Endodontologie 21.09.2025
Dentoalveoläre Traumata bei Musikveranstaltungen
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Eine adäquate Erstversorgung dentoalveolärer Traumata ist essenziell, um das Risiko für Komplikationen und bleibende Schäden in der sensiblen Mund-, Kiefer- und Zahnregion zu minimieren. Doch Diagnostik und fachgerechte Primärversorgung von dentoalveolären Verletzungen gestalten sich herausfordernd, da die betroffenen Körperregionen stark durchblutet sind und intraorale Traumata häufig mit einer individuellen Schmerzempfindlichkeit der Patientinnen und Patienten einhergehen. Erschwerend kommen die oft begrenzte Expertise und unzureichende Ausstattung des verfügbaren medizinischen Fachpersonals hinzu. Die Ausbildung im Sanitäts- und Rettungsdienst umfasst zwar standardisierte Inhalte, doch die spezifische Schulung zur dento-alveolären Erstversorgung liegt im Ermessen der Ausbildungsorganisationen. Die zahnmedizinischen Grundlagen werden dabei oft nur rudimentär vermittelt.1
Ein Ziel dieser Untersuchungen ist es daher, kritische Versorgungslücken zu ermitteln und erste grundsätzliche Vorschläge für spezifische Schulungsmaßnahmen und organisatorische Rahmenbedingungen zu entwickeln, die nach Reevaluation der Erkenntnisse möglicherweise eine bessere Versorgungsqualität auf Veranstaltungen gewährleisten könnten. Hierfür wurde im Zeitraum von 2010 bis 2020 eine Onlineumfrage durchgeführt, die über Social Media und WhatsApp 2.003 vollständig ausgefüllte Fragebögen generierte. Im Fokus stand dabei die Identifikation von Risikofaktoren, Unfallmechanismen und Zusammenhängen zwischen Erstversorgung und möglichen Folgeschäden.
Ergebnisse der Onlinebefragung
Insgesamt lag der Anteil von Verletzungen im Gesichtsbereich bei 14,6 % aller gemeldeten Fälle. Die verschiedenen Verletzungsarten (Tab. 1) traten teilweise auch in Kombination mit anderen Traumata auf.
Verletzungen der perioralen Weichgewebe waren der größte Anteil der dentoalveolären und fazialen Verletzungen. Während Weichgewebstraumata ohne die Beteiligung von Hartgewebsläsionen vorliegen können, ist dies umgekehrt kaum bzw. nur sehr selten möglich. Es darf daher angenommen werden, dass insbesondere bei Hartgewebsverletzungen fast immer Kombinationsverletzungen mit dem Weichgewebe auftraten.
Der Anteil von Zahnfrakturen betrug 41,1 % unter den dentoalveolären Traumata. Diese Form der Verletzung erschien als relevante und vor allem kritisch zu evaluierende Verletzungsart hinsichtlich möglicher Ansatzpunkte einer Optimierung der Erstversorgung. Es zeigten sich niedrige Häufigkeiten bei Dislokationen mit 7,2 % und Avulsionen mit 4,4 %.
Prädiktoren für ein erhöhtes Verletzungsrisiko
In der Studie wurde unter anderem das Geschlecht als potenzieller Prädiktor für eine Verletzung untersucht. Proband/-innen mit der Geschlechterangabe divers werden aufgrund der geringen Anzahl im Folgenden nicht explizit in der Analyse erwähnt. Die Anzahl weiblicher Teilnehmerinnen lag mit 1.296 wesentlich höher im Vergleich zu 673 an männlichen Probanden. Dennoch zeigte sich ein höheres Verletzungsrisiko bei den männlichen Teilnehmern mit 125 Fällen zu dem der weiblichen mit 157 Fällen. Die Altersgruppe der 18–25-Jährigen zeigte den größten Anteil der Verletzten mit 45,5 %, gefolgt von den Gruppen der 26–35-Jährigen mit 38,9 %, der 36–45-Jährigen mit 9,5 % und den über 45-Jährigen mit nur noch 5,9 %. Der Einfluss psychotroper Substanzen wurde ebenfalls evaluiert, explizit der Einfluss von Alkohol, Cannabis und anderen diversen Aufputschmitteln allein oder in Kombination.
