrektur zu erreichen, wurde ein .016″ x .024″ Stahlbogen mit einer Expansion von 1, 2 oder 3 cm im Oberkiefer und einer Kompression von 1 oder 2 cm im Unterkiefer eingesetzt. Die entsprechenden Biegungen wurden im Interbracketabstand von 3-3 hinzugefügt25.

Stereolithografie-Dateien (STL) der Modelle zu den Zeitpunkten T0 und T1 wurden in die Software Meshmixer (Autodesk, Inc., San Rafael, USA) importiert, mit der alle Messungen durchgeführt wurden. Nach sorgfältiger Ausrichtung der Modelle wurde die bukkolinguale Inklination der Seitenzähne gemessen. Nach Andrews26 ist die Inklination definiert als der Winkel zwischen einer Senkrechten zur Okklusionsebene und einer Tangente an den Mittelpunkt der klinischen Krone (FA-Punkt). Zu diesem Zweck wurden zwei Referenzpunkte auf die Bukkalfläche der Eckzähne (C), der zweiten Prämolaren (P2), der ersten Molaren (M1) und der zweiten Molaren (M2) gesetzt (Abbildung 6). Um die Referenzpunkte möglichst reproduzierbar zu platzieren, wurden sie entlang der Längsachse des Zahnes in gleichem Abstand zum FA-Punkt gesetzt. Diese Referenzpunkte wurden durch eine Gerade verbunden. Der Schnittpunkt der Geraden auf beiden Seiten ergibt den Winkel γ, der zum Zeitpunkt T0 und T1 gemessen wurde, um die Inklinationsänderung zu bestimmen (Abbildung 7). Bei Molaren mit Bändern wurde die Inklination über die Okklusalfläche berechnet. Hierzu wurde eine Ebene aus drei Referenzpunkten und der Normalenvektor gebildet (Abbildung 8).

Zusätzlich wurde die gemessene Expansion mit einer theoretischen Expansion verglichen, die bei einer reinen unkontrollierten Kippung aufgetreten wäre, um eine Aussage über die Zahnbewegung treffen zu können. Dazu wurden die in der ersten Publikation11 ermittelten Expansions- und Kompressionswerte mit den Messungen der Inklinationsänderung kombiniert. Um die Frage zu beantworten, ob die transversale Veränderung durch unkontrolliertes Kippen (Rotation um das Widerstandszentrum) oder durch eine körperliche Zahnbewegung (Translation) stattgefunden hat, ist die Kenntnis der Position des Widerstandszentrums (CR) erforderlich. Aus einer Vielzahl von Publikationen27–37 wurde für jede Zahngruppe ein approximierter Abstand zwischen der Höckerspitze und dem CR ermittelt. Waren die gemessenen Expansions- und Kompressionswerte größer als die theoretischen Werte, die bei einer unkontrollierten Kippung aufgetreten wären, so muss eine körperliche Zahnbewegung stattgefunden haben.

Folgende statistische Verfahren kamen zur Anwendung: Um festzustellen, ob es Unterschiede in der Inklinationsänderung zwischen den Gruppen gab, wurde der Mann-Whitney-U-Test verwendet. Ein Wilcoxon-Signed-Rank-Test wurde durchgeführt, um innerhalb der Gruppen Unterschiede zwischen der gemessenen und der theoretischen Expansion zu untersuchen. Das Signifikanzniveau wurde auf α = 5 % festgelegt. Alle statistischen Berechnungen wurden mit der Software SPSS Statistics 29 for Mac (IBM Corp., Armonk, USA) durchgeführt. Der Methodenfehler wurde mithilfe der Dahlberg-Formel38 bestimmt.

Ergebnisse

Die SARPE-Gruppe bestand aus 43 Patient*innen (w/m 19/24; Durchschnittsalter 27,6 ± 9,5 Jahre) und die VILA-Gruppe umfasste 38 Patient*innen (w/m 25/13; Durchschnittsalter 30,4 ± 12,9 Jahre). Nach der Dahlberg-Formel muss für diese Studie ein Messfehler von 2,2° angenommen werden.

