Prophylaxe 03.06.2011

Höhere Lebenserwartung als ­zahnmedizinische Herausforderung



Höhere Lebenserwartung als ­zahnmedizinische Herausforderung

Prävention der Parodontitis im demografischen Wandel


Die demografische Veränderung hierzulande und in vielen anderen Industrieländern zieht auch veränderte Häufigkeiten bestimmter Krankheiten im Alter nach sich. Zudem steigt der Anteil von älteren Menschen, die gleichzeitig unter mehreren Krankheiten leiden.

Mithilfe des sogenannten Altenquotienten 65 kann die demografische Entwicklung sehr gut beschrieben werden. Er gibt die Relation der 65-jährigen und Älteren je 100 Personen im Alter von 20 bis unter 65 an. Derzeit liegt dieser Quotient bei 31,7. Im Jahr 2050 wird er bei einer „günstigen“ Entwicklung bei ca. 64,4 liegen. Die Anzahl älterer Menschen wird demnach relativ, aber auch absolut deutlich zunehmen. Im Bundesgesundheitssurvey 1998 wurde die jährliche Prävalenzrate für zwei chronische Erkrankungen bei Männern zwischen 18 und 79 Jahren auf 39%, bei Frauen auf 57% geschätzt. Vom ­Robert Koch-Institut wurde ein Multimorbiditätsindex aus verschiedenen Diagnosen gebildet. Folgende Krankheiten bzw. Krankheitsbereiche wurden zusammengefasst: Schlaganfall, Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Herzinfarkt, Angina pectoris, Bluthochdruck, Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen), Atemwegsleiden (Asthma bronchiale, chronische Bronchitis), Krebserkrankungen, Rückenbeschwerden (unabhängig von der Chronifizierung), Depression (unabhängig vom Prävalenzzeitraum), Diabetes mellitus, alle Formen der Hepatitis, Hauterkrankungen (Psoriasis), Erkrankungen der Sinne (Schwindel, Ohrgeräusche) und Augenerkrankungen (grauer und grüner Star, Makuladegeneration). Etwa die Hälfte der über 65-jährigen Bundesbürger wies nach dieser Kategorisierung drei oder mehr relevante chronische Erkrankungen auf. In der Gruppe der Hochbetagten (80 Jahre und älter) bleibt Hypertonie die häufigste Diagnose und betrifft 68,9% der männlichen sowie 73,4% der weiblichen Versicherten. Die Anzahl der Diabetiker in Deutschland liegt bei ca. 5%, wobei diese auf Selbstauskunft beruhenden Daten die eigentliche Zahl wahrscheinlich erheblich unterschätzen. Vermutlich ist die Dunkelziffer genauso hoch wie die Zahl erkannter Diabetiker. So konnten in der KORA-Kohorte mit einem Bevölkerungsalter zwischen 55 und 74 Jahren 9,0 % Diabetiker und 9,7% unbekannte Diabetiker nachgewiesen werden. Weitere 16,8% der Untersuchten hatten eine gestörte Glukosetoleranz mit einem hohen Risiko, in den nächs­ten Jahren einen manifesten Diabetes zu entwickeln.


Der demografische Wandel beeinflusst auch den Anstieg der Anzahl pflegebedürftiger Personen. Während heute etwa 2,3 Millionen Menschen pflegebedürftig sind, werden es im Jahr 2050 nach den vorliegenden Schätzungen bis zu 4,3 Millionen sein. Etwa die Hälfte dieser Menschen wird in Alten- und Pflegeheimen leben, etwa 60% dieser Alten- und Pflegeheimbewohner leiden an Demenz (alle allgemeinen Daten aus SVR 2009).

Drei besondere Problembereiche aus Sicht der Zahnmedizin

Prävention ist die Grundlage einer wissenschaftlich abgesicherten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Mit ihrer konsequenten Umsetzung wurden große Fortschritte in der Mundgesundheit der Bevölkerung in Deutschland erzielt (Bauer et al. 2009). Pflegebedürftige sind von diesem Fortschritt jedoch oftmals noch ausgeklammert. Aus Sicht der Zahnmedizin ergeben sich aktuell für die zahnmedizinische Versorgung pflegebedürftiger älterer Menschen drei Problembereiche:
– Der erste Problembereich ist der hohe Bedarf an Prävention und Versorgung. Ein wichtiger zahnmedizi­nischer Trend besteht darin, dass ältere Menschen ­immer mehr natürliche Zähne besitzen. Die Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV, Micheelis/ Schiffner 2006) aus dem Jahr 2005 zeigt, dass unter den Senioren die Erkrankung des Zahnhalteapparats (Parodontitis) am weitesten verbreitet ist. 48,0% dieser Altersgruppe sind von einer mittelschweren und 39,8% von einer schweren Ausprägung der Krankheit betroffen. Das entspricht einer Zunahme von 23,7 Prozentpunkten im Vergleich zur letzten Erhebung im Jahr 1997 (Abb. 1).

