Branchenmeldungen 23.06.2017
Zahnbewegungsbeschleunigung im Fokus
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Vom 5. bis 10. Juni fand im Schweizer Montreux der diesjährige Kongress der European Orthodontic Society statt. Glaubt man den Angaben der Organisatoren, lockte das traumhaft schön gelegene, jedoch recht preisintensive Montreux in diesem Jahr etwas weniger Besucher zum EOS-Kongress. Dies machte sich vor allem bei den ausstellenden Firmen bemerkbar (55 gegenüber 66 in 2016). Aber auch bei den teilnehmenden Kieferorthopäden war ein leichter Rückgang gegenüber Stockholm im letzten Jahr zu verzeichnen (1.871 statt rund 2.000). Nichtsdestotrotz bleibt das diesjährige Event als rundum gelungene Veranstaltung in Erinnerung, das mit einem Vortragsprogramm aufwartete, das mit hochkarätigen Keynote-Speakern besetzt war und viele interessante Beiträge bot.
Wissenschaftliches Vortragsprogramm
Den Einstieg absolvierte Prof. Dr. Hans-Peter Bantleon (Wien), der die Sheldon Friel Memorial Lecture zum Thema „Where we are in orthodontics, where we are going?“ hielt. Darin präsentierte er Ergebnisse diverser Studien, u. a. zur Messung von Kräften und Momenten während Multibandbehandlung (SLB vs. konventionelle Brackets), stellte Behandlungslösungen prospektiver randomisierter klinischer Studien für den Lückenschluss und die Therapie offener Bisse vor und gab Empfehlungen für die Retention. Zudem ging er auf das aktuelle Thema der Beschleunigung von Zahnbewegungen ein. Hierzu präsentierte er z. B. die Ergebnisse einer Studie (Falkensammer et al., Clin Oral Invest [2014] 18:2187–2192) bezüglich des Einflusses von extrakorporaler Stoßwellentherapie (ESWT) auf die kieferorthopädische Zahnbewegung. Sein Resümee: Die Berücksichtigung biomechanischer Prinzipien ist für eine vollständige Kontrolle von Zahnbewegungen unabdingbar, das gilt auch für maßgeschneiderte individualisierte KFO-Apparaturen. Alignerbehandlungen erfordern den Einsatz spezieller Attachments, um Zähne korrekt in die angestrebte Position zu bewegen. Sowohl heute als auch in Zukunft werden das intraorale Scannen sowie eine Kombination aus konventioneller KFO-Behandlung, lingualer Therapie und Alignertherapie basierend auf kraftübertragenden Systemen der Schlüssel zum Erfolg sein. Zudem stellte er fest, dass eine Behandlung mit Beta-Titanium-Reverse-Curve-Bögen zu ähnlichen Zahnpositionen führt wie sie durch Einsatz von Multiloop-Bögen aus Elgiloy (Kobalt-Chrom-Nickel-Legierung) erreicht werden können. Und was die Behandlung mit Stoßwellen angeht, scheint diese die Zahnmobilität schneller abzubauen und einen positiven Effekt auf die Plaquekontrolle zu haben.
Eine neue Methode zur Überlagerung und Messung maxillärer digitaler 3D-Modelle stellte Dr. Niels Ganzer (Malmö) vor. Diese ist in der Lage, mögliche Veränderungen anatomischer Strukturen des Gaumens, die aufgrund von Wachstum oder einer Behandlung auftreten können, zu kompensieren. Die morphologischen Veränderungen werden da bei mittels Deformationsanalyse erfasst, die auf einem Algorithmus basiert, der Deformationsbereiche identifiziert und daher – in einem zweiten Schritt – ausschließlich unveränderte Bereiche für die Überlagerung verwendet. Im Rahmen einer Studie testeten Ganzer und Kollegen die Validität und Zuverlässigkeit dieser neuen Methode mit dem Ergebnis, dass diese ein aussagekräftiges und zuverlässiges Tool für die Messung von Zahnbewegungen im Oberkiefer darstelle und selbst dann Resultate mit ausgezeichneter Genauigkeit biete, wenn morphologische Veränderungen aufgrund von Wachstum oder einer kieferorthopädischen Behandlung auftreten.
