Branchenmeldungen 28.02.2011

Chronische orofaziale Schmerzen – eine Herausforderung für den Kliniker

Chronische orofaziale Schmerzen – eine Herausforderung für den Kliniker

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Die Komplexität chronisch orofazialer Schmerzkrankheiten erfordert einen interdisziplinären Diagnose- und Therapieansatz. Fachwissen sowie die Einschätzung der eigenen Kompetenz des Erstbehandlers sind für den Verlauf richtungweisend. Ein Fachbeitrag von Dr. Kathrin Kohout, Dr. Ursula Galli und Dr. Dominik Ettlin, Zürich.

Chronische orofaziale Schmerzen stellen im klinischen Alltag eine große Herausforderung dar, die im Kontext der Akutbehandlung oro­fazialer Beschwerden oft wenig ­Beachtung finden. Nebst Risiko­faktoren seitens der Patienten ist die diagnostische Fachkompetenz der Behandler mitentscheidend, ob ein akuter Schmerz chronifiziert. Um therapeutische Fehlentscheidungen zu vermeiden, steht eine komplexe und ausführliche Anamnese und ­Be­fund­erhebung im Vordergrund. Dabei müssen neben spezifischen Schmerzcharakte­ristika auch all­gemeinmedizinische und psycho­so­ziale Begleiterkran­kungen (Komor­biditäten) erfasst werden.

Orofaziale Beschwerden umfassen Schmerzen im Versorgungs­bereich des Nervus trigeminalis. Weil Beschwerden u.a. infolge anato­mischer Über­lappung und neuraler Sensibilisierungsprozesse meist nicht auf einen Einzelast dieses ­Nerven begrenzt sind, gehören dazu nebst muskuloskelettalen und neuropathischen Schmerzen auch diverse Kopfweharten. Dif­fe­renzial­diag­nos­tisch sind Infektionen, Tumoren und Autoimmunprozesse auszuschließen, was eine strukturierte Vorgehensweise erfordert.

Voraussetzungen: Mehrere Diagnosen

Im Vordergrund steht dabei eine ausführliche Schmerzanamnese mit ­einer ersten Verdachtsdiagnose, die durch eine ­umfassende klinische Untersuchung ergänzt werden muss. Im Einzelfall sind weitere diagnostische Screenings durchzuführen, die nicht selten einen interdisziplinären Ansatz fordern. Aus der Summe aller Informationen ergibt sich dann eine oder oft mehrere Diagnosen, die die Grundvoraussetzung für eine Therapieplanung und erste therapeutische Sofortmaßnahmen darstellen.

Dabei erlauben akute Beschwerden in der orofazialen Region mit ­eindeutigem klinischen Korrelat eine schnelle (zahn-)ärztliche Diagnostik und Therapie. Die Kom­plexität einer chronischen Symp­tomatik kann jedoch über eine schmerzbezogene Kurzanamnese nicht erfasst werden. Im Gegenteil, die Gefahr ist groß, dass eine Schnelldiagnostik zu einer kli­nischen Fehleinschätzung mit möglicherweise falschem Therapieansatz, resultierenden iatrogenen Zusatzschäden und nicht selten forensischem Nachspiel führt. Somit steht bei un­klaren orofazialen Schmer­zen eine ­ausführliche Anamnese im Zentrum des diagnostischen Prozesses. Die Grundlage dafür bietet ein detail­lierter Schmerzfragebogen (Abb. 1a und b), wie er beispielsweise im Rahmen der Sprechstunde für oro­faziale Schmerzen am Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität Zürich (ZZMK) eingesetzt wird.



Detaillierter Schmerzfragebogen

Wichtige Schmerzcharakteris­tiken sind Stärke, Lokalisation, Qualität, Dauer, Zeitverlauf, Auslöser/Ein­fluss­faktoren, Begleitsymp­tome und Be­einträchtigung. Aber auch ­Details zu bisherigen Behandlungen und der ­allge­mein­me­di­zi­­nische Hintergrund (Grunderkrankungen, Schlafstörung, Medikamente etc.) sowie insbesondere psychosoziale Angaben müssen erfragt werden. Dies ermöglicht ein umfas­sendes Erkennen der verschiedenen Schmerzdimensionen   (sensorisch-diskriminativ, affektiv-emotional und kog­nitiv-be­havio­ral) und führt zu ­einer ­ersten Liste an Ver­dachtsdiag­nosen. Die folgende klinische Unter­suchung sollte in Abhängigkeit des ­Be­schwerdebildes auch umliegende Struk­turen mit einbeziehen und je nach ­Indikation durch ­zusätzliche Tests (Probeanästhesie, Bildgebung, Labor­werte etc.) ergänzt werden.

