Recht 14.11.2024

Rechtliche Aspekte der Funktion in der KFO



Rechtliche Aspekte der Funktion in der KFO

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Die Judikalisierung der Medizin wird zuweilen kritisch gesehen. Es ist dann von überbordenden Dokumentationspflichten zur Kosten- und Alternativenaufklärung und nicht mehr kalkulier­baren Haftungsrisiken sogar hinsichtlich nichtdentaler und chronischer Erkrankungen zum Beispiel des Kiefergelenks die Rede. Durch eine Deregulierung soll der Kanon der Verwaltungsaufgaben reduziert werden, auch zur Schonung von Ressourcen, die besser in der fachgerechten Patientenversorgung eingesetzt werden sollen. Denn möglicherweise sind ganze Ebenen einer fachgerechten Versorgung im Rahmen der Kieferorthopädie schon aus dem Fokus geraten.

Die juristische Perspektive ermöglicht zuweilen eine Betrachtung aus der Distanz und kann auf den ersten Blick zu überraschenden Bewertungen führen, die sich aber im Idealfall auf die Richtigkeitsgewähr der Rechtsprechung zurückführen lassen und sie so möglicherweise die einzige Kontroll­instanz einer einmal eingespielten Versorgungssituation darstellt. Sie erlaubt eine kompromisslose Abs­traktion festgefahrener Bindungen und Begrifflichkeiten, die sich in der Praxis bei bestimmten Sachverhaltskonstellationen eingestellt haben. Denn auch in der Kiefer­orthopädie soll nichts deshalb bleiben, nur weil es so ist. Heute bestimmt häufig nicht der Facharztstandard die Art und das Maß einer durchgeführten Behandlung, sondern die Vorgaben der Kostentragung in den drei Kostensystemen.

1. Stichtagsregelung statt personalisierter Medizin

Das Gesetz sieht die Verpflichtung des öffentlichen Kostenträgers, Kieferorthopädie zu erstatten nur bei Patienten vor, die entweder minderjährig sind oder ei­ner auch chirurgischen Therapie bedürfen. Hintergrund dieser Regelung ist es, dass der Gesetzgeber meinte, in dem Alter ein taugliches Differenzierungskriterium erkennen zu können dafür, in welchen Fällen die öffentliche Haushaltskasse mit der Kostentragung für Kieferorthopädie belastet sein dürfte. So zweckmäßig eine solche Stichtagsregelung für die Schonung öffentlicher Kassen ist, so fragwürdig erscheint diese Dif­ferenzierung doch unter medizi­nischen Gesichtspunkten: Denn geht man davon aus, dass für die Kieferorthopädie ein besonders weiter Krankheitsbegriff gilt, und insbesondere jede Lücke, jede Drehung und jede Schachtelung erfasst wird(ohne eine metrische Eingrenzung), so stellt sich doch die Frage, warum für andere Krankheitsbilder als solche einer bloßen Zahn­stellungs­­opti­mierung (vorübergehend oder dauerhaft) eine Kostenerstattung einfach ausgeschlossen ist. Unbestritten ist die Bedeutung des Kiefergelenkes für die Gesundheit des Patienten und unbestritten ist die Kompetenz der Kieferorthopädie, heilend auf den Gesamtorganismus des Patienten einwirken zu können. Das Versprechen der öffentlichen Kostenträger ist doch hohl, wenn die Heilung chronisch erkrankter oder funk­tionsgestör­ter Erwachsener durch eine Stichtagsregelung a priori ausgeschlossen ist. Der Kieferorthopäde wird dann nur noch dann heilen, wenn die Kostenregularien eines Kostenträgers dies vorsehen und un­tätig bleiben, wo er fachlich helfen könnte und ja auch nach seinem Berufsethos an sich tätig werden sollte, aber Kostenregularien eine Behandlung nicht vorsehen.

