Kieferorthopädie 28.02.2011

Die GNE – Ein Behandlungskonzept



Die GNE – Ein Behandlungskonzept

Die GNE hat sich als valide Methode zur Behandlung transversaler Diskrepanzen etabliert, wobei sowohl die konventionelle als auch chirurgisch unterstützte Gaumennahterweiterung weitreichende basale, dentale und funktionelle Effekte hervorrufen. Dr. Karin Habersack und Dr. Julia Becker geben einen Überblick hinsichtlich Indikationen, Wirkungsweise und Apparaturvarianten im Spektrum der Früh- bis Spätbehandlung.


Die GNE ist eine seit 1860 bekannte Methode zur The­rapie basaler transversaler Diskrepanzen (Angell). Die anatomischen Verhältnisse des Mittelgesichts, insbesondere die bekannterweise spä­te Ossifikation der Sutura palatina mediana, machen diesen tiefgreifenden Eingriff möglich. Bei okklusaler Ansicht durchläuft die „Gaumennaht“ in anteroposteriorer Richtung die Sutura in­termaxillaris, den Processus alveolaris, die beiden Maxillae sowie die Ossa palatina bis zur Spina nasalis posterior. Die Auswirkungen der GNE sind jedoch nicht nur auf diese Strukturen lokalisiert, sondern konnten an Suturen bis in den Bereich des Osnasale und der Fossa cra­nialis nachgewiesen werden. Dies wurde mittels Finite Elemen­te Methode simuliert (Holberg) und an 3-D-CT-Reformatierungen unserer Patienten auch erstmals visua­lisiert (Habersack) (Abb. 1 bis 3). Die rein kieferor­thopädische GNE wird vom Kindes- bis hin zum jungen Erwachsenenalter durchgeführt. Da die interindividu­elle Ossifikation der Sutura palatina mediana eine große Spannbreite hat, bleibt bei nicht erfolgreicher Öffnung in der Spätbehandlung die chirurgisch unterstützte GNE (SARPE) alternativ durchzuführen.

Die Indikation zur Gaumennahterweiterung ist dann gegeben, wenn eine transversale maxilläre Unterentwicklung vorliegt. Hier imponiert oft die kleine apikale Basis mit kompensatorischer Bukkalkippung der Seitenzähne und einseitigem oder der beidseitigem Kreuzbiss. Bei der Anfangsdiagnostik ist stets das Vorliegen einer Zwangsbisskomponen­te abzuklären. Die eingeschränkte Nasen­atmung gilt als rhinologische Indikation. Bei Klasse II- Malokklusionen mit posteriorem Kreuzbiss ermöglicht eine Gaumennahterweiterung die Anteriorentwicklung der Mandibula entsprechend dem „Fuß in den Pantoffel“-Prinzip nach Körbitz.

Grenzen der Expansion sind einzu­halten, um einen Dualbiss zu ver­meiden. In Kombination mit der Protraktion der Maxilla wird die GNE zur Therapie der Klasse III eingesetzt, die generell in prognathen Gesichtstypen gegenüber retrognathen und orthognathen Gesichtstypen erschwert zu behandeln ist. Bei Zugrundelegung einer kephalometrischen Analyse mit fließenden Normen und leitenden Variablen (Hasund) wird dies deutlich. Hier zeigt sich u.a. eine vergleichbare Interpretierbarkeit des ANB-Winkels und der Wit’s ap­praisal. Außerdem sollte bei Klasse III-Fällen neben der strukturellen Wachstumsana­lyse nach Björk, Solow und Ödegaard auch die Familienanamnese zur Prognose he­rangezogen werden. In mo­deraten Fällen kann mittels GNE/Protraktion eine spätere gnathisch-chirurgische Therapie vermieden werden.

In sorgfältiger Analyse aller kieferorthopädischen Anfangsunterlagen soll der Charakter der Dysgnathie bzw. Malokklusion abgeklärt werden. Funktionelle Parameter wie Zungenlage und -funktion, Tonsillenausprägung und Art der Atmung sind zu beachten. In Fällen mit Platzmangel darf die Extraktion bzw. Non-Extraktions-Entscheidung nicht allein aufgrund des zu erwartenden Platzgewinns durch die GNE getroffen werden, die nach Derichsweiler pro Millimeter basaler Expansion 0,7 mm Platzgewinn im Zahnbogen erbringt. Die morphologisch und funktionell vorgegebenen Grenzen im Unterkiefer müssen respektiert werden, um Rezidive zu vermeiden.

