Kieferorthopädie 11.04.2025
Sprechauffälligkeiten im Rahmen einer kieferorthopädischen Therapie
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Häufig sind Zahn- oder Kieferfehlstellungen mit anderen Störungen im orofazialen Bereich vergesellschaftet. Hierbei steht natürlich die Entwicklung der Sprache im Vordergrund, jedoch auch der Blick auf myofunktionelle Störungen, Stimme, Haltung und das Schluckmuster.
In diesem Übersichtsartikel werden Störungen der Entwicklung der Sprache, sogenannte Dyslalien oder Artikulationsstörungen, thematisiert.
Was versteht man unter der Sprachentwicklung?
Das Erlernen der Sprache ist ein wichtiger Prozess, welcher verschiedene Etappen durchläuft (Fox-Boyer 2003). Dabei lernen Kinder, Sprache zu verstehen und auch zu produzieren. Um diese Fähigkeiten auszubauen, ist insbesondere die Interaktion mit Bezugspersonen und der Umgebung der Kinder von enormer Bedeutung.
Für die Diagnosestellung sprachlicher Beeinträchtigungen sind Kenntnisse über die Entwicklung der kindlichen Sprache notwendig. Daher werden im Folgenden Etappen der kindlichen Sprachentwicklung in Kurzform dargestellt. Grundsätzlich werden bei der Sprachentwicklung mehrere Ebenen – sogenannte sprachsystematische Ebenen – beurteilt.
Hierbei handelt es sich um die phonetisch-phonologische, semantisch-lexikalische, morphologisch-syntaktische und pragmatisch-kommunikative Ebene, welche hier vereinfachend zusammengefasst dargestellt werden.
Die Meilensteine der Sprachentwicklung
Die erste Lallphase
In dieser Phase werden Schreien, Gurren und Lachen geäußert. Die Stimme startet mit einem Funktionsspiel, Gurgel-, Schmatz- und Vokallaute werden produziert.Die Kontrolle über das eigene Gehör spielt in diesem Zeitraum eine untergeordnete Rolle, Kinder mit Hörschädigung durchlaufen diese Phase ebenso.
Als Zeitspanne hierfür werden die ersten Lebensmonate bis zum sechsten Lebensmonat angegeben.
Die zweite Lallphase
In dieser Phase spielt das Hören eine große Rolle, die Bildung der Laute und Betonungsmuster ähnelt langsam der Muttersprache. Es ist nun möglich, die Akustik zu kontrollieren. Die ersten Lallmonologe und Silbenketten in Muttersprache wie „dadada“ sowie erste Wörter werden produziert, zum Beispiel „Wauwau“.
Bis zum zweiten Lebensjahr werden bilabiale Laute gebildet, hierzu gehören /m/, /b/, /d/, /t/, /n/, /p/, /f/, /w/, /l/.
Es besteht ein Wortschatz von ca. 50 Wörtern. Ansonsten werden die Kinder als „late talker“ bezeichnet, wobei zur Bewertung Elternfragebögen genutzt werden sollen. Auch können Einwortsätze gebildet werden, d.h. ein Kind kann bitten, fragen, antworten und alles in einem Wort. Zum Beispiel „Sonne“ – „Da ist die Sonne“. Anfangs werden auch Zwei- und Dreiwortsätze gebildet: „Mama da“.
Bis zu drei Jahren können nun auch Konsonantenverbindungen benannt werden (/bl/, /fl/). Der Wortschatz umfasst inzwischen ca. 450 Worte, die gesprochen werden können, beispielsweise „Mama hat Hunger“. Außerdem können Verbzweitstellungen gebildet werden und einfache Konjunktionen genutzt sowie Drei- bis Fünfwortsätze gebildet werden. Vergangenheits- und Zukunftsformen werden genutzt.
Bis zu vier Jahren sollten bis auf /s/ und /sch/ alle Laute korrekt gesprochen werden können, die Verbzweitstellung und -reflexion sind vorwiegend korrekt. Verse und Reime werden gesprochen.