Einem der beiden Hauptthemen des Kongresses – „Der Alveolarfortsatz als Grenze für die kieferorthopädische Zahnbewegung“ widmete sich der aus biologischer Perspektive gehaltene Vortrag von Prof. Dr. Jaap C. Maltha (Nijmegen). Auch wenn bekannt sei, so Maltha, dass z. B. Veränderungen der Inklination der Schneidezähne aufgrund kieferorthopädischer Therapie zu gingivalen Rezessionen führen können, würde diesem negativen iatrogenen Nebeneffekt oft nicht genügend Beachtung geschenkt. Gründe hierfür sieht er vor allem in der meist unzureichenden Studienlage, wie er anhand diverser systematischer Reviews verdeutlichte. Mit Blick auf verschiedene (histologische) Untersuchungen verdeutlichte Maltha die biologischen Prozesse, welche bei unbehandelten sowie in kieferorthopädischer Therapie befindliche Patienten zur gingivalen Rezession führen können. Dabei stellte er insbesondere die Effekte mechanischer Interventionen auf das Parodontalligament, den Umbau von Alveolarknochen und Weichgewebe in den Mittelpunkt und verdeutlichte zudem den Effekt klinisch therapeutischer Interventionen. Der „bony envelope“ ist in der Lage, sich den verändernden Zahnpositionen anzupassen, so Maltha, sofern ihm dazu Zeit und Raum gegeben werden. Für dessen Anpassung sowie zur Vermeidung von Rezessionen sei jedoch ein gut funktionierendes Periost, Bindegewebe und Epithel essenziell. Den Schlüssel zu den am besten geeignetsten Behandlungsmechaniken sieht er nicht nur im Belassen der Wurzeln innerhalb des Alveolarfortsatzes, sondern auch darin, solche Voraussetzungen zu schaffen, die eine erfolgreiche Anpassung von Periost und Knochen gewährleisten. Erfordern bestimmte Behandlungssituationen die kieferorthopädische Expansion außerhalb des Envelopes, erscheint eine Augmentation des Weichgewebes vor Therapiebeginn sinnvoll, oder aber man ändert den Behandlungsplan insofern, dass er die Voraussetzungen für eine erfolgreiche biologische Anpassung erfüllt.
Als zweites Hauptthema des Kongresses hatten die Organisatoren die „Chirurgisch unterstützte kieferorthopädische Zahnbewegung“ gewählt. Hier zu bot Prof. Dr. Peter Buschang (Dallas) einen umfangreichen Überblick über verschiedene chirurgische Verfahren zur Unterstützung von Zahnbewegungen und zur Förderung der Knochenbildung. Dabei ging er insbesondere auf die Kortikotomie ein, welche auf einer beabsichtigten lokalen Schwächung des kortikalen Knochens beruht, in deren Folge es zu einem regionalen Beschleunigungsphänomen (Regional Accelerated Phenomenon, RAP) kommt, das durch Erhöhung des Stoffwechsels des Knochens und seiner Demineralisierung letztlich zu einer schnelleren Bewegung der Zähne durch den geschwächten Knochen führt. Jedoch sei die Dauer dieses Effekts limitierter als allgemein angenommen (max. zwei bis drei Monate), so Buschang, daher sollte die Kortikotomie durchgeführt werden, wenn die größten kieferorthopädischen Zahnbewegungen benötigt werden. Am wichtigsten erscheine hierbei der Fakt, dass der Umfang der Veränderungen vom Ausmaß der Schwächung abhänge. Je größer diese ist, desto umfangreicher seien die knöchernen Effekte und die Zahnbewegungen. Zudem verdeutlichte Buschang, dass die periostale Durchblutung elementar wichtig für eine schnellere Zahnbewegung sei, weshalb ein Eingriff mit Lappenbildung allein schon eine wichtige Rolle spiele. Verfahren, die versuchen, den Kortikalknochen ohne Lappenbildung zu verletzen – die weniger invasiven Ansätze (z. B. Mikro-Osteoperforationen [z. B. PROPELTM]) – seien hingegen als problematischer zu sehen. Denn sofern lappenlose Eingriffe nicht sowohl die Kortikalis als auch das Knochenmark erheblich schwächen, sei keine Zunahme des Zahnbewegungsumfangs zu erwarten.
