Patienten 07.09.2020

„Ein Trauma kann bis ans Lebensende angetriggert werden“



„Ein Trauma kann bis ans Lebensende angetriggert werden“

Die Angst der Patienten vor Bohrer, Spritze oder Wurzelkanalbehandlung kennt jeder Zahnarzt – sie ist Teil des Praxisalltags. Nicht selten führt diese Angst aber dazu, dass Patienten Termine absagen oder jahrelang nicht zu einer Behandlung erscheinen. Kommen Sie dann doch, besteht eine gewisse Nervosität beim Praxisteam, wie man mit ihnen richtig umgehen sollte. Dr. Walter Weilenmann berichtet im folgenden Interview über seine langjährige Erfahrung und gibt wichtige Hinweise zur Therapie bei Angstpatienten.

Haben Sie regelmäßig Angstpatienten in Ihrer Praxis?

Meine Praxis hat einen guten Ruf bei Angstpatienten, weshalb überdurchschnittlich viele zu mir kommen. Sie erzählen mir jeweils, was sie erlebten. So hat ein Schulzahnarzt den Kopf eines Jungen mit seinem Arm eingeklemmt, Arme und Beine festhalten lassen und so eine Füllung gemacht. Ein Patient wurde mitten in der Sitzung aus der Praxis geschickt, weil er beim Bohren darum bat, doch wieder so sanft behandelt zu werden wie beim Termin zuvor. Jemand klagte über eine Lachgassedierung, die er nie mehr vergisst, ein anderer über fünf unwirksame Anästhesien in einer Sitzung. Angstabbau mit Zwang, chemischen Keulen und Zurechtweisungen funktioniert nicht. Unsere Methode basiert auf Reizarmut und Bestärkung des Patienten. So erübrigen sich Anästhetika und Medikamente.

Welche Gründe gibt es für die Angst der Patienten und wovor fürchten sie sich während der Behandlung am meisten?

Die am meisten gefürchteten Dinge sind international dieselben: Schmerzen, hohe Rechnungen und die Spritze. Die Ursache der Angst ist das unbewusste Angstzentrum, die Amygdala. Sie reagiert nicht nur auf Schmerzen und den Stich, sondern auf alle bedrohlichen Reize wie Druck, Kälte, Hitze, Vibrationen und Geräusche. Sie speichert und verknüpft diese mit der ganzen Umgebung, Körperhaltung, den Geräuschen usw. Zudem verursacht sie die Angstsymptome, die bei einem Trauma in die Abwehrreflexe „fight“, „flight“ oder „freeze“ münden. Nach dem Trauma fürchtet sich der Patient vor allen Details der Episode. Die zweite große Leistung der Amygdala ist die Angstübertragung von Mensch zu Mensch. Auslöser sind nicht die zuvor genannten Reize, sondern die Körperhaltung, Mimik und Sprechweise. Die Corona-Krise zeigt, dass sich Menschen ohne jeden sensorischen Reiz panisch verängstigen lassen. Angstübertragungen sind alltäglich. Der Gegenspieler der Angst ist der Präfrontalkortex mit dem Bewusstsein. Es sollte während der Behandlung dauernd aktiviert werden. Falsch macht es die Mutter, die ihr Kind beschwichtigt mit „Du musst keine Angst haben, das tut nicht weh“. Der Rat, die Eltern sollen ihr Kind zum Zahnarzt mitnehmen, damit es sich an ihn gewöhnen kann, ist kontraproduktiv, wenn sie selbst Angst haben.

Wie äußert sich diese Angst und gibt es bestimmte Zeichen, auf die das Behandlungsteam achten muss?

Es gibt sehr viele Zeichen der Angst. Kinder möchten z. B. gar nicht ins Behandlungszimmer kommen oder weigern sich, auf dem Stuhl zu sitzen. Sie kommen manchmal sogar weinend in die Praxis, während die Eltern pausenlos reden, um ihre eigene Angst zu überdecken. Unter solchen Bedingungen führe ich nie eine Behandlung durch. Vielmehr untersuche ich das Kind auf dem Schoss der Mutter oder im Wartezimmer. Und wenn es sich von mir abwendet, so bitte ich die Mutter, sie soll ihm in den Mund schauen und mir berichten, ob sie ein dunkles Grübchen sieht oder eine Frage hat. Liegt der Angstpatient auf dem Stuhl, so achten wir auf die klassischen Angstsignale, namentlich kalte Hände, heiße Stirn, flaches Atmen sowie Schweiß im Gesicht und/oder an den Händen. Das stärkste Angstsignal ist zugleich das schwächste: der „freeze“-Reflex. Er entsteht, wenn sich z. B. ein Kind „ergibt“ und die Behandlung regungslos über sich ergehen lässt. In Wahrheit ist das nicht eine gute Kooperation, sondern eine Angststarre. Nach einer solchen Behandlung wird das Kind zu Hause weinen und nicht erzählen können, was geschehen ist.

Zwei weitere halbbewusste Angstsignale sind der anhaltend offene und verschlossene Mund. Sie fallen auf, wenn die Öffnung nicht nötig ist, weil sich kein Instrument im Mund befindet, respektive die Mundöffnung nötig ist, weil die Behandlung beginnen sollte. Sehr wichtig sind feine ruckartige Abwehrbewegungen. Das sind Zeichen einer Überforderung. Sie entstehen häufig zu Beginn einer Sitzung und bei feinster Berührung. Aber der Patient liegt wie auf tausend Nadeln und alles, was die Amygdala an die Traumaepisode erinnert, ist konditioniert und löst Abwehrreflexe aus.

Sind bestimmte Altersgruppen besonders betroffen?

Auf der einen Seite ja, weil die Phobie meistens in der Kindheit entsteht. Auf der anderen Seite nein, da sie das ganze Leben anhält. Kinder haben die stärksten Abwehrreflexe. Sie beginnen, sich vor der Praxistüre, im Behandlungszimmer oder auf dem Behandlungsstuhl körperlich zu wehren. Ältere Patienten beherrschen sich besser, haben aber oft in der Nacht vor dem Termin ein Angstmaximum. Senioren-Angstpatienten staunen selbst, dass die Angst sie noch immer tage- oder gar wochenlang vor dem Termin quält. Deswegen unterlassen sie oft jahrelang jegliche Zahnbehandlung und erscheinen dann mit mehreren dringenden Zahnproblemen. Sowohl junge als auch alte Patienten können den Termin trotz unserer SMS-Erinnerung am Tag zuvor vergessen. Das interpretieren wir jeweils als ein Angstsignal.

Welche Methoden kennen Sie generell, um mit Angstpatienten umzugehen und welche empfehlen sich Ihrer Erfahrung nach?

Oft werden Medikamente wie Temesta zur Beruhigung empfohlen. Angstspezialisten arbeiten mit Sedativa, Narkosen und Hypnosen. Kinderzahnärzte lenken mit Film und Fernsehen von der Behandlung ab. Jeder Zahnarzt verwendet die Methode, die er am besten findet. Meine basiert auf der Reizarmut und Verstärkung der Kognition. Erstere geschieht durch feine, leichthändige, niedertourige, minimalinvasive, unblutige, langsame, kontrollierte sowie sorgfältig begonnene und beendete Manipulationen. Sie machen Anästhesien und Kofferdam weitgehend überflüssig. Die kognitive Bestärkung umfasst Erklärungen und Vereinbarungen sowie ein Handzeichen, mit dem der Patient die Behandlung bremsen und kontrollieren kann. Zudem gibt es einen Spiegel an der OP-Lampe, in dem die Behandlung beobachtet werden kann. Dieser wird auffallend oft gelobt.

Welche Maßnahmen ergreifen Sie ganz konkret etwa vor und während einer konservierenden Behandlung?

Der physiologische Angstabbau beginnt oft mit der mit warmem Wasser gefüllten 500 ml-PET-Flasche, um die kalten Hände zu wärmen. Sie wird oft lange Zeit mit beiden Händen umklammert. Auf die heiße Stirn legen wir das nasskalte „Wellness-Stirntuch“, das sich wirklich bei jedem Stress sehr wohltuend anfühlt. Bei verhaltenem Atem leiten wir den Patienten zur tiefen Atmung an. Dabei muss er seine Hand auf den Bauch legen, um die Atmung zu spüren. Beim verschlossenen Mund warte ich geduldig, bis er von selbst aufgeht. Erst dann hat der Patient nämlich Mut gefunden und seine Angst im Griff. Die Assistentinnen achten immer darauf, dass der Patient seinen Kopf bequem hält. Nicht nur beim vereinbarten Handzeichen, sondern auch bei jeder unwillkürlichen Bewegung unterbreche ich die Behandlung, frage nach und biete eine Pause an.

Die Verstärkung der Kognition beginnt mit der Frage, welchen Zahn der Patient reparieren möchte. Er muss jetzt eine Entscheidung fällen, was ihn kognitiv sehr aktiviert und nicht so einfach ist, weil die Amygdala ja maximal aktiv ist. Dann muss er den Mund öffnen, damit ich den Zahn sehen kann. Ich untersuche ihn sanft mit der Sonde und kann fast immer eine einfache Reparatur mit Komposit ohne Spritze vorschlagen. Ich erkläre ihm auch den Vorteil ohne Spritze, dass mir der Patient nur so signalisieren kann, wenn etwas unangenehm wird, bevor es richtig schmerzt. Auf seine Einwilligung folgt ein Lernprozess. Dieser beginnt mit dem kleinen Saugrohr, das die Assistentin eine Sekunde lang nahe an den zu behandelnden Zahn hält. Ist er kälteempfindlich, so ist eine Anästhesie ratsam, wozu der Patient nun gerne einwilligt. Ohne Kälteempfindlichkeit folgen der Nahkontakt mit dem großen Sauger, zuerst alleine, dann zusammen mit dem Bohrer, erst ohne, dann mit Spray, und schließlich mit kurzem Bohrer-Zahn-Kontakt. Der Patient gewöhnt sich an diese minimalen Reize und kann wählen, ob ich das nächste Mal nur eine oder zwei oder fünf Sekunden lang im Mund arbeiten soll. Seine Antwort zeigt den Angstpegel.

Nun folgt die reizarme Exkavation bis zum gesunden Dentin. Es wird zwar empfohlen, nicht alle Karies zu entfernen, aber an Karies klebt die Füllung nicht, was ihren Halt gefährden kann. Ich exkaviere deshalb stets alle Karies in drei Schritten. Zur Eröffnung der Kavität gilt es, nur den Schmelz zu entfernen, ohne das darunter liegende Dentin zu berühren. Es markiert nämlich die Randzone unübersehbar mit seiner kreidig weißen Verfärbung. Schmelz über Karies ist absolut schmerzfrei. Als zweites wird das zerfallene Dentin im Zentrum der Läsion mit einem großen Rosenbohrer und Spray entfernt. Abschließend folgt die Freilegung des gesunden Dentins. Das erfordert einen Anpressdruck von 0 bis 5 g. Zur Verbesserung des Fingerspitzengefühls habe ich meinen Schwingbügel mit einem Gegengewicht ausbalanciert, damit das Winkelstück ohne Zug in der Hand liegt. Zudem ist es bimanuell zu halten und neue Rosenbohrer sind zu verwenden, weil nur sie halbhartes Dentin ohne Druck abtragen können. Der Bohrer funktioniert gleichzeitig als Sonde. Bimanuell gehalten, trocken und niedertourig mit 300/min lässt sich sowohl die minimale Anpresskraft einhalten als auch die Härte des Dentins spüren. So ist es sogar für einen kurzen Moment möglich, blind zu bohren, ohne „in der Pulpa zu landen“ oder ins schmerzhafte Dentin hineinzubohren. Das harte Dentin zeigt sich auch visuell, weil keine klebrigen Späne mehr anfallen, sondern ein feiner trockener Staub. Noch bevor es schmerzt, ist es bereits so hart, dass die Sondenprobe einen cri dentaire („Zahnschrei“) ergibt.

Wie kann die zahnärztliche Assistenz am besten mit Angstpatienten umgehen und beruhigend auf sie einwirken?

Die Assistentin führt den größten Teil der kognitiven Bestärkung durch. Sie erkennt die Angst des Patienten bei seinem ersten Anruf. Nur wenn es ihr gelingt, sein Vertrauen zu gewinnen, kommt er überhaupt in die Praxis. Dazu ist oft ein längeres Gespräch nötig in dessen Ablauf er plötzlich Befürchtungen wie etwa „das wird sicher wieder schlimm“ oder „den Zahn muss man sicher reißen“ äußert. Die Assistentin muss dann entwarnen, die Erwartungen relativieren und dem Patienten versichern, dass alle zusammen eine gute Lösung finden werden.

Beim zweiten Kontakt im Wartezimmer geht der Angstabbau weiter. Mit einem zwanglosen Gespräch hilft sie dem Patienten, die unangenehme Wartezeit zu verkürzen. Beim Platzieren auf dem Stuhl überlässt sie ihn nicht einfach seiner Angst und dreht ihm den Rücken zu, sondern hält ihn im Gespräch, sodass er sich dann gut dem Zahnarzt zuwenden kann.

Bei der eigentlichen Behandlung bietet sie ihm die „Wellness-Hilfen“ mit der mit warmem Wasser gefüllten PET-Flasche, dem nasskalten Stirntuch und einem zuckerhaltigen Getränk an. Die kognitive Bestärkung erreicht sie nun durch Fragen, Erklärungen zu den Behandlungsschritten und durch die Instruktion des Handzeichens. Damit kann der Patient bei jeglichem Unwohlsein, Fragebedürfnis oder Schmerzgefühl den Bohrer und die Behandlung kontrollieren. Dadurch entsteht Vertrauen und im Verlauf der Behandlung können etwas stärkere Reize ertragen werden. Während der Therapie verbessert die Assistentin nicht selten die Kopfhaltung des Patienten, die oft verkrampft erscheint. Sie unterbricht mich sofort, wenn er nur noch flach atmet (respiratorisches freezing) oder seine Hände verkrampft. Diese Signale kann nur die Assistentin beobachten, während ich mich auf das Geschehen im Mund konzentriere.

Welche Risiken ergeben sich durch Angstpatienten auch für das Behandlungsteam?

Wird ein Angstpatient nicht genau beobachtet, kann er während der Behandlung plötzlich synkopieren. Das habe ich erst zweimal erlebt. Das erste Mal geschah vor fast 40 Jahren nach einer Weisheitszahnentfernung, als ich noch keine Ahnung von Angstpatienten und Angstsignalen hatte. Ein nasskaltes Stirntuch hätte das verhindert. Der Patient war kaum 20 Jahre alt, doch wir mussten ihn ins Bett im Umkleideraum der Praxis tragen. Dort blieb er etwa eine halbe Stunde lang. Er schätzte das sehr und kommt mit seiner Frau noch heute zu mir. Das zweite Mal geschah erst kürzlich beim allerletzten Patienten vor den Ferien nach einem stressvollen Praxistag. Der Patient zeigte uns bis dahin unbekannte Angstsignale, auf die wir nicht reagierten. In der Ohnmacht schlug er krampfartig um sich. Ich lagerte seine Füße hoch und drehte seinen Kopf trotz der Verkrampfung des Körpers zur Seite, sodass allenfalls Erbrochenes aus dem Mund fließen konnte. Nach kaum einer Minute kam er wieder zu sich, erholte sich und war wieder kooperativ, sodass wir die Behandlung normal weiterführen konnten. Er meinte, eine Ohnmacht beim Zahnarzt sei bei ihm schon vorgekommen.

Auch geistig behinderte Angstpatienten können gefährlich werden. Einer schlug einmal trotz der Gegenwart des Begleiters meiner Assistentin reflexartig ins Gesicht, als sie ins Wartezimmer kam, um ihn zur Behandlung zu bitten.

Können Patienten, die von ihrer Angst „geheilt“ wurden, einen „Rückfall“ bekommen?

Manche Patienten sagen mir, dass ihre Angst von Behandlung zu Behandlung bei mir abnimmt. Mehrere sind weggezogen und haben am neuen Wohnort einen neuen Zahnarzt aufgesucht – und sind wieder zu mir zurückgekehrt. Ein Trauma kann bis ans Lebensende angetriggert werden. Hierbei sterben im Hippocampus ganze Neuronenverbände ab. Von der Episode bleibt nur eine grobe Schwarz-Weiß-Erinnerung zurück. Die „Heilungen“ beruhen auf der Plastizität der Neuronen, also der Fähigkeit, neue Synapsen zu bilden. Die Kombination von reizarmer Behandlung und kognitiver Bestärkung bewirkt neue Gefühle und neue Synapsen. Daraus entsteht eine neue Einstellung gegenüber dem Zahnarzt. Die üblichen Behandlungsreize bleiben aber konditioniert und würden sofort wieder die gespeicherten Abwehrreflexe aktiveren.

Ist die Behandlung von Angstpatienten eine Belastung für Sie?

Ja, aber eine sehr lohnende. Die Reizarmut führt zu einem tiefen Eindruck und viele Patienten bitten mich, als Zahnarzt nie aufzuhören. Derartige Feedbacks sind sehr schöne und motivierende Berufserlebnisse.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dieser Beitrag ist im Endodontie Journal erschienen.

Foto Teaserbild: Dr. Walter Weilenmann

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