Kieferorthopädie 18.11.2022
Legales Doping für den Kiefer? Einsetzen von Aufbissbehelf
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Im Rahmen der Funktionsdiagnostik und Therapie von craniomandibulären Dysfunktionen (CMD) werden vermehrt Aufbissbehelfe in zentrischer Kondylenposition eingesetzt.
Dabei soll eine physiologisch möglichst optimale Kiefergelenkposition erreicht werden, um das craniomandibuläre System vor Belastungsschäden zu schützen. Doch der veränderten Unterkieferlage wird inzwischen nicht nur Beachtung im Rahmen der Prävention und Behandlung von CMD-Patienten geschenkt. Untersuchungen konnten belegen, dass sich die myozentrische Kiefergelenkposition nicht nur positiv auf die Muskelaktivität der absteigenden Muskelgruppen und die Wirbelsäule auswirkt, sondern zudem auch positive Effekte auf den Bewegungsumfang und die Koordination während der Durchführung sportmotorischer Tests hat.16 Doch wie kommt es zu diesen Phänomenen? Und können Zentrikschienen (Abb. 1) dadurch neben der Zahnmedizin tatsächlich auch als legales leistungssteigerndes Mittel im Sport und anderen Lebensbereichen eingesetzt werden?
Das craniomandibuläre System
Wie ein Dominoeffekt beeinflusst die Funktionseinheit aus Zähnen, Kaumuskulatur und Kiefergelenk (craniomandibuläres System) im Zusammenspiel mit der Halswirbelsäule die gesamte Körperstatik. Verändert sich ein Teil des Systems, sorgt das auch für Veränderungen bei allen nachfolgenden Gliedern der Funktionskette, bis hin zum Fuß. Bei maximalem Zusammenschluss der Zahnreihen beider Kieferhälften wird die Stellung des Unterkiefers (Mandibula) zum Schädel durch das Höckerfurchenrelief der Zähne dominiert. Damit ist auch der Einfluss zum gesamten dorsalen und ventralen Halteapparat und der entsprechenden Muskulatur offensichtlich. So führen oft schon geringe Veränderungen im Biss, z. B. durch Zahnkorrekturen oder Zahnfehlstellungen, über eine verspannte Kaumuskulatur und eine veränderte Position eines oder beider Kiefergelenke zu Problemen im Halswirbelsäulenbereich und zu Rückenschmerzen.9
Fehlstellungen des Unterkiefers und somit Funktionsstörungen im craniomandibulären System können nicht nur mitverantwortlich für Probleme im Stütz- und Bewegungssystem sein,6,18 sondern nach Ansicht von Experten langfristig gesehen zu Haltungsschäden führen.6,10,11 Um vorliegende Funktionsstörungen im Vorfeld diagnostizieren bzw. ausschließen zu können, muss jeder Behandlung eine allumfassende Funktionsanalyse vorgeschaltet sein (vgl. Abb. 2).
Muskelaktivität
Auf einen unterschiedlich starken Zusammenbiss beider Kiefer und damit hoher wechselnder Beanspruchung der Kaumuskulatur sind nachweislich ebenso signifikante Aktivitätsunterschiede der Nackenmuskulatur zurückzuführen.7,8 Bei einer daraus resultierenden Verspannung handelt es sich im Allgemeinen um eine statische, isometrische Muskelarbeit, bei der das Muskelsystem Haltearbeit übernimmt, die von Natur aus eigentlich dem knöchernen Skelett zugedacht ist. Wird dieses knöcherne System aus dem Gleichgewicht gebracht, muss es durch zusätzliche Muskelkraft wieder ausgeglichen werden. Eine permanente, bewegungslose Muskelanstrengung wird zusätzlich notwendig, um die posturale Integrität zu wahren.9
Hier setzen die sogenannten Zentrikschienen an. Sie bewirken zumeist eine Vorverlagerung der Unterkiefer-Kondylen und somit eine Veränderung der Diskus-Kondylus-Relation bei gleichzeitiger Entspannung der umliegenden Muskulatur. Diese neu eingenommene myozentrische Position resultiert im Optimalfall wiederum in einer besseren Funktionsweise des Gesamtorganismus.
Aufbissschiene
Die komplex geformten Kauflächen der Zähne müssen beim Biss des Menschen punktgenau ineinandergefügt werden. Hier gibt es kein „give and take“, denn durch den harten Schmelz der Zähne können bereits kleine Störungen das entspannte Spiel der Muskeln empfindlich stören.1 Treten beispielsweise Verspannungen und Durchblutungsstörungen in der Kau- und/oder Nackenmuskulatur auf, kann dem mit einer Aufbissschiene entgegengewirkt werden. Man unterscheidet hier zwischen vorkonfektionierten Aufbissbehelfen, wie z. B. dem Aqualizer (Abb. 4), und individuell angefertigten Aufbissschienen (vgl. Abb. 1).