Die Ergebnisse einer Mikro-CT-Studie, welche die Effekte von Mikro-Osteoperforationen bei Anwendung der PROPELTM-Apparatur bei kieferorthopädisch induzierter Wurzelresorption untersuchte, stellte Prof. Dr. M. Ali Darendeliler (Sydney) vor. Gegenstand der Untersuchung waren 20 Probanden, deren im Rahmen ihrer KFO-Behandlung die oberen ersten Prämolaren extrahiert werden sollten. Vor der Extraktion wurde für die Dauer von vier Wochen eine Kraft von 150 g an beiden oberen Prämolaren appliziert, die diese nach bukkal kippen sollten. Auf einer Seite wurde parallel die PROPEL-Apparatur eingesetzt, wobei die Mikro-Osteoperforationen (MOPs) in einer Tiefe von 5 mm auf der mesialen und distalen Seite im mittleren Wurzelbereich erfolgte. Nach 28 Tagen wurden beide Prämolaren extrahiert, mittels Mikro-CT gescannt und das Ausmaß der aufgrund der MOP entstandenen Wurzelresorptionskrater mit den Prämolaren der Kontrollgruppe verglichen. Das Ergebnis zeigt, dass die Anwendung von MOPs im Umfeld der kieferorthopädisch bewegten Prämolaren zu signifikant mehr (42 Prozent) Wurzelresorptionen führte. Des Weiteren präsentierte Darendeliler die Resultate einer weiteren Studie, die die Effekte bei Anwendung des PiezocisionTM-Verfahrens und MOP bei der Distalisation von Eckzähnen untersuchte. Klinisch (Beschleunigung der Zahnbewegung) konnte er hierbei keine signifikanten Unterschiede feststellen.
Hinsichtlich Wurzelresorption verwies der Referent darauf, dass beide Techniken das Ausmaß der Wurzelresorption erhöhen können, wobei bei der Piezocision-Technik zudem das Risiko der Beschädigung benachbarter Wurzeln besteht. Sein Resümee: Bei Patienten mit einem hohen Risiko für Wurzelresorptionen müssen Behandler zwingend aufpassen, wenn Sie bei Anwendung von Kortikotomie, Piezocision und MOP den Effekt des regionalen Beschleunigungsphänomens (RAP) ausnutzen wollen. Zudem müsse die Prozedur wiederholt werden. Bezüglich der klinischen Effekte (Beschleunigung von Zahnbewegungen) bedarf es definitiv weiterer Studien.
Auch die Vorträge von Prof. Dr. Flavio Uribe (Connecticut), der die Ergebnisse diverser klinischer
Studien und tierexperimenteller Untersuchungen hinsichtlich der Beschleunigung von Zahnbewegungen bei regionaler Schwächung des Alveolarknochens auswertete, und Prof. Dr. Raffaele Spena (Neapel), der eine etwas andere Sichtweise auf die Zahnbewegungsbeschleunigung und Reduzierung von Behandlungszeiten präsentierte, waren in diesem thematischen Zusammenhang hochinteressant.
