Branchenmeldungen 21.03.2024
Gesundheitsstation: Patientennahe Diagnostik 2.0
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Der Mangel an Fachärzten in ländlichen Gebieten stellt schon lange eine Herausforderung dar. Das Fraunhofer IESE arbeitet dazu im Rahmen des Fraunhofer-Zentrums für Digitale Diagnostik ZDD im Projekt „Neighborhood Diagnostics“ an einem Digitalen Ökosystem, das auf Smart Medical Devices und Gesundheitsstationen setzt. Ziel ist es, relevante Gesundheitsdaten zu erfassen und so eine schnelle Diagnose von Krankheiten zu ermöglichen. Die automatisierte Gesundheitsstation verspricht eine kosteneffiziente Lösung für dünn besiedelte Regionen. Mehr zu diesem spannenden Projekt verrät der Projektleiter Simon André Scherr im Interview.
Herr Scherr, könnten Sie uns bitte einen Überblick über das Projekt „Neighborhood Diagnostics“ geben und erläutern, welche Gesundheitsdaten erfasst werden?
„Neighborhood Diagnostics“ ist ein Projekt des Fraunhofer-Zentrum für Digitale Diagnostik ZDD, das sich auf die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum konzentriert, derzeit konzipiert in Brandenburg. Aufgrund der dünnen Besiedlung und weiten Wege in dieser Region entstehen Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung, wie der Rückgang von Landärzten. Um diesen Problemen zu begegnen, nutzen wir die Digitalisierung, um Ärzte zu entlasten, frühzeitige Diagnosen zu ermöglichen, chronisch Kranke besser zu versorgen und Patientenreisen zu reduzieren. Das Projekt zielt darauf ab, ein Digitales Ökosystem für die Datengewinnung und Analyse von Patientendaten zu entwickeln. Die Hauptkomponente dieses Ökosystems ist eine digitale Plattform, die verschiedene Datenquellen integriert. Dazu gehören Gesundheitsstationen, die autonom als Minilabore agieren, und die Verwertung von Patientendaten, die bereits zu Hause generiert werden, beispielsweise durch Smartwatches und Blutdruckmessgeräte. Das Ziel ist es, diese Daten für die medizinische Versorgung nutzbar zu machen und eine Brücke zwischen Patienten und medizinischem Personal zu schlagen. Dies kann dazu führen, dass Patienten zu Hause bleiben können, wenn ihre Werte stabil sind, oder dass spezifische Tests in Gesundheitsstationen durchgeführt werden, um den Weg zur Arztpraxis zu verkürzen.
Wie ist das Projekt entstanden und gibt es derzeit Vergleichbares?
Im Rahmen des Fraunhofer ZDD entstand die Idee, die Mangelversorgung in ländlichen Regionen zu verbessern. Kolleginnen und Kollegen verschiedener Institute entwickelten den Ansatz, Daten, die zu Hause beim Patienten entstehen, für die Ärzteschaft nutzbar zu machen. Das Projekt konzentriert sich auf die technische Machbarkeit und den dezentralisierten Diagnostikansatz über Gesundheitsstationen. Die Erprobung soll bis Ende 2025 laufen, wobei die Herausforderung darin besteht, tragfähige Konzepte für den ländlichen Raum zu entwickeln, insbesondere im Hinblick auf dauerhafte Betreiberkonzepte. Es gibt verschiedene Ansätze, jedoch ist der Fokus auf Gesundheitsstationen und Robotik in Verbindung mit Telemedizin nicht weitverbreitet. Andere Projekte betreffen häufig Nischenlösungen und beschränken sich auf spezifische Krankheitsbilder. Das Besondere am „Neighborhood Diagnostics“-Projekt ist die offene Plattform, die verschiedene Anwendungsfälle integrieren kann, ähnlich dem Konzept eines standardisierten Regals, welches sich durch modulare Schubladen ergänzen lässt. Die Plattform ermöglicht perspektivisch die Zusammenarbeit mit Herstellern von Diagnostik-Equipment und Industriepartnern, um ein offenes System zu schaffen und eben keine Insellösung zu entwickeln.
Konkret gefragt, welche Diagnosen – vielleicht auch bildgebend – sind möglich?
Technisch sind viele Dinge möglich, auch im Bereich bildgebender Diagnostik wie Röntgen. Allerdings muss die Umsetzbarkeit berücksichtigt werden, insbesondere bei Herausforderungen wie dem Tragen von Schutzschürzen, was in diesem Umfang nicht gewährleistet werden kann. Im Kontext von rheumatologischen Erkrankungen wird beispielweise überlegt, ob Patienten selbst Bewegungsübungen durchführen können, die mithilfe von Videoanalysen und Qi-Technologie überprüft werden. Dies ermöglicht eine regelmäßige Überwachung des Krankheitsverlaufs ohne lange Wartezeiten auf Termine beim Rheumatologen. Das Ziel ist, Routineüberprüfungen einfacher zu gestalten, indem Patienten selbst schnell Tests durchführen können, wodurch Ärzte effizienter arbeiten und mehr Patienten versorgen können. Diese Methode wird als bildgebend betrachtet, aber weniger aufwendig und heikel als herkömmliche Untersuchungen.
Welche Aspekte lassen sich auch für die Zahnmedizin nutzen?
Insbesondere im Bereich der Prävention gibt es großes Potenzial. Moderne Zahnbürsten können bereits Informationen wie Putzdauer und Druck übermitteln. Dies könnte in Richtung Prävention genutzt werden, indem Eltern die Zahnpflege ihrer Kinder überwachen oder Zahnärzte Einblicke in die Putzgewohnheiten ihrer Patienten erhalten. Das fördert natürlich eine bessere Mundpflege und letztendlich die Zahngesundheit. Es ist jedoch noch unklar, wie bildgebende Verfahren in der Zahnmedizin angewendet werden könnten, da der Mundbereich spezielle Herausforderungen birgt. Die Idee einer Speichelprobe ist aktuell realistischer. Die Verbreitung intelligenter Medizingeräte wächst, und es liegt an uns, diese Technologien zu nutzen, während wir sicherstellen, dass die Patienten Vertrauen haben und ihre sensiblen Daten geschützt sind. Es ist vergleichbar mit der schrittweisen Einführung von Technologien in anderen Bereichen, bei denen anfängliche Skepsis überwunden wurde.
Welche rechtlichen Aspekte sind zu beachten, insbesondere im Hinblick auf Haftungsfragen?
Das ist tatsächlich ein bedeutender Bereich, besonders im Medizinrecht. Die rechtlichen Überlegungen sind komplex, vor allem im Zusammenhang mit Themen wie Blutabnahme und Haftungsfragen. Unser Ziel ist es jedoch keineswegs, den gläsernen Menschen zu schaffen. Patienten sollen die Kontrolle über ihre Daten behalten und selbst entscheiden, welche Informationen sie mit der Arztpraxis teilen möchten. Wir legen großen Wert darauf, dass Daten nicht einfach ungefragt weitergegeben werden. Es sind robuste Schutzmechanismen vorgesehen, um die Kontrolle der Patienten zu gewährleisten und die Daten sicher zu schützen.
Prognose aus der Zahnmedizin
Prof. Dr. Falk Schwendicke (MDPH LMU Klinikum München) gab im Kurzinterview seine Prognose der medizinisch-technischen Möglichkeiten im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz auf das kommende Jahrzehnt. Der Experte verweist auf weitere Potenziale, welche sich auch im Rahmen von Gesundheitsstationen nutzen lassen – eine spannende Entwicklung.
„In der nächsten Dekade (…) wird die Sprachverarbeitung in der Medizin die nächste Revolution auslösen. Nicht, weil uns diese Technik in Diagnostik oder Therapie zwingend besser macht, sondern sie viele administrative Vorgänge abnehmen und Prozesse und Workflows verbessern wird. Wir werden mit unseren Patienten mehr automatisiert kommunizieren können und Verwaltungsprozesse vereinfachen. Computer werden Patientenakten automatisiert auslösen können, Sprachdaten werden die Virtualisierung und die datengetriebene Zahnmedizin unterstützen und am Ende werden wir Sprache, Bild und weitere Daten mittels künstlicher Intelligenz zusammenführen.“
Hier geht es zum Kurzinterview mit dem KI-Experten der Zahnmedizin.
Dieser Beitrag ist im ZWP spezial erschienen.