Kieferorthopädie 07.11.2024
Parodontitis: Kombiniert kieferorthopädisch-prothetische Therapie
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Dank guter Prophylaxe und konservierender Zahnheilkunde haben viele Erwachsene bis ins hohe Alter eine nahezu komplette Dentition. Dies hat zu einem demografischen Wandel in der kieferorthopädischen Praxis geführt.1 Korrekturen tertiärer Engstände, präprothetische Kieferorthopädie und Behandlungen im parodontal reduzierten Gebiss sind heute klinische Routine. Für die Praxis steigt jedoch der Bedarf an interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Kieferorthopäden, Parodontologen, Implantologen und Prothetikern.
Gerade die Digitalisierung verschiedener klinischer Prozesse bietet eine Chance, die Zusammenarbeit räumlich getrennter Praxen zu erleichtern. Eine direkte Visualisierung der klinischen Situation hilft im Hinblick auf (interdisziplinäre) Kommunikation und Patientenaufklärung und macht für den Patienten schwierige Sachverhalte weniger abstrakt. So ergeben sich vielfach neue Möglichkeiten in der Patientenversorgung und die Bereitschaft des Patienten zu einer nachhaltigeren, wenn auch komplexeren, Behandlung steigt. Der dargestellte Fallbericht illustriert eine interdisziplinäre Behandlung bei einem parodontal vorgeschädigten Patienten, der ohne kieferorthopädische Vorbehandlung ein sehr invasives Extraktionskonzept für eine prothetische Versorgung erfahren hätte.
Im kieferorthopädischen Eingangsbefund präsentierte sich ein prothetisch unvollständiges Gebiss ohne gesicherte Okklusion und mit Stadium IV-Parodontitis. Die Zähne 12-21 hatten eine unsichere Prognose. Es lagen ein reduziertes Attachment und ein ausgeprägter Engstand mit erschwerter Reinigungsfähigkeit vor. Die Zähne waren elongiert und hatten frontale Vorkontakte, welche Jiggling-Bewegungen auslösten. Zahn 15 stand in einem Kreuzbiss. Im Unterkiefer präsentierte sich ein frontaler Engstand, wobei Zahn 42 nicht zu erhalten war. Distal von Zahn 45 bestand bereits längere Zeit eine Freiendsituation. Zahn 36 war bereits hemiseziert und Zahn 33 extrahiert (Abb. 1a–2e).
Für den Patienten war der Erhalt möglichst vieler Zähne von großer Bedeutung und eine chirurgische Korrektur der Transversale wurde vonseiten des Patienten abgelehnt. Anhand eines virtuellen Set-ups (Visual Treatment Objective V.T.O.2–4) wurden Platzbilanzen gemessen, Zahnbewegungen simuliert, präprothetische Lückenverteilungen geplant und konsiliarisch erörtert (Abb. 3a–h). Auf dieser Basis wurde folgendes Konzept abgeleitet:
- Oberkiefer: Retrusion des Zahns 13 und Auflösen des frontalen Engstands in den entstandenen Raum unter Erhalt der Zähne 12-22; Derotation und Intrusion des Zahns 11; permanente Retention der OK-Front.
- Unterkiefer: Extraktion des Zahns 42; Ausformen der UK-Front; Ersatz des Zahns 33 durch eine Klebebrücke; Erhalt des hemisezierten Zahns 36; implantatprothetische Versorgung Regio 46/47; permanente Retention der UK-Front.
- Bisslage: Belassen des prothetisch eingestellten Kreuzbisses Regio 15; Beseitigung des traumatischen Vorkontakts bei Zahn 11; prothetische Stabilisierung der Vertikale bei Zahn 16/17.