Es zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Konsum von Alkohol und einem erhöhten Verletzungsrisiko. Alkohol beeinflusst nachweislich die Ausprägung von affektiven Reaktionen wie Wut und Aggression, die im Zusammenhang mit verschiedenen messbaren chemischen Prozessen im Subkortex stehen.2
Ein weiteres personenbezogenes individuelles Risiko stellt das spezifische Feierverhalten der Teilnehmenden dar. Je intensiver die Probandinnen und Probanden am Tanzgeschehen teilnahmen und je stärker ausgeprägt der Körperkontakt zu anderen Personen war, desto höher war das Verletzungsrisiko. Diese Intensität scheint mit dem jeweiligen Musikgenre assoziiert zu sein. Beispielsweise erlitten Teilnehmende, die Veranstaltungen des Genres Rock besuchten, drei Mal häufiger Verletzungen als solche, die vorrangig Hip-Hop- oder Techno-Events frequentierten.
Effekte der genrespezifischen sog. Beats-per-minute-Rate (bpm) auf die menschliche Körperphysiologie wurden bereits diskutiert, insbesondere hinsichtlich einer möglichen Modulation von Puls, Blutdruck und sehr wahrscheinlich auch des Kortisolspiegels im Blut. Diese Faktoren könnten somit die physische Grundaktivität der Teilnehmenden beeinflussen.3
Art und Umfang der Erstversorgung
Eine zentrale Fragestellung der Studie war die Erfassung der Erstversorgung vor Ort, die in 41,1 % der dokumentierten Fälle durchgeführt wurde. Von diesen 120 Verletzten wurden 76 Personen (63,3 %) innerhalb von 24 Stunden behandelt, 30 am Tag nach dem Unfall und die restlichen 37 (30,8 %) erst nach 48 Stunden oder später. Die Maßnahmen der Erstversorgung umfassten teilweise eine initiale Untersuchung vor Ort, die sofortige Überweisung oder eine definitive Wundversorgung einschließlich des Nähens oder Klebens von Platzwunden. Dabei zeigte sich, dass 8,9 % der Betroffenen direkt an eine Praxis oder Klinik weitergeleitet wurden. Meist wurden lediglich Empfehlungen zur Linderung wie z. B. das Kühlen der verletzten Körperstelle gegeben (22,3 %).
Bei den 13 dokumentierten Avulsionen wurde in 53,8 % der Fälle eine Erstversorgung durchgeführt. Es wurde nur ein einziger Zahn reponiert. Drei Zähne wurden unmittelbar in einer Zahnrettungsbox mit einem speziellen Zellkulturmedium für das potenzielle Überleben der Zellen auf der Wurzeloberfläche gelagert. In drei weiteren Fällen erfolgte eine trockene Lagerung und ein Zahn wurde beim Transport verloren. Avulsionen scheinen zwar eher selten bei derartigen Veranstaltungen vorzukommen, dennoch deutet die hohe Rate inadäquater Zahnlagerungen auf erhebliche Defizite hin. Bei den 21 Dislokationen lag die Erstversorgungsrate bei 52,4 %. Dislokationen sind häufig mit einem erhöhten Risiko für Pulpanekrosen verbunden und können zusätzlich mit Frakturen des Alveolarknochens einhergehen. Eine zeitnahe und korrekte Reposition mit Schienung gilt als essenziell für den Zahnerhalt und die Reduktion des Wundinfektionsrisikos. Zahnfrakturen wurden bei 41,1 % der Verletzten dokumentiert mit einer Erstversorgungsrate von 52,6 %. Auch hier wurde in den meisten Fällen keine zeitnahe Weiterleitung an eine zahnärztliche Praxis oder Klinik verzeichnet, sodass vermutlich keine zeitnahe adäquate Abdeckung der Dentinwunde gewährleistet wurde.
Folgeschäden und Komplikationen
In dieser Untersuchung ließ sich kein statistischer Zusammenhang zwischen dem Verletzungsrisiko und dem Auftreten möglicher Folgeschäden ermitteln. Jedoch gaben 29,8 % aller verletzten Teilnehmer/-innen an, in der Zeit nach dem Unfall Komplikationen erlitten zu haben, die in direktem Zusammenhang mit der jeweiligen Verletzung standen.Es zeigten sich Komplikationen und Folgeschäden von vermeintlich einfachen, temporären Hypästhesien an Weichgewebe (8,6 %) über einzelne komplexere Fälle mit einer Osteomyelitis (1 %) oder nicht näher bezeichnete Weichgewebsinfektionen (7,9 %). Diese Verläufe, die nicht näher evaluiert werden konnten, standen zwar in Zusammenhang zur Verletzung, dem Unfallhergang und der jeweiligen Therapie, allerdings konnte aus den Angaben der Befragten keine Kausalität abgeleitet werden.