Um die forcierte Erweiterung der Gaumennaht zu erzielen, sind ein spezielles Appara­turdesign sowie eine stan­dardisierte Methodik unerlässlich. In jedem Fall sollte eine festsitzende Apparatur verwendet werden. Abhängig vom Dentitionsstadium ist im Milch- und frühen Wechsel­gebiss (Abb. 4a–f) die Acrylschienen-GNE (Winsauer) ei­ne häufig gewählte Alter­native zur bändergetragenen Apparatur (Derichsweiler). Die dentalen Verankerungseinheiten müssen stabil mit der Palatinalsplitschraube ver­bunden sein, um eine maximale Rigidität der Apparatur gegenüber den bei der Aktivierung auftretenden Kräften zu gewährleisten. Der Stellmodus sollte initial drei Aktivierungen pro Tag betragen. Ab dem sechsten Tag nach Insertion sind dann jeweils zwei Aktivierungen durchzuführen, bis die gewünschte Expansion erreicht ist.

Dabei wird der Platzbedarf für die bukko-palatinale Auf­richtung (Torque) der initial gekippten Seitenzähne einkalkuliert, sodass eine entsprechende Überexpansion erfolgen muss. Klinisches Zeichen der Öffnung der Sutur ist das entstehende Dias­tema mediale. Nach Ende der aktiven Phase verbleibt die Apparatur für mindestens vier, in der Regel sechs Monate in situ. Anschließend erfolgt je nach Kasuistik die Retention mit herausnehmbaren Geräten beziehungsweise die Weiterbehandlung mittels Multibandapparatur.

Um den Behandlungsablauf der Gaumennahterweiterung für Patient, Eltern und Behandler zu optimieren, ist das Befolgen eines Ablaufpro­tokolls unerlässlich, welches Punkte zu Aufklärung und Ins­truktion des Patienten sowie alle vom Behandler durch­zuführenden Arbeitsschritte enthält. Liegen initial idiopathische Resorptionen oder andere Probleme an den Ankerzähnen vor, wie parodontale Schäden oder umfangreiche Restaurationen, ist eine implantatgetragene GNE als Alternative zu überdenken. Bei Zeichen der Nichtöffnung der Sutura palatina mediana wie persistierenden ausstrahlenden Schmerzen bis zur Nasenwurzel oder „flaring out“ der Ankerzähne muss die Behandlung unterbrochen werden. In der Spätbehandlung muss bereits vor Behandlungsbeginn über die eventuelle Notwendigkeit der SARPE aufgeklärt werden.

Im Erwachsenenalter kann die chirurgisch unterstützte GNE in das interdisziplinäre Konzept der kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Kombinationstherapie integriert werden. Dies ist häufig der Fall bei Klasse II-Dys­gnathien sowie auch bei Laterognathien, wo jeweils eine maxilläre Erweiterung der mandibulären Vor- respektive Seitverlagerung vorausgeht. In ausgewählten Fällen, abhängig von der kieferorthopädischen Vorbehandlung, kann die chirurgische Gaumenerweiterung zeitgleich mit Umstellungsosteotomien am Ober- und Unterkiefer erfolgen, ein Verfahren, das Professor G. W. Paulus (München) in den letzten Jahren vermehrt angewandt hat, um dem Patienten einen zusätzlichen operativen Eingriff zu ersparen. Er entwickelte auch neben der klassischen SARPE (2 piece maxilla) ein neues Verfahren (3 piece maxilla), bei dem die Osteotomielinien am Gaumen beidseitig paramedian verlaufen. Für den Patienten birgt diese Methode ästhetische Vorteile bei vergleichbarem transversalen Effekt.

Sowohl die konventionelle als auch die chirurgisch un­terstützte GNE hat weitreichende basale, dentale und funktionelle Effekte, die komplex auf das Mittelgesicht einwirken. Die Indikationsstellung und Durchführung der forcierten Gaumennahterweiterung setzt daher Fachkompetenz und kritische Evaluierung voraus.

Protokoll (Checkliste GNE) und Literaturempfehlungen können bei den Verfassern angefordert werden.


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