Branchenmeldungen 12.05.2022
Stadt vs. Land: Von der Arbeit in einer Dorfzahnarztpraxis
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In der knapp 6.000 Einwohner zählenden Dorfidylle im oberbayrischen Fischbachau nahe der Grenze zu Österreich sorgt Quereinsteigerin Helga Lackner in der Zahnarztpraxis von Andreas Maderer für herzig-gute Laune innerhalb ihres kleinen Teams und bei den Patienten. Im Interview berichtet sie von ihrem Arbeitsalltag in der Landzahnarztpraxis.
Liebe Helga, bist du ein gebürtiges „Landei“ oder kommst du ursprünglich aus der Großstadt?
Ich stamme von einem Kärntner Bauernhof. Die Arbeit in Fischbachau flog mir – im wahrsten Sinne – über meinen Freund Hiasi zu und sollte ursprünglich auf ein bis zwei Jahre Praxisgründungszeit begrenzt sein.
Wie genau kamst du denn zur Zahnarztpraxis in Fischbachau?
Ich bin Quereinsteigerin und habe zuvor u.a. am Münchner Großmarkt in einer kleinen Agentur Obst und Gemüse verkauft, war in einer Werbeagentur sowohl am Empfang und in der Beratung tätig als auch die rechte Hand vom Chef und habe eine Zeit lang in einer größeren Immobilienfirma gearbeitet – das war auch eine super Zeit. Da mich neue Geschäftsideen, Gründungen und Veränderungen sowieso immer interessieren, wollte ich bei Zahnarzt Andreas Maderer eigentlich nur für die Zeit der Praxisgründung mit anpacken – sozusagen bis es läuft.
Jetzt bin ich immer noch da … und bereue es keine Sekunde, denn die Arbeitszeiten in der Praxis sind wesentlich besser und ich kann viel selbstständiger arbeiten.
Wie verlief die Anfangszeit und was waren bzw. sind deine Aufgaben?
Vor sechs Jahren wurde die bereits stillgelegte Praxis in diesem beschaulichen Örtchen aus dem Dornröschenschlaf wiedererweckt. Ich durfte aber schon bei der Suche nach der Traumpraxis mitmischen. Genau, was ich mag: Ärmel hoch und los geht’s! Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet – und das ist gut so. Vor allem, wie unglaublich (ver)kompliziert unser Abrechnungssystem sein kann …
Meine Aufgabe ist einfach erklärt: alles außer Behandlungszimmer – vom Empfang über die Terminvergabe, Abrechnung, Buchhaltung, Zahlungsverkehr, Mahnwesen bis hin zum Mittagessen. Ich nehme auch mal einen Putzlappen in die Hand, spüle das Geschirr und erledige lästigen Schriftverkehr mit den Versicherungen etc.
Was liebst du an deinem Beruf am meisten, was magst du weniger gern?
Ich liebe unsere Patienten, diese anständigen, bodenständigen, bescheidenen, freundlichen Menschen. Ich liebe die interessanten Geschichten, die sie erzählen. Klingt komisch, aber ich liebe sogar Probleme bzw. turbulente Arbeitstage, die wir im Team bewältigen. Um es mit Rilke zu sagen: „Ich lieb ein pulsierendes Leben …“
Ich liebe die gemeinsamen Mittagessen auf unserem kleinen Praxisbalkon. Ich liebe den Weg zur Arbeit, wenn an einem trüben Wintertag in Hundham die Sonne aufgeht und unser schönes Leitzachtal ins wärmste Licht taucht. Ich liebe unseren Weiberfasching in der Praxis, die schönen gemeinsamen Ausflüge, die lustigen Feiern. Die Langlaufloipe vor der Praxistüre, unseren Hausberg, den Breitenstein, und ich liebe es, wenn’s lustig zugeht – wer nicht? Aber auch die stillen Momente am Abend oder morgens, bevor es los geht, liebe ich. Und natürlich den netten Kontakt zu Kolleginnen.
Weniger gern mag ich Unzufriedenheit – auch die eigene – und Gejammer – auch das eigene. Das Mahnwesen würde ich mir gerne sparen. Und last, but not least: technische Störungen, besonders die der Telematik-Infrastruktur.
Welche Eigenschaften zeichnen dich aus?
Ich bin ein Macher, das heißt, ich mache etwas oft schon, bevor etwas getan werden muss, und immer ohne Bedienungsanleitung. Außerdem bin ich fleißig, mutig, recht schlau, sehr loyal, manchmal lustig und ganz wichtig: Ich kann Prioritäten setzen. Unser Chef lobt noch meine Freundlichkeit, Eigeninitiative und Lösungsorientiertheit, denn ich finde immer Wege, auch ungewöhnliche. Außerdem verfüge ich wohl über ein sehr gutes Transfer- und um die Ecke denken (lacht).
Welche Eigenschaften abseits vom Fachwissen sollte man für die Tätigkeit in einer Zahnarztpraxis auf dem Dorf deiner Meinung nach mitbringen?