Zusätzlich wurden weitere physische und psychische Folgeschäden identifiziert, die auch noch nach abgeschlossener (restaurativer) Therapie bestanden. In 2,4 % der Fälle wurde von einem dauerhaft veränderten Erscheinungsbild durch sichtbare Narben oder von einer bleibenden Störung der Sensibilität berichtet. 7,2 % der Teilnehmer/-innen gaben an, unter chronischen Angstzuständen zu leiden, vor allem bei der Vorstellung sich in einer Menschenmenge zu befinden.
Avulsionen waren besonders häufig mit Komplikationen assoziiert. So wurden in sechs von acht Fällen in der Folgezeit Hypästhesien an Hart- und Weichgewebe ermittelt. Dislokationen wiesen eine vergleichbare Komplikationshäufigkeit auf.
Fazit
Die Analyse der 2.003 Fragebögen ergab, dass 14,6 % der Befragten dentoalveoläre oder faziale Verletzungen bei Musikveranstaltungen erlitten hatten. Häufig vertreten waren Hämatome, Platzwunden und Zahnfrakturen, meist infolge äußerer Gewalteinwirkungen – z. B. durch Gegenstände wie Flaschen oder das Smartphone – und intensivem Körperkontakt. Der Einfluss von Alkohol- und Drogenkonsum stellte ein zentrales Verletzungsrisiko dar.
Intraorale Verletzungen traten dabei in 33,6 % der Fälle auf, darunter Zahnfrakturen, Dislokationen und seltener Avulsionen. Zwar erhielten 52,7 % der Betroffenen eine medizinische Erstversorgung, jedoch wurden nur 8,95 % an Zahnärzt/-innen oder Kliniken überwiesen. Mangelnde Ausstattung und unzureichende Schulung des medizinischen Fachpersonals könnten hier eine Rolle spielen. Mögliche Gründe könnten fehlende Behandlungsbedürftigkeit, Unsicherheiten in der Diagnostik oder eine begrenzte Ausstattung für die Erstversorgung sein. Darüber hinaus deuten die Ergebnisse darauf hin, dass zahn-, mund- und kieferspezifische Aspekte der Unfallversorgung in der Aus- und Fortbildung des Sanitäts- und Rettungsdienstes unterrepräsentiert sein könnten. Eine bessere Ausstattung sowie gezielte Schulungen könnten die Versorgungsqualität erheblich verbessern.
Interessanterweise gaben 69,5 % aller Verletzten – einschließlich jener ohne Erstversorgung – an, im weiteren Verlauf keine Komplikationen erlitten zu haben. Dies könnte darauf hindeuten, dass sogenannte Bagatellverletzungen häufig nicht als behandlungsbedürftig eingeschätzt wurden und folgenlos abheilen konnten.Trotz zahlreicher studienbedingter Limitationen unterstreichen die erhobenen Daten die Bedeutung präventiver Maßnahmen. Sinnvoll erscheinen der Verzicht auf Glasflaschen sowie eine zielgerichtete Aufklärung und gewisse Einschränkungen im Umgang mit Alkohol- und Drogenkonsum. Zudem sollten bei Musikveranstaltungen diagnostische und therapeutische Vorkehrungen für die adäquate Erstversorgung schwerer Zahnverletzungen getroffen werden. Dazu zählen insbesondere die sofortige geeignete Lagerung avulsierter Zähne in Zahnrettungsboxen sowie die direkte Überweisung an eine zahnärztliche Praxis oder Klinik. Eine Überprüfung der aktuellen Standards und der zahnmedizinischen Ausstattung bei den Sanitäts- und Rettungsdiensten könnte ein wichtiger Impuls sein, die flächendeckende Versorgung auf diesem Gebiet zu verbessern.
Autoren: Laura Koch-Klaus, Dr. Sebastian Soliman, Prof. Dr. Andreas Filippi, Prof. Dr. Gabriel Krastl, Priv.-Doz. Dr. Ralf Krug