Recht 22.02.2011
Behandlungsrisiko Leitungsanästhesie
In seiner Entscheidung vom 29. September 2010 (Az. 3 U 169/09, I-3 U 169/09) hatte sich das OLG Hamm mit dem Fall einer Patientin zu befassen, die ihren Behandler im Zusammenhang mit einer Leitungsanästhesie wegen behaupteter Behandlungs- und Aufklärungsfehler verklagt hat.
Die Klägerin, eine im Jahre 1961 geborene Gymnasiallehrerin für Latein und Deutsch, hat erstinstanzlich von dem Beklagten ein Schmerzensgeld in Höhe von mind. 15.000,– €, die Feststellung der Schadensersatzverpflichtung des Beklagten für alle materiellen und immateriellen Schäden sowie die Zahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 899,43 € begehrt. Sie hat behauptet, der Beklagte habe sie zu keinem Zeitpunkt während des Behandlungszeitraumes über das Risiko einer auch dauerhaften Nervschädigung des Nervus lingualis infolge einer Leitungsanästhesie aufgeklärt. Zu einer solchen Schädigung sei es im Rahmen der Behandlung am 29.08.2007 durch die vom Beklagten applizierte Leitungsanästhesie gekommen. Der hintere Teil der Zunge sei seitdem taub, sodass die Klägerin sich seitdem nicht mehr klar und deutlich artikulieren könne. Sie befinde sich zudem in logopädischer Behandlung.
Die Behandler
Der Beklagte ist dem Haftungsbegehren nach Grund und Höhe entgegengetreten. Er hat die Ansicht vertreten, angesichts des geringen Risikos sei eine Aufklärung über eine Verletzung des Nervus lingualis nicht geboten gewesen. Ungeachtet dessen habe er, wie bei ihm üblich, vor der ersten Behandlung der Klägerin am 30.03.2007 diese über das Risiko einer auch dauerhaften Verletzung des Nervus lingualis aufgeklärt. Der Beklagte hat erstinstanzlich bestritten, dass es zu einer Nervschädigung aufgrund seiner Behandlung gekommen sei.
Das Gericht in erster Instanz
Das Gericht in erster Instanz (Landgericht) hatte nach Einholung eines zahnärztlichen Gutachtens und zusätzlich neurologischen Gutachtens sowie nach Vernehmung einer Zeugin sowie nach Anhörung der Parteien die Klage abgewiesen. Zwar stand nach der Beweisaufnahme eine dauerhafte Schädigung des Nervus lingualis aufgrund der bei dem Beklagten durchgeführten Leitunganästhesie fest. Eine Verursachung durch einen Behandlungsfehler aber war nicht ersichtlich. Ein Aufklärungsverschulden wurde ebenfalls verneint. Nachdem die Klage komplett abgewiesen worden war, ging die Klägerin in Berufung.
Das Gericht in zweiter Instanz – Aufklärung über alternativen Anästhesieformen
In der zweiter Instanz vor dem OLG Hamm war dann die Kernfrage, ob der Behandler hätte über alternative Anästhesieformen auf- klären müssen. Die Klägerin hatte behauptet, sie hätte über die „Alternativen der Vollnarkose und Infiltrationsanästhesie“ aufgeklärt werden müssen. Hierüber hatte der Behandler unstreitig nicht aufgeklärt. Das OLG Hamm befragte den Sachverständigen hierzu, der eine ergänzende Stellungnahme abgab. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass der Behandler keine Verpflichtung gehabt habe, über und sogar extrem seltene Risiken hinzuweisen, die im Falle ihrer Verwirklichung die Lebensführung schwer belasten und trotz ihrer Seltenheit für den Eingriff spezifisch, für den Laien aber überraschend sind (vgl. z.B. BGH, VersR 2000, 725). Dass es sich bei einer Nervschädigung durch eine Punktion des Nervus lingualis um ein der Leitungsanästhesie spezifisch anhaftendes Risiko handelt, hat der Sachverständige Prof. Dr. Dr. N2 bereits in seinem schriftlichen Gutachten vom 12.04.2009 festgestellt. Dieses Risiko ist, wie das Beispiel der Klägerin zeigt, im Falle seiner Verwirklichung auch mit einer schweren Belastung der Lebensführung des Patienten verbunden. Aus dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. B vom 27.03.2009 ergibt sich, dass die Klägerin unter den von ihr angegebenen und gerade in ihrem beruflichen Alltag als Lehrerin besonders störend empfundenen Sensibilitätsstörungen lebenslang zu leiden haben wird. Selbst wenn aber grundsätzlich über das Risiko einer dauerhaften Schädigung des Nervus lingualis durch Applikation einer Leitungsanästhesie auch bei konservativer Zahnbehandlung aufzuklären ist, hatte der Beklagte nicht die Pflicht, über weitere, alternative Anästhesiemethoden aufzuklären. Zwar existiert in der universitären Lehre mittlerweile und auch bereits im Jahr 2007 ein sogenannter Stufenplan für Injektionstechnik. Hiernach sollte der Zahnarzt bei konservativer Behandlung zunächst eine Infiltrationsanästhesie versuchen. Eine solche Anästhesie reicht allerdings eher selten aus, um entsprechende Schmerzfreiheit für die Zahnbehandlung herbeizuführen. Wenn diese Infiltrationsanästhesie nicht funktioniert, sollte der Zahnarzt gewissermaßen auf der zweiten Stufe eine sog. intraligamentäre Anästhesie durchführen.