Inklinationsänderung

Oberkiefer

Obwohl der Oberkiefer in der VILA-Gruppe ausschließlich dentoalveolär expandiert wurde, betrug die mittlere vorzeichenbereinigte Kippung an den vier Messstellen 6,4–11,6° (Tabelle 1). Die mittleren Absolutwerte der Kippung im Oberkiefer in der SARPE-Gruppe betrugen 6,5–12,2° und waren somit in beiden Gruppen vergleichbar (Tabelle 1). Es gab keinen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen bei P2 (p > 0,05), M1 (p > 0,05) und M2 (p > 0,05) mit Ausnahme der C, die in der SARPE-Gruppe eine signifikant größere Kippung aufwiesen (p < 0,05). Tabelle 1 zeigt ebenfalls die Richtung (bukkal/lingual), in welche die Zähne gekippt wurden. Im Oberkiefer wurde in der SARPE-Gruppe trotz chirurgisch unterstützter GNE eine Palatinalkippung der C um –4,5° beobachtet. In der VILA-Gruppe war die größte Bukkalkippung mit 11,1° bei den P2 zu verzeichnen. Trotz einer mittleren dentoalveolären Expansion von 3,7 mm an den M1 kam es in der VILA-Gruppe dort nur zu einer Bukkalkippung von 2,2°. Die M2 waren in der VILA-Gruppe sogar um –4,9° nach palatinal gekippt. Ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen zeigte sich bei den C (p < 0,05), P2 (p < 0,05) und M2 (p < 0,05), wobei die M2 in der VILA-Gruppe stärker nach palatinal gekippt waren.

Tab. 1: Mittelwerte der transversalen Korrektur11 (+ = Expansion, – = Konstriktion), der Inklinationsänderung (+ = Bukkalkippung, – = Lingualkippung) und der vorzeichenbereinigten Kippung in bei den Gruppen für die Korrektur des Oberkiefers (OK) und des Unterkiefers (UK) im Bereich der Eckzähne (C), zweiten Prämolaren (P2), ersten Molaren (M1) und zweiten Molaren (M2).

Unterkiefer

Obwohl in der VILA-Gruppe eine dentoalveoläre Kompression im Unterkiefer erfolgte, betrug die durchschnittliche absolute Inklinationsänderung hier 8,2–10,7° (Tabelle 1); in der SARPE-Gruppe lagen die mittleren Absolutwerte der Kippung im Unterkiefer bei 6,5–11,7° (Tabelle 1); somit unterschieden sich die beiden Gruppen an allen Messstellen nicht signifikant (p > 0,05). Die Richtung, in der die Kippung im Unterkiefer erfolgte, ist ebenfalls in Tabelle 1 dargestellt. Im Unterkiefer traten in der SARPE Gruppe keine klinisch relevanten Kippungen an den C, P2 und M1 auf, da die Intervention primär den Oberkiefer betraf. Die M2 wurden trotz SARPE durchschnittlich um 7,9° nach bukkal gekippt, was für eine Kreuzbisskorrektur als kontraindiziert angesehen werden muss. In der VILA-Gruppe wurde bei M1 trotz posteriorer Kompression nur eine klinisch zu vernachlässigende Lingualkippung von –0,4° festgestellt. Lediglich die M2 waren in der VILA-Gruppe um –4,9° nach lingual gekippt. Es gab keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen der SARPE- und der VILA-Gruppe bei den C (p > 0,05), P2 (p > 0,05) und M1 (p > 0,05); nur die M2 bildeten eine Ausnahme (p < 0,001).

Art der Zahnbewegung

Für den Fall einer unkontrollierten Kippung ergaben sich für beide Kiefer beider Gruppen unter Berücksichtigung der berechneten Abstände von der Höckerspitze zum CR folgende theoretischen Werte pro 1 mm Expansion bzw. Kompression: C = 3,7°, P2 = 4,2°, M1 = 4,6° und M2 = 5,0°.