Es ist eine paradoxe Situation, dass für weite Teile der Bevölkerung das Vorliegen einer Erkrankung bejaht wird, das Leistungsversprechen aber an einer Stichtagsregelung endet. Dies führt im Bewusstsein der Bevölkerung dazu, dass Erwachsene letztlich nicht erkranken oder jedenfalls trotz Erkrankung keine Hilfe erfahren. Immerhin seien – so der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 23.03.2023, 24 B 20.549 – nach den wissenschaftlichen Studien der WHO innerhalb der Gruppe der CMD-Betroffenen (80 Prozent einer Gesamtbevölkerung unabhängig vom Zivilisationsgrad) in Europa 3,5 Prozent als behandlungsbedürftig anzusehen seien. Dies bedeute, dass in Europa 2,4 bis 4 Prozent (3,2 Mio) der Bevölkerung eine behandlungsbedürftige (somatische) CMD aufweisen würden. Diese Angaben stimmten mit den Angaben in Wikipedia überein, wonach die Häufigkeit der CMD bei etwa 8 Prozent der gesamten Bevölkerung liege, wobei nur rund 3 Prozent (2,4 Mio) wegen dieser Beschwerden behandlungsbedürftig seien (https://de.wikipedia.org/wiki/Kraniomandibul%C3%A4re_Dysfunktion). Eine paradoxe Situation, die mit dem Leistungsversprechen der öffentlichen Kostenträger und letztlich mit höchsten Rechtsgrundsätzen nicht in Einklang zu bringen ist. Die Stichtagsregelung hatte der Gesetzgeber noch damit begründet, dass die Kieferorthopädie in der Wachstums­phase besonders effizient sei, ein Argument, das aber für den Erstattungsausschluss Funktionsgestörter nicht überzeugt.

2. Erstattungsausschluss für Schulmedizin

Ein ähnliches Schicksal erfährt die Funktionsdiagnostik und Funk­tionstherapie. Das SGB V sieht einen totalen Ausschluss vor und die Beihilfeverordnungen des Bundes und der Länder sehen eine Erstattungspflicht nicht generell vor, sondern nur in jeweils besonders zu begründenden Ausnahmefällen bei restriktiver Verwaltungspraxis, in denen eine gewisse Härte ärztlich dargelegt werden muss. So wird ein ganzer Diagnose- und Therapieansatz und mit ihm das Kapitel J. der GOZ (Nrn 8000) in ähnlicher Weise zur Makulatur – so wie die Leistungen des Kapitel G. (Nrn 6000) im Bereich der Erwachsenen­behandlung unter dem Regime öffentlicher Kostenträger. Dieser Ausschluss funktionsanalytischer/funktionstherapeutischer Maßnahmen in der GKV hat in der Vergangenheit zu ganz erheblichen Defiziten in der kieferorthopädischen – wie auch der prothetischen – Versorgung geführt, wenn ein GKV-Patient nicht bereit war, den angeratenen Aufwand hierfür selbst zu tragen. Denn eine medizinisch objektiv indizierte kieferorthopädische Behandlung darf nicht durchgeführt werden, wenn die zur Befundung notwendige Funktionsanalyse gleich aus welchen Gründen nicht durchgeführt wurde. Dieser Leistungsausschluss ist fiskalisch geboten, aber fachlich kaum zu rechtfertigen und führt im Ergebnis dazu, dass die chronischen Erkrankungen Funktionsgestörter in der täglichen Praxis kieferorthopädischer Anwendungen häufig nicht festgestellt und nicht behandelt werden. Eine indizierte, aber fehlende Funktionsbehandlung ante wird regelmäßig eine einfach durchgeführte Zahnbegradigung im Hinblick auf eine Standardunterschreitung infizieren.