Der Aqualizer kann beispielsweise nach Behandlung beim Physiotherapeuten oder Manualmediziner eingesetzt werden. Auf dem Weg in die kieferorthopädische Praxis werden vom Biss verursachte Probleme vorübergehend ausgeschaltet, sodass er als Pufferzone zwischen den Zahnreihen wertvolle Dienste, sowohl hinsichtlich der Schmerzlinderung als auch bei der Erforschung ihrer Ursachen, leistet.
Bei höherer Belastung, beispielsweise bei sportlicher Aktivität, geraten vorkonfektionierte Aufbissbehelfe wie der Aqualizer jedoch an ihre Grenzen. Zum einen ist die Passgenauigkeit in den meisten Fällen nicht hinreichend gegeben, sodass es nahezu unvermeidbar ist, dass der Aufbissbehelf während der Durchführung komplexer Bewegungsabläufe verloren geht. Zum anderen bieten die mit Wasser oder Luft gefüllten Aufbisskissen nicht die notwendige Stabilität, um den bei Belastung extrem hohen Kaukräften im Seitenzahngebiet standzuhalten. Die Folge ist ein Platzen der Kissen und damit die Nutzlosigkeit des Aufbissbehelfs. Hinzu kommt, dass ein vorkonfektionierter Aufbissbehelf, zu denen auch die Variante des „Boil&Bite“-Mundschutzes gehört, nicht den Schutz eines individuellen Aufbissbehelfs bieten kann, der exakt an die anatomischen Gegebenheiten des Trägers angepasst ist. Dies führt vor allem bei Kontaktsportarten zu einer höheren Verletzungsgefahr und somit Schädigung der Zähne und des umliegenden Gewebes.
Jedoch kann sich auch in Disziplinen, in denen die Unfallgefahr durch Fremdeinwirkung geringer ist, das Tragen eines vorkonfektionierten Aufbissbehelfs negativ auswirken. Eine individuell angefertigte Aufbissschiene und ein individuell angepasster Mundschutz sind den vorkonfektionierten Modellen aus medizinischer Sicht deutlich überlegen und diesen dementsprechend vorzuziehen.
Infolgedessen stellt sich die Frage, warum nicht den ohnehin in vielen Sportarten zwingend notwendigen Mundschutz mit der Funktion einer Zentrikschiene kombinieren? Die Möglichkeit, einen Mundschutz, der in vielen Sportarten der Verletzungsprophylaxe dient, entsprechend anzufertigen, dass er den Unterkiefer in die zentrische Kondylenposition führt, bietet eine einmalige Möglichkeit, die protektive Funktion mit der leistungssteigernden Komponente einer individuellen Zentrikschiene zu verbinden. Hierzu ist ein Materialmix aus Kunststoffvarianten mit unterschiedlichem Härtegrad notwendig, damit die Dämpfung bei einem Aufprall oder bei Fremdeinwirkung zum Schutz von Zähnen, Knochen und Weichgewebe weiterhin gewährleistet ist. Darüber hinaus muss die Stabilisierung der Okklusion durch einen entsprechend festen Aufbiss gegeben sein.
Zudem können negative Effekte auf die sportliche Leistungsfähigkeit, die ein vorkonfektionierter Mundschutz mit sich bringt, vermieden werden. Hierzu bietet inzwischen auch die Deutsche Gesellschaft für Sportzahnmedizin (DGSZM) ein interessantes „one4all“-Mundschutzkonzept an5 (Abb. 5).
CMD-Patienten
Besonders bei Patienten mit craniomandibulären Dysfunktionen hat der Einsatz einer individuellen Aufbissschiene positive Auswirkungen auf die physische Leistungsfähigkeit. So konnten Lai et al. feststellen, dass sich bei CMD-Patienten durch den Einsatz einer solchen Schiene die Sprungkraft sowie die Ausdauer bei Belastungstests verbessern.15 Ebenso konnten Maurer et al. den positiven Effekt auf die Kraftentwicklung und Maximalkraft bei sportmotorischen Sprungtests nachweisen.12 Funktionell positive Auswirkungen auf die Wirbelsäulenstellung zur Linderung craniomandibulärer Dysbalancen mittels Aufbissbehelfen bekräftigte Kopp.14
Insbesondere die Wirbelsäule ist ein verletzungsanfälliges Konstrukt. In Zeiten von zunehmend sitzender Tätigkeit, verbunden mit Bewegungsmangel im Alltag und damit einhergehender Rückenproblematik, bedarf sie nicht nur bei Athleten besonderer Beachtung. Spezielles Augenmerk gilt zudem Personen, die unter chronischen Kopf- und Nackenschmerzen leiden. Die Ursache hierfür liegt oftmals in einer nicht optimal eingestellten Okklusion und kann durch Bruxismus begünstigt werden. Auch in diesem Fall ist der Einsatz eines individuellen Aufbissbehelfs ratsam.