Nettigkeit, Authentizität, Aufgeschlossenheit, Einfühlungsvermögen. Ein Menschenfreund sollte man sein und zuhören können.
Aus wie vielen Mitgliedern besteht das Praxisteam aktuell?
Drei in der Praxis (davon zwei in Teilzeit) und zwei Kolleginnen im Mutterschutz bzw. Elternzeit. Außerdem haben wir noch Minijobber als Aushilfen für das Labor, die Buchhaltung sowie Reinigung.
In welchen Situationen siehst du die kleine Teamgröße als Vorteil, wann vielleicht auch als Nachteil?
Je kleiner das Team, desto weniger Informationsverluste und desto kürzer die Entscheidungswege. Schön sind auch die gemeinsamen Mittagspausen in gewohnter Runde. Als größten Nachteil sehe ich, dass kurzfristige Ausfälle in so einem kleinen Team schwer bis gar nicht zu kompensieren sind.
Schwangerschaft der Kollegin, Urlaubsantrag, Nachwuchssuche – wie leicht bzw. schwer lassen sich diese Punkte in einer kleinen Praxis regeln?
Des einen Freud … Natürlich ist das unerwartet kurzfristige Ausscheiden einer Kollegin in so einem kleinen Team nicht leicht und auch nicht sofort zu kompensieren. Wie für alles im Leben gibt es dennoch eine Lösung – wenn auch nicht immer von heut auf morgen. Und ganz ehrlich: Nach dem ersten Schock freuen wir uns auf und über die neuen Praxisbabys! Über die Urlaubsplanung reden wir miteinander und finden auch einmal einen Kompromiss. Beim Urlaub kommt aber bei uns niemand zu kurz – getreu dem Motto: work hard – play hard.
Die Nachwuchssuche ist in der Branche allgemein schwierig und am Land nahezu aussichtslos. Für das Image dieses so schönen und anspruchsvollen Berufs wurde aber auch jahrzehntelang nichts, rein gar nichts, getan. Ja, ihr Standesvertretungen, Kammern und all jene, die von meinem Chef und allen anderen Zahnärzten finanziert werden – ihr seid gemeint! Wir schauen gerade über den Tellerrand und stehen in Kontakt mit einer jungen Frau aus Persien, die wir gerne ausbilden würden. Wenn es klappt, erwartet uns die nächste spannende Geschichte.
Die Praxiswebsite unterscheidet sich deutlich von klassisch-informativen Websites der dentalen Zunft: Man ist per du und setzt vor allem auf die zwischenmenschlichen Aspekte, die den Spaß bei der Arbeit und abseits davon zeigen ...
Wir gehen davon aus, dass so mancher Zahnarzt seine Tätigkeit beherrscht, und wer hätte das gedacht – Zähne macht. Die Informationen zu Behandlungsabläufen etc. – liest das wirklich jemand? – holt sich der Patient sowieso aus dem Internet oder noch besser direkt in der Praxis. Ergo dachten wir: Was ist wichtig für den Patienten? Die Telefonnummer, die Erreichbarkeit, ein kurzer Auszug aus dem Behandlungsspektrum und ein Schmunzeln.
Wie würdest du das Verhältnis zu deinem Chef und deinen Kolleginnen beschreiben?
Mit unserem Chef ist’s ein gutes Auskommen. Er ist ausgeglichen, freundlich und fachlich sehr kompetent. Dazu kommt, dass er gerne mit den „Ferraris“ an Technik arbeitet, sodass wir teils über modernere Geräte verfügen als so manche Großpraxis. Mit den Kolleginnen ist es so: Wir verstehen uns gut, das geht in so einer kleinen Praxis nicht anders. Am liebsten arbeiten wir vergnügt, sonst würden wir uns ja das halbe Leben versauen.
In einem Ort, in dem sich fast jeder kennt: Welche Rolle kommt dir als Zahnfee zu?
Ich wohne nicht im Ort. Dennoch kam es schon vor, dass ein Patient zur Veranschaulichung seines Problems die Zähne vor mir auf den Tresen beim Metzger legte.
Vermutlich nehmen auch mal Freunde auf dem Behandlungsstuhl Platz – Was empfindest du dabei?
Hiasi, solltest du das lesen, es entspricht der Wahrheit und nichts als der Wahrheit. Der Hiasi ist der komplizierteste Patient, den man sich vorstellen kann. Er weiß seine Termine nie, weil er sie sich nicht notiert, sondern angeblich merkt – aha. Und er ist eine Diva und eine Mimose, jawohl. Er will hofiert werden. Und es kam vor, dass der Hiasi vor Ort beschloss, dass wir die geplante zweistündige Behandlung jetzt doch nicht beginnen können – ihm wäre gerade nicht danach.
Aber: Hiasi, die Weißwürste, die du mitbringst, sind Weltklasse! Und wir werden immer Freunde sein – und wenn wir alt und vergesslich sind, können wir uns noch einmal anfreunden.
Thomas: Du bist brav, pünktlich, unkompliziert, charmant, lustig und zahlst deine Rechnungen prompt. Mein Traumpatient.
Gab bzw. gibt es manchmal Konflikte aufgrund des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen dir und den Patienten?
Vor Kurzem führte ich ein längeres Telefonat mit einer Patientin, als plötzlich ein älterer Patient vor mir an der Anmeldung steht – ohne einen Termin zu haben. Ich sage „einen kleinen Moment bitte“ und telefoniere weiter. Da höre ich ihn auch schon seufzen. Eine Minute später: „Dauert’s noch lang?“ Ich schicke ihn also derweil ins Wartezimmer. Endlich ist das Telefonat beendet und ich erkundige mich nach seinem Begehr. „Ach, ich war grad spazieren und dachte, ich schau einmal vorbei.“
Was sind die Vorteile der Arbeit in einer Landpraxis für dich?
Vorteile? (lacht) Doch, es gibt welche, und zwar: Die Leute/unsere Patienten sind super, dazu die traumhafte Landschaft: Wir schauen über eine Kuhweide in die Alm- und Bergkulisse – hier sind Heimatfilme keine Erfindung und den Land(zahn)arzt – es gibt ihn! Wir genießen die Langlaufloipe vor der Haustür und die Pausen in der wärmenden Wintersonne. Besonders schön ist es auch, wenn sich die Patienten für die Behandlung bedanken, eine nette Karte schreiben. Ein Patient bringt uns regelmäßig seine selbst gebackenen Kiacherl – ein Hochgenuss! An meinem Geburtstag lag ein Kosmetik-Gutschein im Praxis-Briefkasten. Wie nett ist das?!
Vorige Woche holten zwei Kinder, ein Teenager und die kleine Schwester im Kindergartenalter, die Mama in der Praxis ab. Die beiden kamen vom Kasperletheater, der Große war so lieb, mit seiner Schwester hinzugehen. Ein paar Minuten mussten die Zwei noch auf die Mama warten und als ich danach ins Wartezimmer kam, hatten sie die zwei Kuscheltiere aus der Spielekiste drapiert – das große Kuscheltier umarmte das kleine (lächelt).
Wie steht es um Fortbildungsmöglichkeiten?
Na, mobil solltest du schon sein oder zumindest Zugfahren mögen. Und wir haben auch Strom in Fischbachau und sogar Internet (lacht).
Siehst du auch Nachteile an deiner Arbeit auf dem Land?
Der Arbeitsweg ist für mich lang. Und wenn ein Patient mit dem Traktor mit Anhänger zur Behandlung kommt – kein Witz – sind unsere Parkplätze mit einem Mal alle belegt.
Hast du schon einmal in einer Praxis in der (Groß-)Stadt gearbeitet und wenn ja, wie lange?
Nicht in einer Praxis, aber in München in größeren Unternehmen.
Was war der Grund zu wechseln?
Diese kleine überschaubare Arbeitswelt von Anfang an mitgestalten zu können, war der Grund. Und die anfangs angepeilte Vier-Tage-Woche – ist für alle außer für mich eingetreten.
Würdest du gern mal (wenn auch nur zeitweise/aushilfsweise/zur Probe) in einer Großstadtpraxis arbeiten?
Na klar! Unser Chef kommt ursprünglich aus einer größeren Praxis und die Entscheidung, eine kleine Landpraxis hier in den schönen oberbayrischen Bergen zu führen, wurde ganz bewusst gefällt.
Wenn ja, warum/welche Unterschiede würdest du vermuten? Warum?
Um etwas Neues kennenzulernen. Ich vermute mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Ein Unterschied könnte sich aus mehreren Behandlern in einer Großpraxis ergeben, also unterschiedliche Persönlichkeiten, auf die man sich einstellen sollte – auch als Patient. Ich persönlich wollte als Patientin früher nicht in Großpraxen behandelt werden. Mein ehemaliger Zahnarzt betrieb eine winzige Praxis in München, noch kleiner als unsere in Fischbachau. Über zwanzig Jahre lang hatte ich dort immer dieselben Ansprechpartner – wie schön und vertraut.
Die Praxis in Fischbachau liegt auf halbem Weg zwischen dem Schliersee und dem 1.838 Meter hohen Wendelstein als Ausläufer der Bayerischen Alpen – du arbeitest also da, wo andere Urlaub machen. Welche Vorteile ergeben sich daraus für deine Freizeitaktivitäten?
An einem Sommerabend ganz allein auf dem Gipfel des Breitenstein – dem kleinen Bruder des Wendelstein – zu sitzen, im Osten der aufgehende Mond, die Sonne versinkt bald, vor dir der Alpenhauptkamm und hinter dir die große Ebene, das Münchner Umland und das Inntal: Da geht dir das Herz auf, da fühlst du dich wie der König der Welt. Und bist doch nur Sternenstaub, wie Prof. Lesch so schön sagt.
Welche Ziele hast du dir für deine berufliche Zukunft gesteckt?
Ich mag, was ich tu. Mein Ziel ist es trotzdem (wenigstens zum Teil), ersetzbar zu werden, und dann schnapp ich mir das nächste Projekt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Beitrag ist in der Publikation Zahnärztliche Assistenz erschienen.