3. Kostenausschluss effizienter Therapieansätze

Offensichtlich auch nicht (mehr) fachlich, sondern fiskalisch motiviert ist der Ausschluss der Therapie mit Alignern aus der Kostentragung in der vertragszahnärztlichen Versorgung. Dies wird schon daran erkennbar, dass sie im Rahmen der öffentlichen Beihilfe durch das Erstattungssystem immerhin für Minderjährige seit 2012 inkludiert ist und völlig unstreitig lassen sich viele KIG-Befunde Minderjähriger erfolgreich mit Alignern behandeln. Auch dieser Ausschluss mag aus Gründen einer forcierten Ausgabenersparnis zu rechtfertigen sein, auch wenn viele fiktive Vergleichsplanungen im Rahmen des Wirtschaftlichkeits­prinzips betreffend festsitzende Versorgung gezeigt haben, dass Aligner-Behandlungen eben nicht kostenaufwendiger sind als festsitzende Versorgungen. Berufspolitisch mag es zwar erstrebenswert sein, einen Bereich des privat abrechenbaren Portfolios den kieferorthopädischen Praxen zur Solidisierung ihres Ertragspotentials zu eröffnen bzw. zu erhalten (Erwachsenenbehandlung, FAL, Aligner-Therapie) – fachlich zu rechtfertigen (und dies ist die Perspektive des Patienten und der Medizin) ist dies aber wohl kaum. Rechtlich treten ganz erhebliche Friktionen auf, die sogar an der Verfassungskonformität dieser Ausschlüsse zweifeln lassen.

a) Durchbrechungen der Stichtagsregelung geboten

Sofern der Dienstherr (außerhalb der sog. Kombifälle) die Alterslimitierung der Beihilfeverordnung strikt in seinen Erstattungsentscheidungen umsetzt, verletzt er im Einzelfall seine Verantwortung als Dienstherr. Denn bei einer besonders schwerwiegenden Beeinträchtigung und Krankheit seines Beamten, Richters oder Soldaten darf er sich (außerhalb der sog. Kombifälle) nicht auf das formale Kriterium der Minderjährigkeit zurückziehen, um Leistungsfreiheit zu erreichen. Dies führte in Baden-­Württemberg bereits zu einer Änderung der Beihilfe­verordnung, wonach im Falle einer nur hinreichend gravierenden Beeinträchtigung die Volljährigkeit in der Beihilfe kein Ausschlusskriterium mehr ist (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urt. v. 01.02.2019, 2 S 1352/18). Ganz ähnlich wurde der Idee eine Absage erteilt, wonach Funktionsanalyse und Funk­tionstherapie fachlich nicht erforderlich seien bei der Behandlung gesetzlich Versicherter, weil sie ja dort im Leistungskatalog nicht vorgesehen seien. Völlig unbestritten ist, dass sich derjenige Kieferorthopäde, der die Funktionsanalyse bei einem gesetzlichen Versicherten aus fach­lichen Gründen für geboten hält und dennoch auf die Durchführung dieser Maßnahme verzichtet, sich des Vorwurfs der Verletzung der Wahrung des geschuldeten Behandlungsstandards aussetzt (Landgericht Stuttgart, Urt. v. 28.02.1994, 27 O 578/92). Dies kann dann auch vertragszahnarztrechtlich geahndet werden.

b) Durchbrechungen des GKV-Methodenausschlusses aussichtslos

Der etablierte und gesicherte Ausschluss der Aligner-Therapie aus der vertragszahnärztlichen Ver­sorgung (Landessozialgericht NRW, Beschl. v. 24.05.2017, L 1 KR 660/15) führt zu immerhin bedenklichen Ergebnissen, wenn wegen Zweifeln an der durchgehend einwandfreien korrekten Mund­hygiene eines Minderjährigen die Verwendung festsitzender Behandlungshilfsmittel im Einzelfall fachlich kontraindiziert ist. Denn dann kann man sich die Frage stellen, ob statt eines Absehens von einer jedweden kieferorthopädischen Behandlung zulasten der GKV hier einmal die Verwendung herausnehmbarer Aligner bei diesem Minderjährigen geboten sein könnte. Aufgrund des strengen Formalismus der vertragszahnärztlichen Versorgung (bestätigt durch die sog. Nikolausbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes) wird den so betroffenen Eltern jedoch wohl zu sagen sein, dass selbst in dieser zugespitzten Situation eine Kassenbeteiligung an der Aligner-Behandlung nicht in Betracht kommt, sondern sie als sog. Selbstzahler gefordert sind.