Die Schwierigkeit einer eindeu­tigen Schmerzklassifizierung bei ­multiplen klinischen Symptomen orofazialer Schmerzen widerspiegelt sich in den teilweise uneinheitlichen diagnostischen Klas­sifikationssys­temen diverser internationaler Organisationen, wie z.B. der International Association for the Study of Pain (1994), Inter­national Headache ­Society (2004), American Academy of Orofacial Pain (Okeson 1997) und Diagnostic Re­search Criteria for Temporomandibular Disorders (Dworkin und LeResche 1992). Im ­klinischen Alltag erleichtert eine ­Einteilung nach zeitlichem Schmerzmuster die diagnostische Zuordnung der Beschwerden (Tabelle 1).

In der Gruppe episodischer Beschwerden von weniger als einer ­Minute stehen die Neuralgien, ins­besondere die Trigeminusneuralgie, im Vordergrund. Die blitzartig ­ein­schießenden, meist einseitigen Beschwerden werden häufig durch ­externe Stimuli (Rasur, Zähneputzen, ­Reden) getriggert. Als Ursache einer klassischen Trigeminusneuralgie wird typischerweise ein neurovaskulärer Konflikt beobachtet, indem eine Ar­terie bei seinem Eintrittsbereich in ­den Hirnstamm den N. trigeminalis komprimiert. Zur Unterscheidung von einer symptomatischen Trigeminusneuralgie, die im Kontext einer Grunderkrankung (wie Tumoren oder multiple Sklerose) auftreten kann, ist eine kra­niale Bildgebung (MRI) immer ­indiziert. Als Therapie der Wahl ­gelten Carbamazepin und Oxcar­bazepin, aber auch Baclofen und ­Lamotrigin werden im klinischen Alltag ver­wendet. Bei therapierefraktären Fällen ist eine chirurgische Intervention (Ganglion Gasseri, Gamma Knife, mi­krovaskuläre Dekompression) zu erwägen (Gron­seth et al. 2008). Die ­Abgrenzung zu einer vertikalen Zahnfraktur, die ­häufig durch einen Loslassschmerz gekennzeichnet und radio­logisch schwer darstellbar ist, ist durch die unterschiedlichen Auslöser bei der Trigeminusneuralgie (siehe oben) gegeben.

Episodische Beschwerden

Auch primäre Kopfschmerzen (Migräne, Spannungskopfschmerz, trigemino-autonome Kopfschmerzen) imponieren durch ein episodisches Beschwerdebild mit schmerzfreien Phasen. Tritt ihr Hauptschmerz im Kiefer- und Gesichts­bereich statt im Kopf auf, ist die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern oft schwierig (Gaul et al. 2007 und 2008). Anamnestisch ist das Auftreten von auto­nomen Begleitsymptomen (Tränen-/Nasenfluss, Augenrötung) daher entscheidend. Die Therapie orientiert sich an den Empfehlungen für primäre Kopfschmerzen.

Craniomandibuläre Dysfunktionen

Auch funktionsabhängig können episodische Beschwerden auftreten, namentlich bei der Arteriitis tempo­ralis und den Myoarthro­pathien (MAP) resp. Craniomandibulären Dysfunktionen (CMD). Bei ersterer erleichtert die Lokalisation der Beschwerden ­sowie eine charakteristisch stark ­erhöhte Blutsenkungsreaktion die Unterscheidung. Zudem tritt diese ­Erkrankung fast ausschließlich im ­höheren Alter (> 70 Jahre) auf.