Oberkiefer

Die Messungen des Oberkiefers in der SARPE-Gruppe zeigten überwiegend eine Kombination aus Kippung und Translation jeweils zur bukkalen Seite. Die Werte waren jedoch zwischen den Zahngruppen uneinheitlich; so zeigten die C sowohl unverständlich große Konstriktions- als auch große Expansionswerte. Die Bewegungen aller Zahngruppen unterschieden sich in der SARPE-Gruppe signifikant (p < 0,001) von einer reinen unkontrollierten Kippung. Auch in der VILA-Gruppe zeigten die meisten Fälle Zahnbewegungen, die eine Kombination aus Kippung und körperlicher Zahnbewegung waren, was auf eine insgesamt kontrollierte Zahnbewegung hindeutet. Die Werte für die einzelnen Zahngruppen waren bei der VILA-Gruppe insgesamt jedoch gleichmäßiger verteilt, z. B. wurden keine Extremwerte bei den C gefunden. Auch in der VILA-Gruppe unterschieden sich die einzelnen Zahngruppen signifikant (p < 0,001) in ihrer Bewegung von einer unkontrollierten Kippung mit Ausnahme der C (p > 0,05).

Unterkiefer

Im Unterkiefer der SARPE-Gruppe lag überwiegend eine unkontrollierte Kippung vor. Es ist wichtig zu beachten, dass in dieser Gruppe viele Fälle im Bereich der M1 und M2 expandiert wurden, was die Korrektur des Kreuzbisses erschwerte. Die Bewegungen aller Zahngruppen unterschieden sich nicht signifikant von einer unkontrollierten Kippung (p > 0,05). Im Unterkiefer der VILA-Gruppe zeigte sich dagegen eine überwiegend körperliche Zahnbewegung nach lingual mit teilweise ausgeprägtem lingualen Wurzeltorque, was auf eine eher kontrollierte Zahnbewegung hindeutet. P2, M1 und M2 unterschieden sich dabei signifikant (p < 0,001) von einer unkontrollierten Kippung.

Diskussion

In der vorliegenden Studie wurde die Inklinationsänderung der Seitenzähne bei chirurgischer und nicht-chirurgischer Kreuzbisskorrektur untersucht. In einer ersten Publikation mit identischen Patient*innen29 konnte gezeigt werden, dass mit dentoalveolärer Kompensation und SARPE eine vergleichbare Gesamtkorrektur des Kreuzbisses erreicht werden kann. Es stellte sich nun die Frage, ob die Korrektur nur durch eine unkontrollierte Kippung der Zähne oder auch durch Translation erfolgt.

Da das Risiko von Nebenwirkungen bei Lingual- oder Bukkalkippung als ähnlich anzusehen ist, wurden vorzeichenbereinigte Werte der Inklinationsänderung berechnet. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigten vergleichbare Absolutwerte der Kippung (bukkal oder lingual) für beide Behandlungsmodalitäten. Es gab keinen statistisch signifikanten Unterschied in der absoluten bukkolingualen Inklinationsänderung zwischen den beiden Gruppen, außer bei den oberen C, die in der SARPE-Gruppe sogar stärker als in der VILA-Gruppe gekippt waren.

Im Oberkiefer der VILA-Gruppe war die Bukkalkippung bei C und P2 größer, während sie – trotz signifikanter dentoalveolärer Expansion – bei M1 vergleichbar war und bei M2 ein kontrollierter Wurzeltorque auftrat. Im Unterkiefer gab es mit Ausnahme der M2 keinen statistisch signifikanten Unterschied in der Lingualkippung zwischen den Gruppen. In der SARPEGruppe waren die unteren M2 sogar nach bukkal gekippt. Körperliche Zahnbewegungen, die nicht allein durch eine unkontrollierte Kippung erklärt werden können, konnten bei SARPE im Oberkiefer und bei dentoalveolärer Kompensation mittels VILA in beiden Kiefern mit Ausnahme der oberen und unteren C beobachtet werden.