Bei der kieferorthopädischen Behandlung eines parodontal vorgeschädigten Patienten hat es sich als vorteilhaft erwiesen, die Maßnahmen so lange wie möglich nur lokal und segmentiert zu halten, um die Mundhygiene nicht zu erschweren.5, 6 Ferner war das Ziel, in dem vorliegenden Behandlungsfall die existierende Prothetik zu schonen und möglichst keine festsitzenden Apparaturen auf den Keramikrestaurationen zu befestigen. Daher erfolgte die Verankerung des Transpalatinalbogens bei Zahn 26 über eine modifizierte Adamsklammer. In Abbildung 4a sind die initialen kieferorthopädischen Maßnahmen dargestellt. Abbildung 4b illustriert eine deutliche Entspannung des Engstands nach der Extraktion des Zahns 42 über ein Kontrollintervall von einem Jahr ohne kieferorthopädische Intervention. In Abbildung 5a bis c ist bedarfsorientiert die sukzessive Erweiterung der Apparatur über einen Zeitraum von einem Jahr dokumentiert. Es wurde insbesondere darauf geachtet, den begrenzten Platzverhältnissen und dem starken Attachmentverlust Rechnung zu tragen. Daher wurde erst segmentiert, posterior eine Verankerung geschaffen und Platz für die geplante Rotation und Intrusion des Zahns 11 gewonnen. Bei der Intrusion wurde sich die Kombination von Materialeigenschaften zunutze gemacht. Die Verankerung erfolgte durch einen individualisierten Umgehungsbogen aus 0.17 x 0.25 Stahl, und die intrusive Kraft wurde über einen 0.12 Overlaybogen aus Nickel-Titan vermittelt und mit einem statisch determinierten Kraftsystem erzeugt.7–9 Besondere Beachtung sollte bei der kieferorthopädischen Behandlung eines parodontal reduzierten Gebisses die Retention finden.5, 6 Hier kamen im Ober- und Unterkiefer Essix-Retainer (10) in Kombination mit einem Hilgers-Retainer von Zahn 32-43 sowie eine NEM-Schienung von Zahn 12-22 zum Einsatz. Die NEM-Schienung hat sich aus persönlicher Erfahrung bei parodontal fraglichen Frontzähnen im Oberkiefer bewährt, wenn die Platzverhältnisse günstig sind. Denn einerseits führt die hohe Mobilität der Zähne zu häufigen Reparaturen des Retainers, andererseits kann ein Jiggling vermieden werden, und im Falle eines Verlusts eines Zahns besteht die Möglichkeit einer direkten prothetischen Versorgung. Im Unterkiefer wurde eine einflügelige Klebebrücke zum Ersatz von Zahn 33 ausgehend von Zahn 34 eingesetzt. Somit ist eine optimale Hygienefähigkeit gegeben.11, 12 In Regio 46/47 erfolgte eine Knochenblockentnahme, die Freiendsituation wurde mit einem Einzelimplantat versorgt.13, 14 Die Abbildungen 6a bis c und 7a bis e zeigen die Situation ein Jahr nach Abschluss der kieferorthopädischen Behandlung und prothetischer Versorgung.
Epikrise
Der vorgestellte Fall illustriert exemplarisch, dass bestehende Malokklusionen, welche in jungen Jahren keine Korrektur erfuhren, in Kombination mit sekundär erworbenen Malokklusionen und teilweise getriggert durch Parodontopathien, im Alter eine große Herausforderung darstellen können. Eine prothetische Rehabilitation bei Verlust des Zahns 11 wäre bedingt durch den starken Engstand und den vertikalen Knochenabbau implantologisch kaum zu lösen gewesen und hätte eine Brücken- oder Teleskopversorgung erforderlich gemacht. Die kieferorthopädische Intervention begünstigte die Prognose der parodontal stark vorgeschädigten OK-Front und erleichtert auch eine zukünftige prothetische Rehabilitation. Selbstverständlich stellt eine kombiniert kieferorthopädisch-prothetische Therapie keine schnelle, aber häufig eine sehr nachhaltige Behandlung dar. Diese Möglichkeit sollte bei der Planung als Differenzialtherapie Berücksichtigung finden. Auch aus wirtschaftlicher Sicht ist die hier vorgestellte Lösung für den Patienten keine nennenswert höhere Belastung. Durch die kieferorthopädische Vorarbeit konnte die Lücke in Regio 14 geschlossen, die OK-Frontzähne erhalten und Zahn 33 mit wenig Aufwand durch eine Klebebrücke ersetzt werden, sodass die Kosten gegenüber einer umfassenden prothetischen Rehabilitation in einem guten Verhältnis lagen.
In einer interdisziplinären Behandlung, gerade bei räumlich getrennten Praxen, bietet die Digitalisierung verschiedener Prozesse Vorteile. Ein virtuelles Set-up vereinfacht die Kommunikation zwischen Kieferorthopäden und Allgemeinzahnarzt, um die optimale Zahnposition vor prothetischer Rehabilitation festzulegen. Der Intraoralscan und die Simulation eines angestrebten Therapieziels waren gute Hilfsmittel, um den Patienten bereits vor der Therapie optimal zu beraten und ihn für seine Situation zu sensibilisieren. In dem dargestellten Fall stieg die Bereitschaft für eine nachhaltigere, wenn auch komplexere Behandlung. Im weiteren Verlauf war die Kommunikation zwischen Kieferorthopäde und Allgemeinzahnarzt deutlich vereinfacht, da Zahnbewegungen und Lückenverteilungen im Vorfeld über Ortsgrenzen hinweg gemeinsam am virtuellen Set-up besprochen und festgelegt werden konnten. Auf diesem Wege konnte man geradlinig und effizient ein akzeptables Ergebnis erzielen.
Autoren: Priv.-Doz. Dr. Christoph Reichert1, ZÄ Caroline Wessel2, Dr. Barbara Scherrer1, Dr. Jennifer Antritter2, Dr. Anne-Katrin König2, Dr. Achim König2
1 Fachpraxis für Kieferorthopädie, Mannheimer Straße 16, 67098 Bad Dürkheim, info@kfo-reichert.de
2 Endodontische Schwerpunktpraxis, Kurbrunnenstraße 9, 67098 Bad Dürkheim, rezeption@koenig-zahnaerzte.de
Dieser Artikel ist im OJ Oralchirurgie Journal erschienen.