Zu ­beachten ist, dass die Arteriitis temporalis als ­lokale Gefäßentzündung aufgrund der möglichen Konsequenzen (ir­reversibles ­Erblinden) ein schnelles Handeln verlangt. Leitsymptome der MAP
resp. CMD sind vor allem Schmerzen im ­Bereich des Kiefergelenks und/oder der ­Kau­­musku­latur, Gelenkgeräusche und Bewegungseinschränkungen des Un­terkiefers, die durch entzündliche und/oder degenerative Veränderungen verursacht werden. Häufig treten Begleitsymptome in Form von Zahn-, Kopf-, Nacken- oder Ohrenschmerzen auf, die den Behandler ­initial wegen der Vielfalt der Beschwerden irreführen können. Als Ätiologie werden parafunktionelle Aktivitäten, die tagsüber und nachts auftreten können, diskutiert. Neuere Forschungsarbeiten konnten frühere Vermutungen nicht erhärten, dass okklusale Faktoren bei der Entstehung einer MAP resp. CMD eine ­ursächliche Rolle spielen. The­rapeutische Möglichkeiten sind Aufklärung des Patienten, Instruktion von Selbstbeobachtung, Pharmakotherapie, physikalische Maßnahmen, Schienentherapien, kognitive Ver­hal­tens­therapie (auch Biofeedback und Entspannungstraining) sowie alternativmedizinische Ansätze. Chi­r­urgische Interventionen sollten ­gemäß international an­erkannten Richtlinien erst nach umfassenden konservativen Maßnahmen bei ­therapierefraktären Patienten zum Einsatz kommen. Insgesamt weist ­dieses Krankheitsbild eine gute Prognose auf, wobei die Intensität der Beschwerden im Verlauf typischerweise alterniert.

MAP resp. CMD

Gegen MAP resp. CMD abzugrenzen ist der so­genannte an­hal­tende ­idiopathische Zahn- oder ­Gesichts­schmerz, dessen Diagnose erst nach ­Ausschluss ­lokaler Pa­tholo­gien und Schmerz­syndro­me bei unauffälliger Bildgebung ­ge­stellt werden darf. Ty­pischerweise im­poniert dieser auch durch dump­fe, oft brennende und ziehende Dau­erschmerzen von schwan­kender ­Intensität, die den Schlaf nicht beeinträch­tigen. Diesem ­primär einseitigen Schmerz können attackenartige Beschwerden aufge­lagert sein. Häufig beschreiben die Patienten ein subjektives Schwellungs- und Taubheitsgefühl. Eine ­diag­nos­ti­sche Anästhesie kann in der Diagnosefindung hilfreich sein, wobei in diesen Fällen trotz Aus­schaltung der peripheren ­Rezeptoren ein Restschmerz bleibt, was auf eine ­Mit­beteiligung zentraler neuraler Prozesse hinweist. Therapeutisch ist die Aufklärung des Patienten über das Vorkommen dieser Schmerzform von entscheidender ­Bedeutung. Meist ist die Vorgeschichte komplex mit multiplen ­endo­dontischen Behandlungen und Extraktionen, die nicht selten auch von Patientenseite ­gefordert werden. Dies bedingt einen interdisziplinären Therapieansatz, der sowohl schmerzpsychologische als auch pharma­kologische Aspekte umfassen sollte. Dabei kommen ­lokale Maßnahmen wie Medika­menten­­trä­ger­schienen (Cap­saicin in Kombination mit ­Lo­kal­anästhetika zur De­sen­sibili­sierung von   TRPV1-Schmerz­rezeptoren) oder Injektionen (Lokal­anästhe­tikum mit Kortikosteroid) und ­systemische Medikationen (trizyklische Antidepressiva, Antikon­vulsiva) zum Einsatz. Invasive Maßnahmen sind kontraindiziert und wegen resultierender neuraler Sensiblisierungs­prozesse mit Schmerzintensivierung und -ausbreitung ­unbedingt zu vermeiden.

