Patienten 07.06.2023

Bruxismus-Therapie: Mit Botulinum die Kaumuskeln entspannen?



Bruxismus-Therapie: Mit Botulinum die Kaumuskeln entspannen?

Foto: 9nong – stock.adobe.com

Bruxismus ist das unbewusste Zähneknirschen oder Zähnepressen, welches zu Zahnschäden und Schmerzen im Kiefer, und somit auch in die Praxen von Kieferorthopädie und Oralchirurgie führen kann. Die Behandlungsmöglichkeiten sind vielfältig. Weniger besprochen wird dabei, dass u. a. auch Botulinumtoxin in die Kaumuskeln injiziert werden kann, um diese zu entspannen und das Zähneknirschen zu reduzieren. Es ist jedoch wichtig, diesbezüglich einen qualifizierten Facharzt zu konsultieren und die Vor- und Nachteile dieser Behandlung sorgfältig abzuwägen. Alexander Heinicke ist ein solcher Facharzt – für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie mit der Zusatzbezeichnung Plastische Operationen – und bietet verschiedene Behandlungen, u. a. der plastisch-ästhetischen Medizin an. Er unterstreicht die Wichtigkeit besonders ausführlicher und anschaulicher Beratungen, um sicherzustellen, dass die jeweils richtige Therapie empfohlen bzw. vom Patienten gewählt wird. Im Interview erklärt er den Nutzen von Botulinum-Anwendungen bei Bruxismus.

Herr Heinicke, Sie befürworten den Einsatz von Botulinumtoxin zur Behandlung von Bruxismus. Ich könnte mir vorstellen, dass dies ein strittiger Lösungsansatz ist.

Botulinumtoxin zur Behandlung von Bruxismus ist ein Thema, welches juristisch immer wieder sehr kontrovers wahrgenommen wird, obwohl es Teil der aktuellen Leitlinien ist. Bekanntermaßen führen jedoch sprichwörtlich viele Wege nach Rom und in der Kieferchirurgie sehen wir natürlich vor allem jene Patienten, bei denen die konventionelle Therapie in den zahnärztlichen Praxen, entsprechende Funktionsdiagnostik oder Nutzung einer Aufbissschiene nicht funktioniert haben. Dieses Patientenkollektiv ist vorselektiert. Über 95 Prozent dieser Patienten haben eine hypertrophe Kaumuskulatur. Ich probierte schließlich die Behandlung mit Botulinumtoxin und habe diese, aufgrund von sehr guten Erfahrungen, schließlich immer weiter für mich etabliert.

Zum Mediziner-Netzwerk bei CMD und Bruxismus, welches vom Chirurgen, über Orthopädie bis hin zum Physiotherapeuten reicht, sollte demnach auch die ästhetische Medizin mit deren Möglichkeiten zählen?

Schlussendlich ist es wahrscheinlich unerheblich, wer genau diese Behandlung durchführt und dieser Behandlungsansatz ist sicherlich nichts für alle CMD-Patienten. Aber nehmen wir den Bruxismus in dessen epidemiologischer Bedeutung wahr, sprechen wir hierbei über eine echte Volkserkrankung. Die Gesamtproblematik bewegt sich in einem Bereich von 16 bis 19 Prozent – also ähnlich hoch wie bei Migräne.

Abb. 1: Bei der Injektion in den m. masseter von intraoral muss der m. buccinator passiert werden. © VectorMine – stock.adobe.com 

Die Patienten, die zu mir in die Beratung kommen, haben sehr häufig muskuläre Hypertrophien, eine Vielzahl leidet unter nächtlichem Bruxismus, oder ist tagsüber stark angespannt und presst. Die Palpation der m. masseters und temporales reproduziert die vom Patienten beklagte Schmerzsymptomatik. Auch wenn sie einen Patienten mit 25 Jahren Anamnese haben, müssen sie davon ausgehen, dass des sich um erlernten Schmerz, also eine chronische Thematik handelt, wo man an den Zielorganen wahrscheinlich nicht mehr viel machen kann. Es lohnt sich also wirklich, als Behandler sehr genau hinzusehen und -hören. Warum sollte man diese Therapie nicht ausprobieren? Stellen sie sich einen Patienten vor, der mit seinen Beschwerden schon von Pontius zu Pilatus ging, aber nichts half. Man verabreicht ihm Botulinum und weiß bereits nach vier bis 14 Tagen, ob eine Wirkung erzielt werden konnte. Die medizinische Anwendung von Botulinumtoxin erfolgt seit 1980 initial, zur Behandlung von Strabismus. Es gibt auch Hinweise darauf, dass es durchaus Interaktion zwischen peripher sensiblen Nerven und dem Botulinumtoxin gibt. Allerdings sieht man dies häufig bei den Migränepatienten, die gleichfalls eine Schmerzreduktion erlangten, obwohl man bei bestimmten Spritzschemata gar keine Muskulaturlähmung vorgenommen hat. Grundsätzlich sprechen wir aber von bereits über 40 Jahren Erfahrung mit einem Pharmakon, dessen Nebenwirkungen extrem gering sind. Was passieren kann, ist, dass man einen falschen Muskel anspritzt – es braucht also definitiv einen erfahrenen Behandler für diese Therapieform.