Es muss betont werden, dass in beiden Gruppen klinisch signifikante Kippungen auftraten und dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen gab, außer bei den oberen C, die in der SARPE-Gruppe stärker nach lingual gekippt waren. Eine mögliche Erklärung wäre, dass ein gewisses Maß an Zahnkippung auch bei SARPE unvermeidbar ist und dass die Kippung bei einer dentoalveolären Kompensation geringer war als erwartet, da der untere Zahnbogen in die Korrektur des Kreuzbisses einbezogen und somit die Korrektur des Kreuzbisses im Gegensatz zur SARPE-Gruppe in der VILA-Gruppe auf alle vier Quadranten verteilt wurde. Handelman et al. zeigten, dass eine nicht-chirurgische schnelle Gaumennahterweiterung bei Erwachsenen zu Expansionswerten von ca. 5 mm und einer Bukkalkippung von ca. 6° an den M1 führte15. Die Tatsache, dass die Werte der VILA-Gruppe in unserer Studie mit 2,2° Bukkalkippung am oberen M1 geringer ausfielen, könnte dadurch erklärt werden, dass mehr Translation stattfand und die Korrektur auf alle vier Quadranten verteilt wurde. Außerdem wurde die Expansion langsam durchgeführt, was später auch von Handelman39 empfohlen wurde.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass eine gewisse Bukkalkippung der oberen M1 auch bei SARPE auftritt. Bei einer Expansion von ca. 7 mm ist mit einer Bukkalkippung von ca. 2–4° im Bereich der M1 zu rechnen3,40. Die vorliegenden Ergebnisse zeigten bei der SARPE-Gruppe eine geringere Bukkalkippung von 0,3° im Bereich der oberen M1, die innerhalb des Messfehlers lag und auf eine körperliche Expansion der knöchernen Segmente im Oberkiefer hinweist. Auffällig ist auch, dass die C im Oberkiefer mit SARPE deutlich nach palatinal gekippt wurden. Eine mögliche Erklärung ist, dass es bei der SARPE zu einer großen Expansion im Frontzahnbereich41,42 mit Entstehung eines Diastemas kommt und die Palatinalkippung der C als Nebenwirkung des Lückenschlusses auftritt. Darüber hinaus wurde in der SARPE-Gruppe eine klinisch signifikante Bukkalkippung an den unteren M2 beobachtet. Bukkalkippung und Expansion im Unterkiefer erschweren die Kreuzbisskorrektur und sind daher als kontraindiziert anzusehen, zumal sie eine noch größere Expansion im Oberkiefer erforderlich machen. Eine mögliche Erklärung hierfür wäre die Abhängigkeit von der Bogenform, die bei der Straightwire-Apparatur verwendet wurde: Es hat sich gezeigt, dass konfektionierte Bögen im Eckzahn- und Molarenbereich häufig zu breit sind43,44; die Kippungswerte im Unterkiefer könnten durch einen unvermeidbaren, herstellungsbedingten Torqueverlust der Brackets erklärt werden45. Gegebenenfalls könnten diese unerwünschten Zahnbewegungen durch weitere Apparaturen, z. B. einen Lingualbogen, reduziert werden.

Der wichtigste Aspekt des nichtchirurgischen Ansatzes ist die Einbeziehung des unteren Zahnbogens in die Kreuzbisskorrektur (Abbildung 9). Eine Veränderung der Bogenform im Unterkiefer ist aufgrund von Bedenken bezüglich der Stabilität nicht weit verbreitet18. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Rezidivneigung umso größer ist, je mehr die Bogenform während der Behandlung verändert wird18,46, was dafür spricht, den Kreuzbiss nicht nur in einem Kiefer zu korrigieren, sondern die Korrektur auf alle vier Quadranten zu verteilen. Die Korrektur des Kreuzbisses in beiden Kiefern ist jedoch kein neues Konzept. Bereits in der Vergangenheit wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Korrektur einer transversalen maxillo-mandibulären Diskrepanz allein durch eine Expansion im Oberkiefer ein hohes Misserfolgsrisiko birgt, wenn der untere Zahnbogen zu breit ist, weshalb die Behandlung beide Zahnbögen umfassen sollte47,48. Eine Kompression im Unterkiefer ist nicht üblich und wissenschaftlich noch nicht untersucht, würde aber der natürlichen Tendenz des Unterkiefers entsprechen, ohne Retention mit zunehmendem Alter ohnehin etwas schmaler zu werden49. Ein Kreuzbiss ist nicht immer auf einen zu schmalen Oberkiefer zurückzuführen, sondern häufig auch auf einen zu breiten Unterkiefer. In diesen Fällen scheint eine Manipulation des unteren Zahnbogens vertretbar.

Es muss betont werden, dass die Stabilität der dentoalveolären transversalen Kompensation in weiteren Studien untersucht werden muss.