Bis zu fünf Jahren können außer dem S-Laut alle Laute gesprochen werden, Oberbegriffe und abstrakte Begriffe wie z.B. Pech werden verwendet; das Kind sollte bis „zehn“ zählen und Aufträge erfüllen können. („Nimm deinen Teller und leg ihn auf den Tisch.“)
Pluralformen werden benutzt, und es können kurze Geschichten nacherzählt werden.
Bis zum sechsten Lebensjahr wird der Wortschatz weiter ausdifferenziert, auch der S-Laut wird in diesem Alter meist normgerecht gebildet.
Natürlich sind diese „Normen“ individuell zu betrachten und Abweichungen können physiologisch sein. Dennoch sollten starke Verzögerungen auch hinsichtlich organischer Auffälligkeiten genauer untersucht und hinterfragt werden.
Sicherlich findet eine kieferorthopädische Behandlung meist im höheren Lebensalter statt. Dennoch ist das Wissen über die Grundabläufe der Sprachentwicklung auch für den Zahnarzt und Kieferorthopäden wichtig. Auffälligkeiten in der Sprachbildung bleiben dabei nicht selten bestehen, und eine logopädische Behandlung durch den Zahnarzt oder Kieferorthopäden sollte ausgelöst werden.
Was ist eine Sprachentwicklungsstörung (SES)?
Wenn es zu Beeinträchtigungen der Entwicklung der Sprache und Kommunikation bei Kindern kommt, liegen zeitliche oder inhaltliche Abweichungen auf den oben beschriebenen Ebenen vor, und es existieren Altersabweichungen von der Altersnorm nach unten (Meilinger 1999, Böhme 2003).
Grundsätzlich kann diese Störung einzeln, also isoliert auftreten, jedoch kann sie auch in Zusammenhang mit Erkrankungen stehen.Beispiele für ursächliche Grunderkrankungen, die eine Störung der Sprachentwicklung hervorrufen können, sind:
- Entwicklungsstörungen wie Autismus oder Aufmerksamkeitsdefizits-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) usw.
- Hörstörungen, Hörschädigungen oder Hörverlust
- In Vergesellschaftung mit genetischen Störungen auftretend, z.B. Down-Syndrom
- Neurologische Erkrankungen
- Störungen der motorischen Funktionen
Eine SES liegt vor, wenn es Abweichungen in der Entwicklung der Sprache nach unten gibt. Eine frühzeitige Diagnosestellung ist enorm wichtig, um Kinder zu unterstützen, ihre sprachlichen Fähigkeiten zu etablieren und zu verbessern.
Hinweise auf eine SES können sein:
- Später Sprachbeginn erst ab 2 Jahren und langsamer Spracherwerb
- Sprachverständnis > Sprachproduktion
- Komorbiditäten, welche eine Grunderkrankung einer SES sein könnten
In Bezugnahme auf Zahn- und Kieferfehlstellungen sollte zudem eine Prüfung auf das Vorliegen von adenoiden Vegetationen und submukösen Gaumenspalten erfolgen.
Adenoide Vegetationen: auch Polypen/Rachenmandel genannt. Können zu einer Behinderung der Nasenatmung und zum Entstehen myofunktioneller Störungen führen. Wichtige Symptome sind häufige Infektionen, Schnarchen, Fehlbelüftung des Mittelohres mit Tubenmittelohrkatarrh und Paukenerguss bis hin zu Schallleitungsschwerhörigkeiten. Eine Hals-Nasen-Ohrenärztliche Abklärung ist indiziert.
