Kieferorthopädie 08.03.2023
Umsetzung eines Gesamtkonzeptes einer interdisziplinären Rehabilitation
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Originaltitel: "Interdisziplinäre Rehabilitation"
Die Umsetzung eines chirurgisch-kieferorthopädisch-prothetischen Gesamtkonzeptes. Ein Beitrag von Karsten Junghanns in Zusammenarbeit mit Dr. Heiko Goldbecher und apl. Prof. Dr. Arne F. Boeckler.
Im Erwachsenenalter stellen komplexe Zahn- und Kieferfehlstellungen, die in Kombination mit funktionellen Störungen und multiplem Zahnverlust auftreten, eine Herausforderung für eine umfassende Rehabilitation dar.
Oftmals besteht der Wunsch, die noch vorhandenen Zähne zu erhalten und ein Konzept für eine festsitzende prothetische Versorgung zu entwickeln. Durch Umbauvorgänge nach Zahnverlust und dem Einbruch der Stützzone kommt es nicht nur zum Knochenverlust des Alveolarfortsatzes, sondern es kann auch zu funktionellen Störungen, wie etwa Kiefergelenkbeschwerden, biomechanischer Überlastung der Restbezahnung und Zahnbewegungen, kommen. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, ist oftmals eine enge Abstimmung zwischen Hauszahnarzt, Kieferorthopädie und Oralchirurgie bzw. Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie für das geplante Behandlungskonzept notwendig.
Fallvorstellung
Die 54-jährige Patientin stellte sich erstmals im August 2013 in unserer Praxis mit dem Wunsch einer kieferorthopädischen Beratung vor. Die Untersuchung ergab als wesentliche Befunde ein teilweise prothetisch versorgtes Lückengebiss mit Verlust der Stützzonen, eine sagittale Schneidekantenstufe von ca. 10 mm mit Distalbisslage des Unterkiefers um ca. eine Prämolarenbreite, ein viszerales Schluckmuster, einen Tiefbiss ohne Gingivakontakt mit Elongation der Unterkieferfront, einen inkompetenten Mundschluss und eine erhöhte Aktivität des M. mentalis (Abb. 5a–c und 7a–c). Außerdem lag eine chronische Parodontitis vor, es war zu einem Knochenrückgang des Kieferkamms infolge der Zahnextraktionen gekommen und die Patientin berichtete von Kiefergelenkbeschwerden.
Mit der Patientin wurden ausführlich die möglichen Behandlungsoptionen besprochen, insbesondere dass für die Rehabilitation eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und Planung unter Einbeziehung einer chirurgischen und prothetischen Behandlung notwendig ist.
Nach Abstimmung mit der Patientin wurde geplant, zunächst kieferorthopädisch die Zahnbögen mit einer Multibracketapparatur auszuformen und für eine Umstellungsosteotomie vorzubereiten. Nach Durchführung einer bimaxillären Umstellungsosteotomie sollte das Ergebnis gesichert werden und die Feineinstellung der Okklusion erfolgen. Im Anschluss war ein Knochenaufbau für die Herstellung eines ausreichenden Knochenlagers zur Insertion von Implantaten geplant, um abschließend eine suffiziente festsitzende prothetische Versorgung durchführen zu können. Eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung für die geplante kieferorthopädisch-chirurgische Behandlung wurde aufgrund von negativen Bescheiden des Gutachters und Obergutachters abgelehnt.
Behandlung
Kieferorthopädische Vorbehandlung
Die Patientin entschied sich dennoch für die Umsetzung des kieferorthopädisch-chirurgisch kombinierten Behandlungsplanes auf Selbstzahlerbasis. Im Juli 2014 begann die Behandlung mit einer Multibracket-/Multibandbehandlung in Lingualtechnik (Abb. 1). Aufgrund des guten Verlaufs der Vorbehandlung konnte nach der Ausformung der Zahnbögen auf die ursprünglich geplante bimaxilläre Umstellung verzichtet werden. Stattdessen wurde geplant, nur den Unterkiefer operativ vorzuverlagern.