Eine wichtige Schlussfolgerung der vorliegenden Studie ist, dass körperliche Zahnbewegungen in transversaler Richtung mit dentoalveolärer Kompensation möglich sind, was häufig bezweifelt wird. Eine unkontrollierte Kippung in bukkolingualer Richtung (Rotation um das CR) wird als eine unkontrollierte Zahnbewegung angesehen und scheint mit dem Risiko einer inadäquaten Zahnstellung und mangelhaften Okklusion sowie dem Auftreten von Dehiszenzen verbunden zu sein50. Die unkontrollierte Kippung führt zu Kraftspitzen im koronalen und apikalen Drittel der Wurzel51 und kann einen Verlust von Alveolarknochen zur Folge haben52. Theoretisch könnte die Verteilung der Kraft über die gesamte Wurzeloberfläche, wie bei der Translation der Wurzel in Richtung Kortikalis, die Nebenwirkungen von Zahnbewegungen in der Transversalen verringern53. Capps und Mitarbeiter zeigten, dass eine bukkale Knochenapposition bei Translation nach bukkal möglich ist, wenn ein geeignetes Kraftsystem verwendet wird53. In diesem Fall scheint nicht nur Spongiosa, sondern auch kortikaler Knochen neu gebildet worden zu sein53. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie unterstützen die Theorie, dass eine Knochenneubildung durch eine Zahnbewegung in der Transversalen möglich ist. Andernfalls wäre eine signifikante Translation mit Maximalwerten von 5–7 mm in der VILA-Gruppe nicht möglich gewesen.

Die vorliegende Untersuchung weist jedoch einige Limitationen auf, die bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen. Aufgrund des retrospektiven Designs der Studie wurden die Patient*innen der SARPE-Gruppe von verschiedenen Kieferorthopäd*innen behandelt. Es ist daher davon auszugehen, dass unterschiedliche Bogenformen verwendet wurden, die das Ergebnis der transversalen Korrektur beeinflussen können. Darüber hinaus wurde die Entscheidung, ob zahn- oder knochengetragene Apparaturen verwendet werden, individuell getroffen, was zur Heterogenität der SARPE-Gruppe beiträgt. Ein weiterer Einfluss ist die selektive Positionierung der knochengetragenen Distraktoren durch den Operateur42, die das Expansionsmuster beeinflussen kann. Auch die Trennung der pterygomaxillären Verbindung54,55, die in der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Münster Standard ist, erschwert den Vergleich der Ergebnisse mit anderen Studien, in denen diese Trennung nicht vorgenommen6, oder eine vollständige Le-Fort IOsteotomie mit Segmentierung des Oberkiefers verwendet wurde5, was zu einem anderen Expansionsmuster führen kann. Die Trennung scheint jedoch wichtig zu sein, um Komplikationen an der Schädelbasis zu vermeiden56.

In der VILA-Gruppe wurde im Gegensatz zur SARPE-Gruppe das Ausmaß der zusätzlichen Expansion bzw. Kompression individuell festgelegt, was als weitere Einschränkung dieser Untersuchung angesehen werden muss.

Das Design dieser Studie erlaubt keine Aussagen über die Stabilität oder andere Nebenwirkungen beider Behandlungsprotokolle; hierzu sind weitere Studien erforderlich.

Die Stärke dieser Studie liegt in der hohen Anzahl der eingeschlossenen Patient*innen, die mit einer dentoalveolären Kompensation mittels VILA behandelt wurden. Eine weitere Stärke besteht in der dreidimensionalen Messmethode, die Informationen über die Inklination liefert, die sonst nur durch radiologische Techniken gewonnen werden können. Letztere wären bei kieferorthopädischen Patient*innen aus medizinischen und ethischen Gründen nicht vertretbar.

Schlussfolgerung

Die chirurgisch unterstützte Gaumennahterweiterung und die transversale dentoalveoläre Kompensation mittels VILA ergaben vergleichbare Absolutwerte der Kippung. Körperliche Zahnbewegungen, die nicht durch eine unkontrollierte Kippung erklärt werden können, wurden mit SARPE im Oberkiefer und mit VILA in beiden Kiefern beobachtet.

Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.

Dieser Artikel ist unter dem Originaltitel: „Chirurgische Gaumennahterweiterung versus transversale dentoalveoläre Kompensation- Kippung oder körperliche Zahnbewegung?“ in den KN Kieferorthopädie Nachrichten 07/2023 erschienen.

Mehr Fachartikel aus Kieferorthopädie

ePaper