 

Abb. 1: Entwicklung von mittelschweren und schweren Parodontalerkrankungen sowie Zahnverlusten bei 65- bis 74-jährigen Senioren von 1997 bis 2005.  (Quelle: Hoffmann 2006)


– In der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen zeigt sich am deutlichsten der Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Zahnverluste und der Zunahme von Parodontalerkrankungen. Besonders problematisch ist die Zunahme der Erkrankungen des Zahnhalteapparats (Parodontitis), weil diese orale Erkrankung in der wissenschaftlichen Literatur deutliche Interaktionen zu bedeutsamen medizinischen Erkrankungen aufweist und über beträchtliche Wundflächen Infektionsrisiken aufzeigt.
– Ein besonderes Problem entsteht, wenn ältere Menschen pflegebedürftig werden. Eigene Zähne und hochwertige Zahnversorgungen verstärken präventive und Versorgungsprobleme (Nordenram/Ljunh­hren 2002; Rademakers/Gorter 2008; Samson et al. 2008). Unterbleibt die Mundpflege oder ist diese deutlich eingeschränkt, wird sehr schnell zerstört, was aufwendig versorgt wurde. Schmerzen entstehen, die Kaufunktion und damit einhergehende Lebensqualität gehen unwiederbringlich verloren. Die Ergebnisse einer Erhebung in 173 Altenpflegeheimen in der Rhein-Neckar-Region (Bock-Hensley et al. 2006) und eine Untersuchung in 41 Altenpflegeheimen in Sachsen (Gmyrek 2004) mahnen verstärkte Fortbildungsmaßnahmen für Pflegekräfte und regelmäßige zahnärztliche Betreuung und Versorgung in Altenpflegeeinrichtungen an. Pflegebedürftige Menschen können zahnärztliche Praxen oftmals nicht selbstständig aufsuchen, sondern benötigen dafür Transporte. Es ist heute durchaus möglich, dass Zahnärzte mobil arbeiten, dies erfordert jedoch einen zusätzlichen organisatorischen, apparativen und zeitlichen Aufwand, der mit den vorhandenen Vergütungspositionen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen nicht ausreichend abgedeckt wird. Darüber hinaus gehören die zahnmedizinisch-präventiven Maßnahmen bei erwachsenen Menschen nicht zu den Leistungen der ­gesetzlichen Krankenkasse. Präventive Leistungen werden derzeit nur im Kindes- und Jugendalter übernommen.

Präventive Leistungen im Erwachsenen- und Seniorenbereich sind, bis auf die jährliche Zahnsteinentfernung, durch den Patienten selbst zu finanzieren. Pflegebedürftigen steht dieses Geld jedoch oftmals nicht mehr zur Verfügung. Es sind inzwischen (z.B. in Bayern, Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Westfalen-Lippe) Initiativen der Landeszahn­ärztekammern entstanden, die regelmäßig wiederholte Schulungen von Pflegepersonal während und nach der Ausbildung, aber auch im Rahmen der Fortbildung durch Zahnärzte bzw. Prophylaxeassistentinnen durchführen, wobei sich häufig zahnärztlich-patenschaftliche Betreuungen von Pflegeeinrichtungen durch die schulenden Zahnärzte entwickeln.


Parodontitis erhöht das Risiko für ­alterskorrelierte Erkrankungen

Einen ganz wichtigen Einfluss hat die Mundgesundheit auf internistische Erkrankungen. Die Mundhöhle ist Haupteintrittspforte für Bakterien. Orale Biofilme ­(Plaque) – der bakterielle Belag auf unzureichend gepflegten eigenen Zähnen, aber auch auf Zahnersatz – können ebenso via Aspiration in den Respirationstrakt gelangen wie über entzündete Bereiche des Zahnfleisches und der Mundschleimhaut in die Blutbahn. In Pflegeheimen gehören Pneumonien mit einer Prävalenz von 13 bis 48% zu den häufigsten Infektionskrankheiten und weisen zudem eine hohe Mortalitätsrate auf. In Querschnittsstudien wurde bei Patienten mit schlechter Mundhygiene ein signifikant erhöhtes Risiko für Pneumonien gefunden.


In verschiedenen Studien konnte zudem belegt werden, dass Mundhöhlenerkrankungen, insbesondere Parodontitis, mit einem erhöhten Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall sowie für Diabetes mellitus einhergehen. Untersuchungen zeigen, dass die relativen Risiken bei einer bestehenden mäßigen bis schweren Parodontitis für Apoplex zweifach, für koronare Herzerkrankungen zweifach, für chronische Atemwegserkrankungen zwei- bis fünffach, für Diabetes zwei- bis vierfach und für Osteo­porose zweifach erhöht sind. Beim Diabetes kommt hinzu, dass – wie bei allen Infektionen – Schwierigkeiten bezüglich der Kontrolle des Blutzuckerspiegels entstehen können, wenn Menschen unter einer Parodontitis leiden, da bakterielle Infektionen grundsätzlich eine Insulinresistenz des gesamten Körpers erzeugen (Proceedings). Dies bedeutet aber, dass gerade die Prävention in der zahnmedizinischen Versorgung schon deshalb so wesentlich ist, damit der ohnehin schon bestehende Anstieg dieser alterskorrelierten Erkrankungen sich nicht noch dramatischer auswirkt. Die Prävention in der Zahnmedizin wird damit zu einem Beispiel für die Kompressionsthese, nach der durch Prävention die Anzahl der Jahre unter Krankheit bei steigender Lebenserwartung nicht ansteigt, sondern gesenkt werden kann. Der zahnmedizinischen Gesundheitsversorgung kommt daher gerade in Gesellschaften längeren Lebens eine besondere ­Bedeutung zu. Die bisherigen Erfolge der Prävention in der Zahnversorgung werden bei konsequenter Weiterführung und Stärkung dazu beitragen können, die Gesundheit und Lebensqualität älterer Menschen zu ­verbessern. Dies ist doch nicht das schlechteste Ergebnis des ­Engagements einer medi­zinischen Profession.

Mehr Fachartikel aus Prophylaxe

ePaper