Kieferorthopädie 04.03.2025

Zahnerhalt durch Kieferorthopädie – Therapie eines ausgeprägten Deckbisses



Zahnerhalt durch Kieferorthopädie – Therapie eines ausgeprägten Deckbisses

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Fallvorstellung

Der 36-jährige Patient stellte sich erstmals im Jahr 2017 mit dem Wunsch einer kieferorthopädischen Beratung vor. Es zeigte sich ein ausgeprägter schmaler Deckbiss mit Einbiss der elongierten Unterkieferfrontzähne in die palatinale Schleimhaut des Oberkiefers sowie eine Verletzung und Rezessionsbildung der vestibulären Ginigva bzw. des Parodonts der Unterkieferfrontzähne durch die retrudierten Oberkieferfrontzähne. Außerdem lagen ein Engstand bei Distalbisslage um eine Prämolarenbreite und eine bukkale Nonokklusion der Zähne 14 und 24 sowie diverse Dreh- und Kippstände vor (Abb. 1a–d, Abb. 8a–c). Ferner ließ sich eine ausgeprägte Supramentalfalte (Abb. 1e–f, Abb. 6) und ein stark erhöhter Muskeltonus des M. mentalis und M. orbicularis oris feststellen. Mit dem Patienten wurden die möglichen Therapieoptionen besprochen. Der Patient wurde aufgeklärt, dass ein kieferorthopädisch-kieferchirurgisch kombiniertes Konzept notwendig wird, da eine dentale und myofunktionelle Kompensation für ein optimales Ergebnis voraussichtlich nicht ausreichend sein wird. Nach Begutachtung durch einen MKG-Chirurgen und der Empfehlung zu einer Umstellungsosteotomie nach Vorausformung der Zahnbögen, entschied sich der Patient für eine Behandlung.

Behandlungsablauf

Vorbehandlung

Aufgrund des Tiefbisses und der ausgeprägten Elongation der Unterkieferfront wurde im Unterkiefer mit der Ausformung des Zahnbogens in Lingualtechnik begonnen. So konnte einerseits eine Kraftapplikation nahe des Wiederstandszentrums der Zähne erfolgen; andererseits hätte für Brackets in Vestibulärtechnik, zur Vermeidung eines Vorkontaktes auf dem Bracket, mit frontalen oder seitlichen Aufbissen gearbeitet werden müssen. Gleichzeitig konnte durch den anfänglichen Verzicht von Aufbissen, insbesondere von frontalen Aufbissen, eine zusätzliche Belastung der parodontal bereits geschädigten Frontzähne vermieden werden. Ebenso wurden die mit dieser Bisshebung verbundenen Nebenwirkungen der Okklusionsstörung umgangen.Nach einer Vorausformung der Unterkieferfront bei 34 bis 44 für ca. ein dreiviertel Jahr wurde im Oberkiefer eine Multibracketapparatur in Vestibulärtechnik von 16 bis 26 eingegliedert. Ein weiteres halbes Jahr später war bereits eine deutliche Aufrichtung der Frontzähne sowie eine deutliche Reduktion der vestibulären Rezession im Unterkiefer sichtbar (Abb. 2).

Etwa zwei Jahre nach Behandlungsbeginn wurde die festsitzende Apparatur im Unterkiefer auf die Prämolaren und den ersten Molar ausgedehnt. Der Bogen wurde dazu in der Front durch die Lingualbrackets geführt und in den Okklusalflächen der Seitenzähne mit Komposit fixiert (Abb. 3). Um eine weitere Bisshebung zu erreichen und die Überstellung der Bukkalokklusion von 14 und 24 zu unterstützen, wurden drei Monate später frontale Aufbisse an 11 und 21 adhäsiv befestigt. Kurz darauf wurde palatinal von 14 und 16 sowie vestibulär von 36 und 46 Knöpfchen geklebt. Dadurch war das Spannen von Klasse II-Gummizügen möglich und mit einer eingegliederten elastischen Kette 14 bis 16 konnte die Derotation von 14 forciert werden. Die Gummizüge sollten vom Patienten abends und nachts getragen werden. Die Abbildung 4 zeigt die Situation ca. zweieinhalb Jahre nach Behandlungsbeginn. Innerhalb des nächsten Jahres wurden die frontalen Aufbisse wiederholt erhöht, um eine weitere Bisshebung und Mesialisierung des Unterkiefers zu erreichen. Circa dreieinhalb Jahre nach Behandlungsbeginn war eine weitgehende Ausformung der Zahnbögen, eine deutliche Bisshebung, eine Reduktion der sagittalen Stufe sowie eine Überstellung der bukkalen Nonokklusion erreicht (Abb. 5).