Eine solche intraligamentäre Anästhesie sollte versucht werden, um die Leitungsanästhesie zu vermeiden; erst wenn durch diese Anästhesieform keine Schmerzfreiheit erzielt werden kann, sollte die Leitungsanästhesie zum Einsatz kommen. Zwar ist auch die intraligamentäre Anästhesie mit Risiken verbunden, die aber anders gelagert sind als bei der Leitungsanästhesie. Bei der intraligamentären Anästhesie besteht in erster Linie das Risiko einer umschriebenen Nekrose, die bis zum Verlust des Zahnes führen kann, aber nicht zu Nervschäden. Ob eine intraligamentäre Anästhesie durchgeführt werden sollte, ist insbesondere davon abhängig, wie sich der Zustand des Zahnhalteapparates darstellt; beispielsweise im Falle einer starken Parodontose sollte eine solche intraligamentäre Anästhesie nicht angewandt werden. Bei einem solchen Zustand könnte die intraligamentäre Anästhesie sogar einen Behandlungsfehler darstellen. Aus Sicht des Sachverständigen sprach der Zustand des Zahnhalteapparates bei seiner Untersuchung nicht gegen die Applizierung einer intraligamentären Anästhesie.
Nach den Angaben des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. N2 ist aber schon nicht festzustellen, ob dieser Stufenplan der Injektionstechnik bereits an allen Universitäten in Deutschland gelehrt wird. Maßgeblich ist jedoch, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. N2 nicht feststellbar ist, dass diese universitäre Lehre bereits Eingang in die zahnärztliche Praxis gefunden hat bzw. dass dies im Jahre 2007 bereits Behandlungsstandard in der zahnärztlichen Praxis war, zumal es im Allgemeinen Verzögerungen bei der Anwendung der universitären Lehre auf die zahnärztliche Praxis gibt. Da aber für das zahnärztliche Behandlungs- und damit auch Aufklärungsregime der medizinische Standard eines niedergelassenen Zahnarztes zugrunde gelegt werden muss, ist nicht feststellbar, dass der Beklagte im Jahr 2007 von dem jedenfalls an einigen Universitäten gelehrten Stufenplan der Injektionstechnik Kenntnis haben und über die in diesem Stufenplan entwickelten Anästhesiemethoden aufklären musste. Über die Behandlungsalternative einer Vollnarkose musste der Beklagte ohnehin nicht aufklären, da es sich hierbei wegen des erheblich höheren Risikos gegenüber einer Leitungsanästhesie um keine echte Anästhesiealternative handelte. Den Angaben des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. N2 zufolge liegt das Risiko des Versterbens bei einer Vollnarkose bei 1 : 25.000, während das Risiko einer dauerhaften Schädigung des Nervus lingualis bei einer Leitungsanästhesie nach den Schätzungen des Sachverständigen bei ca. 1 : 400.000 liegt. Schließlich war es auch nicht geboten, nachdem die Klägerin einmalig am 30.03.2007 über das Risiko einer Nervschädigung aufgeklärt worden ist, vor der Anästhesie vom 29.08.2007 erneut über das Risiko einer dauerhaften Nervschädigung des Nervus lingualis aufzuklären. Bei einer klaren Fallgestaltung kann der Arzt erwarten, dass der Patient aus einer kürzlich vergleichbaren Behandlung über Art und Risiken des Eingriffs bereits aufgeklärt ist. Wenn, wie hier, eine Aufklärung vor der ersten Behandlung der Patientin stattgefunden hat und in kurzen Abständen danach noch mehrere gleichartige Behandlungen mit Leitungsanästhesie, nämlich am 12.04.2007 und am 16.07.2007 stattgefunden haben, werden dem Patienten die einmal erklärten Risiken immer wieder bewusst und eine erneute Aufklärung ist nicht geboten. Auch der Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass man davon ausgehen darf, dass dann, wenn im Rahmen eines etwas länger dauernden, über einige Wochen oder Monate sich hinziehenden Behandlungsablaufs mehrfach – wie auch in dieser speziellen Situation geschehen – eine Leitungsanästhesie in der fraglichen Region zum Zuge kam, nicht in jedem Fall erneut und wiederholt eine Aufklärungsleistung zu erfolgen hat bzw. dass jedem Patienten bewusst ist, dass bei jeder erneuten Maßnahme gleicher Art das identische Risiko vorhanden ist.“
Fazit
Dieses Urteil zeigt, dass es im Zusammenhang mit der Anästhesie im Rahmen einer Zahnbehandlung noch Unklarheiten gibt. Fest steht jedenfalls, dass nicht über die „Alternative Vollnarkose“ aufgeklärt werden muss und auch eine ständige Wiederholung der Aufklärung nicht gefordert wird.