Branchenmeldungen 08.08.2024
Zirkoniumdioxid im Fokus: Leitlinie bringt Klarheit
share
Die Deutsche Gesellschaft für Implantologie (DGI) hat im Februar 2024 die weltweit erste S3-Leitlinie zu Keramikimplantaten vorgestellt und damit deren positive Erfolgs- und Überlebensraten hervorgehoben. Im Interview erklärt Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz die Hintergründe und Herausforderungen dieser innovativen Therapieoption und gibt Einblicke in die Zukunft der Implantatforschung.
Die Leitlinie bestätigt, dass einteilige Keramikimplantate auf Zirkoniumdioxidbasis eine valide und einsatzreife Alternative zu Titanimplantaten darstellen, obwohl Langzeitdaten die von Titanimplantaten noch nicht erreichen. Die Qualität und Stabilität der Keramikimplantate hängen stark von den Produktionsverfahren der Hersteller ab. Während präklinische und klinische Studien positive Ergebnisse zur Osseointegration zeigen, gibt es noch keine evidenzbasierten Aussagen zur Plaqueakkumulation und dem Periimplantitisrisiko. Das macht eine besondere Aufklärung der Patienten erforderlich.
Wie wurde die Leitlinie zur Verwendung von Keramikimplantaten entwickelt und welche Herausforderungen traten dabei auf?
In der Zahnmedizin, insbesondere in der Implantologie, sind Innovationen von großer Bedeutung, ähnlich wie in der Humanmedizin. Diese Neuerungen treiben den Fortschritt voran. Allerdings stellen wir als Deutsche Gesellschaft für Implantologie (DGI) fest, dass Innovationen oft nicht langsam und stetig, sondern unter erheblichem Marktdruck und teilweise mit überzogenen Behauptungen eingeführt werden. Insbesondere bei Keramikimplantaten, die als grundsätzlich überlegen dargestellt werden, sehen wir uns verpflichtet, die wissenschaftlichen Grundlagen zu überprüfen und daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Die Entwicklung der Leitlinie erfolgte nach den strengen Kriterien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die auf der besten verfügbaren Evidenz und Empirie basieren. Dies bedeutet, dass zunächst eine systematische Literaturrecherche durchgeführt wird, bei der etwa 90 Prozent der anfänglich einbezogenen Studien aufgrund mangelnder Relevanz oder Qualität ausgeschlossen werden. Übrig bleibt eine qualitativ hochwertige Auswahl an Literatur, die nach Methoden wie der GRADE- oder Oxford-Methode analysiert und bewertet wird. Nach dieser Auswertung erarbeitet eine federführende Autorengruppe einen Fließtext, der die wesentlichen Themen erläutert. Am Ende dieses Prozesses werden aus dem Text konkrete Statements oder Handlungsempfehlungen abgeleitet, die in der Leitlinie in Form von optisch hervorgehobenen Kästen präsentiert werden. Die größte Herausforderung bestand darin, den Markt- und Innovationsdruck zu bewältigen und sicherzustellen, dass die Empfehlungen auf robusten wissenschaftlichen Grundlagen und nicht auf unbelegten Überzeugungen basieren. So können wir den Patienten die bestmöglichen Behandlungsoptionen bieten.
Über welchen Zeitraum erstreckt sich die Entwicklung einer solchen Leitlinie?
Die Entwicklung einer neuen Leitlinie ist ein langwieriger Prozess, der in der Regel mehrere Jahre in Anspruch nimmt. Es kann durchaus fünf Jahre dauern, bis eine Leitlinie erstmals final auf der Homepage der AWMF veröffentlicht wird. In manchen Fällen können auch drei Jahre vergehen, insbesondere wegen des umfangreichen Konsensprozesses, der notwendig ist. Ein Beispiel hierfür ist die Konsensuskonferenz, die wir kürzlich über zweieinhalb Tage im Schloss Ahrenthal/Sinzig für vier neue Leitlinien abgehalten haben. Dabei sind drei wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der AWMF anwesend, die die Methodik prüfen und den Prozess begleiten. Nach der methodischen Überprüfung geht die Leitlinie nochmals durch die Vorstände der beteiligten Gesellschaften und wird abschließend redaktionell bearbeitet. In den letzten 20 bis 25 Jahren hat der Aufwand für die Erstellung von Leitlinien stetig zugenommen. Dies liegt vor allem daran, dass die Entstehung von Leitlinien streng überwacht wird, um Interessenkonflikte zu vermeiden. Es wird darauf geachtet, dass keiner der Autoren versteckte Eigeninteressen verfolgt, beispielsweise indem jemand eine Formulierung bevorzugt, die ihm oder seinem Unternehmen finanziellen Vorteil verschafft. Bei der Entwicklung der Leitlinie für Keramikimplantate gab es spezielle Herausforderungen. In den 1980er- und 90er-Jahren wurden Keramikimplantate erstmals eingeführt, verschwanden aber wieder vom Markt, da sie unter Kaudruck häufig brachen und aufwendig entfernt werden mussten. Heute sprechen wir jedoch über eine neue Generation von Keramikimplantaten, die aus Zirkonoxidkeramik bestehen. Dieses Material ist deutlich stabiler und weniger bruchanfällig, was eine wesentliche Verbesserung gegenüber den früheren Keramikimplantaten darstellt.
Wie beurteilen Sie persönlich die aktuelle Evidenzlage bezüglich der Langzeitstabilität und Wirksamkeit von Keramikimplantaten im Vergleich zu Titanimplantaten?