Umstellungsosteotomie
Durch die anteriore Restbezahnung mit fehlender Abstützung im Seitenzahngebiet war eine sichere intraorale Lagezuordnung bei der Umstellungsosteotomie erschwert. Um die exakte Zuordnung der OP-Splinte zu gewährleisten, wurden im November 2015 je zwei Pins distal der Oberkieferrestbezahnung inseriert (Abb. 2). Im Dezember 2015 erfolgte unter Intubationsnarkose eine Osteotomie und Vorverlagerung des Unterkiefers. Zur Rezidivprophylaxe wurde der Unterkiefer in eine Kopfbisslage eingestellt (Abb. 3). Für die Sicherung des OP-Ergebnisses wurden Gummizüge gespannt. Anderthalb Wochen nach der OP wurden die Pins und der Splint entfernt. Die Kosten der Umstellungsosteotomie wurden von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen.
Postoperative Behandlung
Um nach der Vorverlagerung des Unterkiefers eine möglichst rasche und stabile Anpassung der Muskulatur bzw. Weichgewebe an die neue Bisslage mit veränderten Bewegungsmustern zu erreichen und das Kiefergelenk zu entlasten, wurde eine modifizierte Platte eingesetzt. Dafür wurde die vorhandene Klammerprothese im Sinne einer Oberkieferplatte mit Vorbiss umgearbeitet. Perioperativ wurden eine manuelle Therapie und eine Lymphdrainage durchgeführt.Im Rahmen der Stabilisierung und Feineinstellung eines physiologischen Überbisses wurde in den nachfolgenden Monaten ein Strippen der Unterkieferfront sowie ein Einschleifen der vorhandenen Oberkieferkronen durchgeführt. Im März 2019 konnte schließlich im Unterkiefer die Multibracketapparatur entfernt und die Situation mit einem Retainer gesichert werden.
Knochenaufbau, Implantation und prothetische Versorgung
Im nächsten Schritt wurde die prothetische Versorgung beider Kiefer eingeleitet. Durch den Hauszahnarzt wurde die begleitende parodontologische und konservierende Therapie umgesetzt. Um im atrophierten Kiefer eine implantatgetragene prothetische Versorgung realisieren zu können, wurde ebenfalls durch den Hauzahnarzt ein Knochenaufbau durchgeführt. Nach einer mehrmonatigen Einheilphase wurden im November 2020 die Implantate (insgesamt fünf im Oberkiefer, zwei im Unterkiefer) inseriert (Abb. 4). Für ein optimales Weichgewebsmanagement kam im Unterkiefer ein Bindegewebstransplantat zum Einsatz. Die Platten wurden auf Wunsch der Patientin belassen. Anschließend erfolgte die prothetische Versorgung mit festsitzendem Zahnersatz im Ober- und Unterkiefer (Abb. 7d–f).
Fazit
Durch die interdisziplinäre Umsetzung eines chirurgisch-kieferorthopädisch-prothetischen Gesamtkonzeptes konnte eine umfassende Rehabilitation der Patientin gelingen. Nach Abschluss der Behandlung ist ein zwangloser Mundschluss möglich (Abb. 5d–f). Außerdem ist durch die Reduktion der sagittalen Schneidekantenstufe mit Einstellung eines physiologischen Überbisses (Abb. 7d–f) und der Eingliederung eines Zahnersatzes eine suffiziente Abbeiß- und Kaufunktion wiederhergestellt. Zusätzlich wird das gesamten Kauorgan, inklusive der Weichgewebe, durch eine achsengerechte Kraftverteilung beim Kauen und dem Vermeiden von muskulären Parafunktionen biomechanisch entlastet. Die Patientin ist mit der erreichten funktionellen und ästhetischen Situation zufrieden. Die Bilder aus dem November 2022 zeigen die stabile Situation sieben Jahre nach der Umstellungsosteotomie (Abb. 5d–f und 7d–f).
Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.