Wieso ist die Anwendung von Botulinum trotz guten Forschungsergebnissen und langer Existenz dennoch so verschrien? Weil es ein Gift ist?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen: Es ist in der Tat ein Gift. Eines, das aber als gängiges Medikament in das Repertoire der Medizin geraten ist. Dennoch schreckt das die Patienten natürlich ab. Sie müssen also unbedingt umfassend aufklären. Sie müssen dem Patienten lückenlos aufzeigen können, warum sie ausgerechnet dieses Mittel anwenden wollen, edukativ vorgehen und ihre Behandlungsstrategie auch in Relation zu anderen Möglichkeiten setzen. Ein weiterer Grund ist, dass die Botulinumtoxin-Gabe für Zahnärzte aufgrund der einschlägigen Gerichtsurteile der letzten Jahre etwas ist, was mit großen Unsicherheiten behaftet ist. Alle Gerichtsurteile bis dato besagen einstimmig, dass das Arbeitsfeld des Zahnmediziner vom Zäpfchen bis zum Lippenrot reicht. Behandelt werden sollen Krankheiten des Zahn- und Kieferbereichs. Dass man also die Finger von Stirnfalten lässt, sollte klar sein. Aber wenn man therapeutisch die Kaumuskeln beeinflussen kann, entspricht dies, meiner Meinung nach einem Heilversuch im Rahmen der Gegebenheiten der zahnärztlichen Approbation und der damit einhergehenden anatomischen Begrenzung, für eine Behandlung mit Botulinumtoxin. Definitiv aber gehört eine Musculus-Masseter-Fehlfunktion ohne Weiteres zu den Indikationsgebieten.

Zur Methodik: Sie sagten, es sollte intraoral gespritzt werden?

Ich persönlich finde es von extraoral bequemer, aber die Rechtssprechung favorisiert für Zahnärzte die Verabreichung intraoral und dem sollte man Folge leisten. Die Behandlung ist auch kein Hexenwerk. Sie bitten den Patienten, den Mund auzumachen und dann können sie hinter dem letzten Unterkiefermolar den aufsteigenden Ast des Unterkiefers tasten. Musculus pterygoideus medialis lassen sie in Ruhe und lateral setzt der Musculus Buccinator medial, also der Wangenmuskel, an. Lateral von diesem Muskel, also durch den Buccinator hindurch tastbar, befindet sich der Masseter. Mit dem Finger tastet man seitlich von dieser Knochenkante und kann palpatorisch durch den Buccinator wunderbar den Muskel injizieren.

Und wie hoch ist das Risiko, dass es dabei zu Nervenschäden kommen kann?

Der dauerhafte Nervenschaden bewegt sich im selben Risikobereich, wie bei einer Leitungsanästhesie. Wahrscheinlich ist das Risiko sogar geringer, als bei dieser. Es handelt sich zwar um ein neurotropes Gift, aber dies wirkt nur auf der Ebene der Acetylcholin vermittelten Übertragungen, von peripheren Nerven auf den Muskel, auf die Speichel- und Schweißdrüsen. Die größte Gefahr an dieser Stelle ist, dass man bei falscher Anwendung den Risorius, also den Muskel, mit dem man den Mundwinkel anzieht, lahmlegt. Diese Gefahr muss man dem Patienten vorher mitteilen.

Wieviel muss gespritzt werden, um eine adäquate Wirkung zu erzielen?

Ich spritze 25 Allergan-Einheiten pro Seite und beobachte, ob eine schmerzstillende bzw. schmerzmindernde Wirkung einsetzt. Eventuell kann man nach vier Wochen noch einmal nachspritzen.

Wie lange ist die Wirkungsdauer?

Bis zu sechs Monate. Sie haben hierbei, im Vergleich zur Gesichtsmotorik, eine fast doppelte Wirkzeit.

Würden Sie sagen, im zahnärztlichen Bereich mangelt es diesbezüglich an Aufklärung oder Fachwissen?

Vermutlich sind die 32 weißen Berge der Fokus. Hinzu kommt, dass für viele diese Einzelmuskelgruppen-Zulassungen der verschiedenen Botulinumtoxin-Präparate natürlich auch dazu führen, dass diese Therapieform für den Kassenzahnärztlichen Bereich schlecht praktikabel ist.

Ich empfinde dennoch diesen Ansatz der Behandlungsmöglichkeit durchaus als logisch.

Warum sollte man infrage stellen, ob ein Zahnarzt auch eine kaufunktionelle Störung behandeln darf?

Vielen Dank für das aufschlussreiche Interview.

Dieser Beitrag ist in dem OJ Oralchirurgie Journal erschienen.

Produkte
Mehr News aus Patienten

ePaper