Phantomschmerz

Klinisch zeigt der Deafferen­zierungsschmerz ein ähnliches Be­schwerdebild. Dieser neuropathische Schmerz („Phantomschmerz“), der durch eine traumatische oder chirurgische Nervverletzung entstehen kann, wird auch im Sinne ­einer Neurombildung verstanden und ist mit ­einer ­Prävalenz (je nach Studie) von bis zu sechs Prozent nach endodon­tischer Behandlung ein nicht seltenes Beschwerdebild. Ein erhöhtes Risiko dafür wird bei vorbestehenden Schmerzen beschrieben. Daraus ergibt sich, dass unklare orofaziale Beschwerden vom Allgemeinarzt und -zahnarzt therapeu­tische Zurückhaltung erfordern, ­solange nicht eine umfassende in­terdisziplinäre Abklärung stattgefunden hat, welche ein bio­psy­chosoziales Krankheitskonzept berücksichtigt. Dies be­inhaltet neben der Erfassung physischer, nozizeptiver Fakto­ren (sog. Achse I) auch die Diagnose psy­chologischer Fak­to­ren (sog. Ach­se II), die das Schmerz­­er­leben entscheidend ­be­einflussen können (Okeson 2008). Voraussetzung ist eine ausführliche psy­cho­sozia­le Anamnese mit Fragen zu   Lebensumständen (Live-Events, Stressoren und Res­sourcen), der ­Be­ein­trächtigung und den Aus­­wirkungen der Schmer­zen im Alltag, den Schmerz­be­wäl­ti­gungs­stra­tegien, Krank­­­heits­überzeugungen sowie der psychischen   ­Be­fin­dlichkeit. Psychische   Komorbiditäten können mit zunehmender Schmerzdauer und Leidensdruck in Form von Depressionen, Angst- und Belastungsstörungen ­sowie in Form von somatoformen Störungen bei 20–60 Prozent der Pa­tienten ­auf­treten. Dies belegt den ausgeprägten sekundären Effekt einer ­primären Schmerzerkrankung (Oke­son 2008).   Häufig   bestehen   auch Schmerzen in anderen Körperbe­reichen (60 Prozent) oder andere chronische Beschwerdebilder. Diskutiert wird beispielsweise für ­Fibro­myalgie und für chronische ­orofaziale Schmerzen eine Störung der zentralen Schmerz- und Stressverarbeitung (Korszun 2002, Egle et al. 2004).

Stabilisierung der Alltagssituation

Die schmerzbezogene Psychotherapie beinhaltet die Verbesserung des Verständnisses für das Schmerz­erleben und den Umgang mit dem Schmerz. Hierbei steht die Erarbeitung eines ­gemeinsamen Schmerzmodells im Vordergrund. Dies ­beruht auf einem umfassen den ­In­for­mationsaustausch und ausführlichen Erklärungen zur Schmerz­entstehung und Schmerz­aufrecht­erhaltung durch biologische und psychologische Faktoren. Das Verständnis muss auch auf den Einfluss des sozialen Kontext (Stress- und Belas­tungs­si­tu­ationen) aus­gedehnt und die diesbezüglichen Auswir­kungen des Schmerzes (sekundärer Krankheitsgewinn)  angesprochen werden. Die Schmerzbewältigung beruht auf einer Verbesserung der Kontrollierbarkeit des Schmerzes und der persönlichen Akzeptanz der Situation. Unterstützend wirken hierbei Techniken wie Selbstbeobachtung, Körperwahrnehmung und Biofeedback, das eine optische Darstellung von Spannungszuständen erlaubt. So kön­nen die Patienten für Zusam­men­hänge zwischen ­emo­tionalen Zuständen, ­innerer Unruhe, mangelnder psy­cho­physio­lo­gischer Entspannungsfähigkeit und Schmerz­verstärkung sensibilisiert werden (Feinman und Newton-John   2004).  Entspannungstechniken (z.B. progressive Muskelentspannung nach ­Jacob­son) unterstützen den ­Pa­tien­ten durch eine differenzierte Wahr­neh­mung von muskulären Span­nungs­zu­ständen. Somit kann das Behand­lungs­ziel weniger als eine ­voll­stän­dige   Beschwerderemission, son­dern vielmehr als eine Stabili­sierung der Alltagssituation mit dem chronischen Schmerz bezeichnet ­werden. Chronische orofaziale Schmerzen können aufgrund der komplexen Schmerzgenese und oft feh­lendem ­klinischen Korrelat nicht immer kausal behandelt werden. Dies stellt eine besondere Herausforderung für die Aufklärung des Patienten, aber auch für das Verständnis des Behandlers dar. Eine umfangreiche Schmerz­anamnese kann die Erfassung der Komplexität der Schmerzerkrankung erleichtern und zu einer umfassenden Diagnose führen. Der koordinierte interdis­ziplinäre Therapieansatz (je nach Fall unter Einbezug von Zahnarzt, All­gemeinarzt, Neurologe, Hals-, Nasen-, Ohren-Spezialist, Psychiater und Psy­chologe) optimiert nicht nur die Schmerzlinderung, sondern ist letztlich auch der ökonomischste ­Behand­lungsweg.

Eine Literaturliste steht unter www.zwp-online.info/fachportal/kieferorthopaedie für Sie bereit.


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