Neubestimmung des Behandlungsziels

Der Patient war mit dem bisher erreichten Ergebnis im Wesentlichen zufrieden und lehnte eine weitere Bisshebung und Ausgleich der skelettalen Distalbisslage durch die ursprünglich geplante Umstellungsosteotomie ab. Aus diesem Grund wurde das Behandlungsziel neu bestimmt. Es sollten nun im weiteren Verlauf ohne OP die Ausformung der Zahnbögen abgeschlossen werden und mithilfe frontaler Aufbisse sowie kombinierter festsitzend-herausnehmbarer Retentionsgeräte eine weitere Bisshebung erzielt und stabilisiert werden.

Nach einer weiteren halbjährigen Feineinstellung konnte die Multibracketapparatur im Unterkiefer entfernt und ein Retainer von 33 bis 43 eingegliedert werden. Die Entfernung der Multibracketapparatur im Oberkiefer und der frontalen Aufbisse folgte ein Jahr später. Zur Stabilisierung des Ergebnisses wurde im Oberkiefer eine Platte mit Vorbiss eingesetzt sowie in der Oberkieferfront ein Retainer adhäsiv befestigt (Abb. 7).

Für die Behandlung im Rahmen der kassenzahnärztlichen Versorgung kommt die Neubestimmung des Behandlungszieles einem Behandlungsabbruch gleich. Aufgrund der versicherungstechnischen Grenze, welche mit dem Gesundheitsstrukturgesetz 1993 in Kraft trat, wurde die Erwachsenenkieferorthopädie auf kombinierte kieferchirurgisch-kieferorthopädische Behandlungskonzepte im Rahmen der GKV (gesetzlichen Krankenversicherung) beschränkt. Dadurch sind Kosten für die Erwachsenenbehandlung nur noch in Ausnahmefällen von der GKV zu tragen. Entfällt aufgrund der individuellen Reaktionslage die Notwendigkeit bzw. der zu erwartende patientenindividuelle Mehrwert einer OP oder nimmt der Patient, wie in diesem Fall, Abstand von der ursprünglich geplanten OP, so fällt die Gesamtbehandlung aus der Leistungspflicht der GKV und der angefallene Eigenanteil der kieferorthopädischen Behandlung wird nicht zurückerstattet, obwohl die GKV die Mehrkosten einer OP und die Kosten des Eigenanteils im Rahmen der Kombinationsbehandlung komplett übernommen hätte.

Fazit

Durch die kieferorthopädische Behandlung konnte innerhalb von fünf Jahren eine Ausformung der Zahnbögen mit deutlicher Reduktion der Speekurve und Überstellung der bukkalen Nonokklusion erreicht werden. Durch die erfolgreiche Bisshebung und Vorverlagerung des Unterkiefers mit Etablierung neuer myofunktioneller Muster konnte eine stabile Neutralbisslage realisiert werden. Insbesondere konnte so der zu erwartende progrediente Verlauf einer weiteren Schädigung des Parodonts der Frontzähne verhindert werden und sogar eine Reduktion der Rezessionen an den Ober- und Unterkieferfrontzähnen um mehrere Millimeter erzielt werden. Besonders deutlich wird dies an den Modellfotos (Abb. 8+9), welche die Situation vor und nach der Behandlung mit einer Ansicht von intraoral posterior-anterior zeigen. Mit Pfeilen sind die Einbisse der Unterkieferzähne in die palatinale Schleimhaut markiert – diese liegen teilweise mehrere Millimeter apikal der marginalen Gingiva. Nach Abschluss der Behandlung ist durch eine enorme Bisshebung eine dentale Abstützung der Frontzähne erreicht, und damit nicht nur eine Traumatisierung der Gingiva bzw. des Parodonts beseitigt (siehe auch Abflachung der Papilla inzisiva und veränderte Gaumenfalten), sondern überhaupt erst die Möglichkeit für eine Reduktion der Rezessionen geschaffen worden (vgl. auch Intraoralaufnahmen Abb. 1d+7c–d und FRS Abb. 6). Mit dem erzielten funktionellen und ästhetischen Ergebnis ist der Patient zufrieden und es konnte letztendlich, auch aufgrund der guten Mitarbeit des Patienten, auf eine Umstellungsosteotomie verzichtet werden.

Dieser Artikel ist unter dem Titel „Zahnerhalt durch Kieferorthopädie – Therapie eines ausgeprägten Deckbisses mit traumatischer Okklusion“ in der KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

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