Submuköse Gaumenspalten: Hierbei handelt es sich um angeborene Fehlbildungen im Bereich des Gaumens, welche häufig sehr spät erkannt werden. Unter der Mundschleimhaut bilden hierbei fehlgebildete Muskeln eine vollständige oder teilweise offene Spalte. Charakteristisch ist ein bestehendes offenes Näseln, d.h. eine Rhinophonia aperta. Trotz logopädischer Begleittherapie kommt es dabei zu keiner Besserung. Eine gespaltene Uvula, eine Tubenfunktionsstörung oder reduzierte Gaumenkontraktionen sind Beispiele für mögliche vorliegende Symptome. Vor allem velare Laute sind hiervon beeinflusst, z.B. /g/, /k/, /ng/, /r/.
Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen
Die Abklärung kann durch Sprachtherapeuten erfolgen sowie auch durch eine fachliche Untersuchung durch einen HNO-Arzt, Phoniater oder Pädaudiologen.
Im klinischen Alltag werden Sprachtherapeuten oder Logopäden häufig Kinder zur Untersuchung der Sprachentwicklung, Artikulation und möglichen myofunktionellen Störungen überwiesen. Dabei ist es notwendig zu unterscheiden, ob es sich um eine Störung der Artikulation (phonetische Störung) oder eine Störung der Lautverwendung (phonologische Störung) handelt (Böhme 2003).
Phonetische Störung
Als phonetische Störungen werden Artikulationsstörungen beschrieben. Hierbei ist es nicht möglich, die Laute motorisch zu bilden. Die Sprechmotorik ist hierbei eingeschränkt.
Artikulation meint die Formung der Laute im Ansatzrohr, durch die Bewegung der Artikulationsorgane zu den Artikulationsorten. Der Vokaltrakt, auch Ansatzrohr genannt, besteht hierbei um den Pharynxraum, Mundhohlraum und die Nasenhöhle. Artikulationsorgane, d.h. bewegliche Anteile, sind die Lippen, der Unterkiefer, Zunge, Gaumensegel und Rachen (Wirth 2000).
Grundsätzlich spielen organische oder funktionelle Ursachen eine Rolle (Abb. 2).
Phonologische Störung
Im Gegensatz zu phonetischen Störungen ist hier die Lautverwendung betroffen. Dabei kann also der Laut in seiner Umgebung nicht korrekt eingesetzt werden, wobei er jedoch motorisch, also phonetisch, gebildet werden kann.Im Rahmen der Entwicklung der Kinder kann dies ein normgerechter Prozess der Sprachentwicklung sein, z.B. wenn das /sch/ vorverlagert wird, also /sch/ durch ein /s/ ersetzt wird, was oft interdental geschieht, z.B.: „Schuhe“ – „Suhe“. Dieser Prozess sollte ungefähr bis zum sechsten Lebensjahr überwunden sein.
Im Rahmen der Diagnostik muss abgeklärt werden, ob ein Laut bereits in einer anderen Lautposition abgebildet werden konnte, was auch durch Vor- und Nachsprechen getestet werden kann (Fox-Boyer 2003) – ist der Patient in der Lage, entsprechende Laute zu bilden, liegt eine phonologische Störung vor (Abb. 3).
Phonetische Störung: Sigmatismen
Sigmatismen sind die häufigste Artikulationsstörung im Deutschen. Hierbei fällt die Fehlbildung der S- und Zischlaute akustisch auf (Kahl-Nieke 2009). Diese Störung kann sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen auftreten. Es gibt verschiedene Formen des Sigmatismus. Häufig kommt die interdentale Form vor, bei welcher die Zungenspitze durch die geöffneten Zahnreihen gestreckt wird – ein flächiges Reibegeräusch entsteht. Dies ist sowohl akustisch als auch visuell gut erkennbar. Häufig tritt dies bei frontal offenen Bissen auf (Abb. 4), die Patienten weisen oft einen sehr schmalen Oberkiefer und einen frontal offenen Biss mit oft bestehendem infantilen Schluckmuster auf. Somit wird deutlich, dass Kiefer- und Zahnfehlstellungen Sprachauffälligkeiten bedingen können (Kahl-Nieke 2009).