Die EJO Open Session, eine vom Herausgeber des European Journal of Orthodontics (David Rice) geleiteten Diskussionsrunde, fasste das Thema der Beschleunigung von Zahnbewegungen dann noch einmal abschließend zusammen. Dr. Padhraig Fleming (Kieferorthopäde, London), Dr. Alpdo an Kantarci (Parodontologe, Cambridge) und Prof. Dr. Martyn Cobourne (Kieferorthopäde, London) legten dabei ihre ganz persönliche Sicht zum Thema dar. Während Fleming z. B. auf die nicht unerheblichen Risiken verwies, die insbesondere mit invasiveren Methoden verbunden sind, und die Frage stellte, welcher Preis letztlich gezahlt werden müsse, um ein wenig effektiver zu sein, sah Kantarci in der Anwendung der Photobiomodulation durchaus eine (vor allem bei parogeschädigten Patienten) sichere Alternative zu chirurgischen Eingriffen. Cobourne widmete sich dem Einsatz von Vibrationsgeräten (z. B. AcceleDentTM oder VPro5®), wobei er u. a. provokant in den Raum stellte, ob 1 mm mehr an Zahnbewegung tatsächlich die vielen Stunden rechtfertigten, in denen die Patienten solch Geräte im Mund tragen müssen. Er sehe hier keinen signifikanten Effekt. Auf die abschließende Frage des Moderators an die drei Referenten, ob für sie die Beschleunigung von Zahnbewegungen mehr als ein Placeboeffekt sei, antworteten Fleming und Cobourne entsprechend mit Nein. Lediglich Kantarci bejahte, stellte jedoch klar, dass es unerlässlich sei, die Biologie jeder einzelnen Methode umfassend zu begreifen.
Abschließend sei an dieser Stelle noch auf einen Vortrag zum Thema „Biofilmmanagement“ verwiesen. Prof. Dr. Yijin Ren (Groningen) stellte dabei einen neuen Ansatz zur Bekämpfung bakterieller Biofilme vor. Über 60 Prozent aller von Ärzten behandelten Infektionen beim Menschen seien auf Biofilme zurückzuführen, so Ren, wobei der am meisten untersuchte Biofilm die dentale Plaque mit über 700 verschiedenen Bakterienspezies sei. Im Rahmen kieferorthopädischer Behandlungen bilden z. B. bei festsitzenden Apparaturen die Klebeüberschüsse im Bracketumfeld aufgrund ihrer rauen Oberfläche optimale Voraussetzungen für die Akkumulation von Plaque. Aber auch an herausnehmbaren Geräten oder geklebten Retainern komme es zur Plaquebildung. Ren’s Institut hat ein biokompatibles, 3D-druckbares antibakterielles Kompositmaterial entwickelt, welches schädliche Bakterien bei Kontakt abtötet. Dieses zum Patent angemeldete Komposit behält seine Wirkung und mechanischen Eigenschaften auch nach dem 3D-Druck bei, sodass es insbesondere für die Herstellung von oralen/medizinischen Geräten von großem Interesse ist.
Industrieausstellung
Wie eingangs erwähnt, war die diesjährige Industriemesse spürbar reduziert. Einige (auch große) Firmen waren gar nicht erst angereist, andere präsentierten sich im ungewohnt kleinen Umfang. Was die Neuheiten angeht, gab es – bis auf eine Ausnahme – eigentlich nichts, worüber in der KN nicht schon im Rahmen vorheriger Kongressnachlesen (IDS, AAO) berichtet wurde. Insofern soll hier nur eine Innovation vorgestellt werden, welche die Firma Promedia präsentierte. Mit TADmatch wird voraussichtlich zur DGKFO ein neues Modul innerhalb der bekannten Behandlungssoftware OnyxCeph3TM verfügbar sein, das einen digitalen Workflow zur optimierten Positionsplanung von Miniimplantaten (neben OrthoLox künftig auch weitere Systeme in der Bibliothek verfügbar) ermöglicht. Die Planung der Minischraubenpositionen erfolgt hierbei in Relation zu virtuellen Modellen und zusätzlichen 2D- und 3D-Bildvorlagen. Somit kann die Anfertigung skelettal verankerter KFO-Apparaturen als eigenständiger digitaler Arbeitsablauf (FRS – dessen digitale 3D-Ansicht – digitale Schraubenpositionierung – 3D-Druck OK-Modell inklusive Position der Bohrhülsen – Herstellung Tiefziehfolie inklusive Bohrhülse) in der Praxis eingegliedert
werden.
Ausblick
Der nächste EOS-Kongress findet vom 17. bis 21. Juni 2018 in Edinburgh statt. Tagungspräsident
ist Dr. Dirk Bister.