Ganz explizit schließt die Rechtsprechung der So­zialgerichte eine Kostentragung für Funktionsdiagnostik und Funktionstherapie im Kieferbereich im Kontext einer Zahnersatzbehandlung oder im Rahmen einer Okklusionsschienentherapie aus. Diese Leistungen habe der Gesetzgeber, dem bei der Festlegung des Umfangs des Krankenbehandlungsbedarfs ein weiter Gestaltungsspielraum zukomme, der Eigenverantwortung der Versicherten zugewiesen (Bundessozialgericht, Beschl. v. 13.06.2024, B 1 KR 57/23 BH). Zugleich aber be­stätigt die Sozialgerichtsbarkeit bei der Folgen­betrachtung, dass die verkannte Funktionsstörung und unbehandelte craniosakrale und craniomandibuläre Dysfunktion zu einer vollständigen Berufsunfähigkeit führen könne und der entsprechenden Leistungspflicht des Sozialversicherungssystems (Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urt. v. 04.05.2016, L 4 U 203/13, betreffend einen Berufstubisten und Dozenten an einer Musikhochschule).

4. Friktionen und Fazit

Eine nicht behandelte CMD kann zu einer Zerstörung der Kiefergelenksstrukturen und damit einhergehend zu einer chronischen Schmerzsymptomatik bis hin zur Berufsunfähigkeit führen. Als Ursache der Folgeprobleme einer CMD komme auch „die Schädigung des Gebisses mit umfangreicher zahnmedizinsicher Versorgung in Form von Brücken, Implantaten, Wurzelfüllungen etc. infrage“ (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urt. v. 01.02.2019, 2 S 1352/18). Wenn der Grundsatz richtig ist, dass eine jede umfassende zahnmedizinische Rehabilitation auch den Gesichtspunkt der Funktion inkludieren muss, um als solche fachgerecht zu sein, dann stellt sich die Frage, warum in dem Bereich der Kie­ferorthopädie, anders als in der Prothetik, die Gesichtspunkte der Funktion häufig ein Schattendasein führen. Dies ist gleich aus zwei Gründen völlig unverständlich: Zum einen sind funktionsbeeinträchtigte Patienten viel stärker in ihrer Gesundheit beeinträchtigt und bedürfen eines viel größeren Behandlungsaufwandes als „rein kieferorthopädisch“ behandelte Patienten. Zum anderen steht mit der Aufbissschienentherapie nach Nrn 7000 GOZ ein hervor­ra­gendes Instrumentarium zur Verfügung, um zu ermitteln, welcher Patient dauerhaft durch eine Bisslagenänderung von einem chronischen Leiden geheilt werden kann. Es ist sachlich nicht gerechtfertigt, gerade diese Patientengruppe von einer Teilhabe an einer sach­gerechten Versorgung auszuschließen, die besonders stark beeinträchtigt ist, und es lässt sich auch nicht rechtfertigen, dass Behandlungsstandards, die im Rahmen einer prothe­tischen Rehabilitation gefordert werden, für eine kieferorthopädische Behandlung für den Regelfall ausgeklammert werden.

Zu begrüßen ist daher die Tendenz in der Aligner-­Konzeption und -Produktion, die Okklusion stets in der patientenverträglichen und kiefergelenkbezüglichen Bisslage zu gewährleisten. Es wäre nur schwer verständlich, wenn ausgerechnet die verwendeten Aligner-Apparaturen als MPG-Sonderanfertigungen und personalisierte Medizin (Verordnung [EU] 2017/745 gemäß Art. 52 Abs. 8 Satz 1 und Anhang XIII), die dynamische Okklusion unter Berücksichtigung der Kiefergelenke nicht erfasste und therapeutisch nicht reflektierte. Die Aligner-Schienen sollten deshalb auch nicht nur dem Wunsch nach einem „perfekten Lächeln“ Rechnung tragen, sondern auch den höchstpersönlichen Funktionsbedürfnissen des individuellen Patienten.

Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

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