Bei der addentalen Form des Sigmatismus stößt die Zunge gegen die geschlossene Zahnreihe. Der Ziellaut klingt „dumpf“ oder „unscharf“. Vor allem bei in der Sagittale auffälligen Zahn- und Kieferfehlstellungen ist diese Form anzutreffen (Abb. 5).
Es ist auch möglich, dass (interdentale) Sigmatismen neu oder zeitweise auftreten. So ist dies beispielsweise bei Rezidiven nach kieferorthopädischer Therapie (Abb. 6). Häufig weisen Patienten ein bis dato unerkanntes infantiles Schluckmuster auf, welches die frontale Bissöffnung im Sinne eines dentalen Redizives bewirkt. Den Patienten fällt dann nicht selten eine Problematik bei der Aussprache von Zischlauten (/s/, /ch/, /sch/) im Sinne einer Artikulationsstörung auf.
Auch im Wechselgebiss, v.a. in der ersten Phase im Rahmen des Frontzahnwechsels, können kurzzeitig Sprachauffälligkeiten entstehen, welche sich häufig nach vollständigem Durchbruch der Zähne abstellen.
Therapeutische Ansatzpunkte
Wie bereits angesprochen, sollte – falls Abweichungen von der Norm auffallen – eine Überweisung zur entsprechenden Fachgruppe (z.B. HNO-Arzt, Pädaudiologe, Logopäde und Kieferorthopäde) erfolgen.
Bei Indikationsstellung zur Behandlung kann eine Therapie zur Behebung der Fehlstellung vorgenommen werden. Das betrifft beispielsweise sprachtherapeutische bzw. logopädische Therapien und myofunktionelle Übungen (Kittel 1998, Thiele 1992), kieferorthopädische Korrekturen der Zahn- und Kieferfehlstellung sowie Aufheben der Fehlfunktionen durch Entfernung der Polypen oder Verschluss submuköser Gaumenspalten.
Für Kieferorthopäden und Zahnärzte ist seit dem 1.7.2017 die Heilmittelverordnung durch Zahnärzte in eigener Richtlinie geregelt. Dabei existiert ein Heilmittelkatalog, welcher beispielsweise eine Sprech- und Sprachtherapie bei Störungen des Sprechens (SPZ, z.B. durch Zahn- und Kieferfehlstellungen) beinhaltet.
Erstverordnungen können bis zu zehn Sitzungen umfassen und sollten ein- bis dreimal wöchentlich durchgeführt werden. Sprech- und Sprachtherapie erfolgt meist über 30 oder 45 Minuten. Für eine Folgeverordnung sind nochmals zehn Sitzungen verschreibbar. Im Regelfall sollten nicht mehr als 30 Einheiten notwendig sein.
Informationshefte sind beispielsweise bei der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V. einsehbar.
Zusammenfassung
Das Erlernen der Sprache ist ein essenzieller Bestandteil kindlicher Entwicklung, da diese ein wichtiges Kommunikationsmittel darstellt. Die Sprache bildet sich in Phasen aus. Störungen des Sprechens können verschiedenste Ursachen haben, beispielsweise diverse Grunderkrankungen. Außerdem können sie auch aufgrund einer Zahnfehlstellung existieren.
Grundsätzlich ist es von enormer Bedeutung, die Ursache der Sprechstörung zu erkennen und diese zu therapieren. Dazu sind verschiedenste Fachgruppen wie HNO-Arzt, Pädaudiologe, Logopäde und Kieferorthopäde zu Rate zu ziehen.
Ein Zahnarzt oder Fachzahnarzt für Kieferorthopädie kann im Rahmen der Heilmittelverordnung für Zahnärzte Therapiemöglichkeiten im Sinne von logopädischen Behandlungen als Erstverordnungen über zehn Sitzungen à 45 Minuten verschreiben.
Dieser Artikel ist in der KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.