Die Evidenzlage für einteilige Keramikimplantate ist inzwischen so gut, dass eine Empfehlung ausgesprochen werden konnte. Diese Implantate haben eine ähnliche Indikationsbreite wie Titanimplantate und können in denselben Situationen eingesetzt werden. Angesichts der Tatsache, dass Keramikimplantate der neueren Generation noch nicht lange auf dem Markt sind, ist das eine beeindruckende Aussage. Bei zweiteiligen Keramikimplantaten ist die Evidenzlage hingegen noch wesentlich dünner. Für diese Implantate liegen noch keine Langzeitdaten vor, wobei wir hier von einem Mindestzeitraum von fünf Jahren sprechen. Zum Zeitpunkt der Erstellung der Leitlinie gab es diese Daten noch nicht. Deshalb ist die Empfehlung für zweiteilige Keramikimplantate sehr zurückhaltend: Sie sollten nur nach eingehender Aufklärung verwendet werden. Ein weiterer Aspekt ist der vermeintliche Vorteil von Keramikimplantaten in Bezug auf Entzündungen. Es wurde oft behauptet, dass Keramikimplantate weniger Entzündungen auslösen. Diese Behauptung konnte wissenschaftlich jedoch nicht belegt werden. Studien haben gezeigt, dass die Plaqueakkumulation an Keramikimplantaten nicht geringer ist als an Titanimplantaten. Die Leitlinie räumt somit auch mit der Überzeugung auf, dass Keramikimplantate biologisch besser mit Weichgewebe interagieren. Wissenschaftlich lässt sich dies zum jetzigen Zeitpunkt nicht bestätigen.
Welche spezifischen Aspekte der Patientenaufklärung halten Sie in diesem Zusammenhang für besonders wichtig, insbesondere im Hinblick auf die Verwendung von zweiteiligen Keramikimplantaten und die fehlenden Langzeitdaten?
Die Aufklärung beginnt damit, dem Patienten ehrlich zu sagen, dass die Überlegenheit von Keramikimplantaten gegenüber Titanimplantaten bisher eine unbewiesene Hypothese ist. Titanimplantate haben eine langjährige, umfangreiche Forschung hinter sich und sind durch zahlreiche evidenzbasierte Studien und empirische Daten gut abgesichert. Sie gelten daher als sehr zuverlässiges medizinisches Material. Es ist auch wichtig zu erklären, dass theoretisch eine Materialunverträglichkeit gegenüber Titan nicht ausgeschlossen werden kann. Eine „echte“ Titanallergie gibt es jedoch nicht und es gibt keine prädiktiven Tests dafür. Sollte eine Unverträglichkeit auftreten, würde man dies erst nach der Implantation feststellen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist extrem gering.
Wie gehen Sie bei der Aufklärung über Keramikimplantate vor, besonders wenn Patienten nach der langfristigen Sicherheit fragen?
Bei der Aufklärung über Keramikimplantate müssen wir darauf hinweisen, dass diese eventuell keine Unverträglichkeiten verursachen und daher eine Alternative für Patienten darstellen können, die eine Unverträglichkeit gegenüber Titan haben. Allerdings gibt es auch hier keine prädiktiven Tests. Wir müssen ehrlich sein und erklären, dass die Datenbasis für Keramikimplantate nicht so umfangreich ist wie die für Titanimplantate. Dies bedeutet, dass in den nächsten Jahren noch unerwartete Ergebnisse auftreten können. Besonders bei zweiteiligen Keramikimplantaten ist die Evidenzlage noch dünn und wir haben keine Langzeitdaten von fünf Jahren oder mehr. Auch haben sich Keramikimplantate in den letzten Jahren immer wieder geändert, was die Vergleichbarkeit der Studien erschwert. Bei einteiligen Keramikimplantaten haben wir jedoch bereits Daten über mehr als fünf Jahre, die relativ stabil sind. Trotzdem müssen wir darauf hinweisen, dass aufgrund der kontinuierlichen Entwicklung und Modifikation von Keramikimplantaten noch Unsicherheiten bestehen. Abschließend sollte man den Patienten darüber informieren, dass Leitlinien regelmäßig aktualisiert werden. Neue Studienergebnisse fließen in den nächsten Jahren in die Empfehlungen ein, sodass die Leitlinie alle drei bis fünf Jahre überprüft und gegebenenfalls überarbeitet wird.
Wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung von Keramikimplantaten ein, insbesondere hinsichtlich weiterer Studien und möglicher Verbesserungen in Materialien und Herstellungsverfahren?
Ich glaube, dass an der Oberfläche und dem Design von ein- und zweiteiligen Keramikimplantaten nicht mehr viele grundlegende Veränderungen stattfinden werden. Vielmehr sehe ich Potenzial für Innovationen bei der Art der Verbindung von zweiteiligen Keramikimplantaten. Nun möchte ich betonen, dass dies meine persönliche Einschätzung ist, fernab der formalen Leitliniendarstellung. Es gibt viele, die glauben, dass Keramikimplantate ein Nischenprodukt bleiben werden. Diese Meinung teile ich nicht. Ich bin überzeugt, dass Keramikimplantate in den nächsten fünf bis zehn Jahren einen festen Platz auf dem Implantatmarkt einnehmen werden, ähnlich wie Titanimplantate. Aktuell machen Keramikimplantate etwa 3 bis 5 Prozent des Gesamtmarktes aus. Ich gehe jedoch davon aus, dass ihr Anteil auf bis zu 30 Prozent steigen könnte. Die Etablierung von Keramikimplantaten wird sich also fortsetzen und sie werden sich langfristig auf dem Markt behaupten.
Infos zur S3-Leitlinie Keramikimplantate
Dieser Artikel ist im ZWP spezial erschienen.