Okklusion und Bewegungsapparat
In der Literatur wird kontrovers über den Zusammenhang von CMD, insbesondere den Okklusalstörungen und der sportlichen Leistungsfähigkeit diskutiert. Hier gibt es verschiedene wissenschaftliche Ansätze. Besonders wichtig ist die Unterscheidung in auf- und absteigende Kette. Im Vorfeld gilt es zu diagnostizieren, wo der Ursprung der Dysfunktion bzw. Leistungseinschränkung liegt, sodass problemorientiert interveniert werden kann. Löst beispielsweise eine Störung im Bewegungsapparat im Sinne einer aufsteigenden Kette eine Störung im Kausystem aus, gilt es hier zunächst therapeutisch einzugreifen.4
Basierend auf der Studienlage der letzten zehn Jahre ist festzuhalten, dass keine signifikant unterschiedlichen Prävalenzen von CMD bei Athleten und Non-Athleten festgestellt werden konnten. Der Mangel an strukturierten und standardisierten Untersuchungsmethoden lässt die gesamte Studienlage sehr inhomogen erscheinen. Jedoch zeigt sich ein Trend im Minimum zu Komorbiditäten bei CMD und Funktionsstörungen im Bewegungsapparat. Interessiert uns bei Athleten die sportliche Performance, sollte daher auch ein Blick auf das craniomandibuläre System gelegt werden, um eine womöglich bestehende Dysfunktion zu beheben und so die physische Leistungsfähigkeit des Sportlers zu steigern.
Im Vergleich zu CMD-Patienten scheint bei stomatognath gesunden Personen der Effekt eines individuell angefertigten Aufbissbehelfs auf die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Organismus geringer, ist jedoch nicht widerlegt und erscheint zumindest im Hinblick auf eine Stabilisierung der Okklusion sinnvoll.14 Zudem besitzen die wenigsten Menschen von Natur aus eine physiologisch „optimale“ Okklusion und Kiefergelenkposition, sodass der Ansatz hier nicht ausschließlich bei CMD-Patienten liegen darf. Umfassende Untersuchungen finden hierzu aktuell in Zusammenarbeit mit der Poliklinik für Kieferorthopädie des Universitätsklinikums Frankfurt am Main (ZZMK Carolinum) statt (Abb. 6).
Sportliche Leistungsfähigkeit
Ein entscheidender Faktor im Hinblick auf die sportliche Leistungsfähigkeit ist die Mundgesundheit. Durch den Konsum von Nahrungsergänzungsmitteln und zuckerhaltigen „Sportdrinks“ ist diese bei Athleten besonders stark beeinträchtigt. Im Jahr 2012 führten Needleman et al.13 im Rahmen der Olympischen Sommerspiele in London eine groß angelegte Studie hierzu durch. Die Auswertung von 278 Athleten aus 25 Sportarten ergab, dass Zahnarztbesuche mit 30 Prozent einen großen Anteil aller notwendigen Arztbesuche ausmachen. Die Kariesinzidenz lag bei den untersuchten Sportlern bei 55 Prozent. Bei 76 Prozent wurde eine Gingivitis festgestellt und 40 Prozent der Athleten gaben an, durch ihre Mundgesundheit negativ beeinträchtigt zu sein. Zudem berichteten 18 Prozent über einen direkten Einfluss auf ihr Training und ihre sportliche Performance.
Auch 2020 zeigte eine Metaanalyse über den Einfluss oraler Gesundheit auf die körperliche Leistungsfähigkeit deutlich den negativen Effekt von mangelnder Mundgesundheit (Malokklusion und Parodontitis) auf die körperliche Fitness und Leistungsfähigkeit.3
Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass besonders bei Leistungssportlern der Zahnarztbesuch unter allen Arztbesuchen keinesfalls als zweitrangig angesehen werden darf. Wird die Konsultierung eines Zahnarztes erst bei Schmerzsymptomatik in Erwägung gezogen, ist es oftmals schon zu spät. Eine unnötig lange Ausfallzeit wird unvermeidbar, was besonders im Profibereich nicht nur längerfristige gesundheitliche, sondern auch finanzielle Einbußen zur Folge hat.
Fazit
Die Steigerung der physischen Leistungsfähigkeit des Individuums ist von vielen Variablen abhängig und nach derzeitigem Stand der Forschung nicht auf das alleinige Tragen einer Zentrikschiene zurückzuführen. Jedoch hat die myozentrische Kiefergelenkposition und damit veränderte Unterkieferlage durchaus Auswirkungen auf den Gesamtorganismus.
Insbesondere die bisher festgestellten positiven Auswirkungen auf den Bewegungsapparat bekräftigen die leistungssteigernde Wirkung einer individuell angefertigten Aufbissschiene und lassen Spielraum für weitere Forschungsansätze. Vor allem im Spitzensport bedeuten wenige Prozent oftmals den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage.
In Sportarten, in denen ohnehin ein Mundschutz getragen werden muss, wäre es fahrlässig, dessen Potenzial nicht vollständig auszuschöpfen. Aber auch im Alltag dient das Tragen eines individuellen Aufbissbehelfs der Verletzungsprophylaxe, indem es der übermäßigen Belastung des craniomandibulären Systems, insbesondere in Stresssituationen, vorbeugt und somit den negativen Auswirkungen auf den Gesamtorganismus entgegenwirkt.
Es besteht kein Interessenkonflikt seitens der Autoren.
Die Literaturliste zum Beitrag steht hier zur Verfügung.
Der Beitag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschien.