Kieferorthopädie 13.09.2024

Das infantile Schluckmuster und dessen Bedeutung in der KFO



Das infantile Schluckmuster und dessen Bedeutung in der KFO

Foto: Dr. Sandra Riemekasten

Im Rahmen der Überwachung der Kiefer- und Gebissentwicklung ist es erforderlich, bei Auffälligkeiten auf Ursachenforschung zu gehen. Neben genetischen Veranlagungen können unter anderem auch Störungen der Myofunktion, des Schluckens und der Sprachentwicklung Auslöser sein. Das infantile Schluckmuster wird häufig spät erkannt und kann in der Folge zu gravierenden Zahnfehlstellungen und Rezidiven führen.

Zahnärzte und Kieferorthopäden sollten Gebissentwicklung und Ausbildung der Kieferrelation von Kindern und Jugendlichen aufmerksam verfolgen, um den optimalen Behandlungszeitpunkt zu identifizieren. Dabei ist es wichtig, den Blick nicht nur starr auf die Zähne selbst zu richten um mögliche Behandlungsbedarfsgrade festzustellen, sondern neben extraoralen Befunden auch auf die Mundschleimhaut, Myofunktion und Artikulation zu achten.

Bedenkend, dass der Schluckvorgang bis zu 2.000 Mal pro Tag erfolgt, wird dessen enorme Bedeutung klar. Es handelt sich hierbei um ein komplexes Geschehen mit Beteiligung der Mundbodenmuskulatur sowie der Gaumen-, Kehlkopf- und Zungenmuskulatur.

Der Schluckakt selbst wird in vier verschiedene Phasen unterteilt. Zunächst kommt es zur oralen Vorbereitungsphase, beinhaltend Nahrungsaufnahme, Kauen und Speichelproduktion. Darauffolgend wird in der oralen Transportphase die Nahrung oder Flüssigkeit wellenartig durch Zungenbewegungen in Richtung Rachen transportiert. Reflexartig verschließt sich der Kehlkopfdeckel in der sich anschließenden pharyngealen Phase, um zu verhindern, dass Nahrung oder Flüssigkeit in die Atemwege geraten. Das aufgenommene Schluckgut wird Richtung Speiseröhre weitergeleitet, wonach in der ösophagealen Phase der Weitertransport durch die Peristaltik der Speiseröhre in Richtung Magen erfolgt.

Relevant für Zahn- und Kieferfehlstellung ist insbesondere die orale Transportphase. Bei der physiologischen Form sollte die Zunge gegen den Gaumen bewegt werden (Abb. 1). Kontakt zu den Zähnen ist nicht vorgesehen. Erwartet wird hieraus ein enormer wachstumsstimulierender Effekt, welcher an Gaumen und Oberkiefer ausgelöst wird.

Währenddessen bewegt sich bei dem infantilen Schluckmuster (Abb. 2) die Zunge gegen oder zwischen die Inzisiven, das heißt die Zunge drückt gegen die Zähne und zwischen die Zahnreihen (Böhme 2003). Dies kann sowohl in der Frontale als auch in der Laterale geschehen. Lippen- und Mentalismuskulatur kommen hierbei vermehrt zum Einsatz.

In der Fachliteratur wird von einem Erwerb der physiologischen Schluckfunktion im Alter von drei Jahren ausgegangen. Bei Bestehen des interdentalen Schluckmusters über das vierte Lebensjahr hinaus handelt es sich um eine Dyskinesie und wird viszerales oder infantiles Schluckmuster (tongue trust) genannt. Mögliche Risikofaktoren zur Ausbildung einer solchen myofunktionellen Störung stellen sich vielfältig dar: unphysiologische Kopf- und Körperhaltungen, Mundatmung, unphysiologische Kiefer- oder Zahnfehlstellungen, orale Habits, Syndromerkrankungen und weitere.

Durch den immer wiederkehrenden Druck der Zunge gegen die Zähne kann es zu Zahn- und Kieferfehlstellungen kommen, häufig in Kombination mit einem schwachen M. masseter und Ringmuskel, wobei der Kinnmuskel häufig kompensatorisch stark ausgeprägt ist, und eine Mundatmung vorliegt.

Zur Diagnostik des infantilen Schluckmusters wurden verschiedene Verfahren entwickelt. Für den Zahnarzt und Kieferorthopäden ist das Beobachten eines spontanen oder nach Aufforderung durchgeführten Schluckvorgangs ein wichtiger Hinweis. Auch gerötete oder verdickte Ränder der Zunge oder eine falsche Zungenruhelage können auffällig sein. Eine Zungenruhelage mit Lage der Zunge auf dem Mundboden oder mit Kontakt zu den Frontzähnen gilt hier als Warnzeichen.Im Rahmen der logopädischen bzw. sprachtherapeutischen Untersuchung werden häufig Diagnostikbögen, z.B. nach Steiner (Tab. 1), genutzt. Häufig vom Zahnarzt oder Kieferorthopäden festzustellende Auffälligkeiten bei fehlender Umstellung zum physiologischen Schluckmuster sind:

  • transversaler Schmalkiefer
  • Öffnung des Bisses
  • bialveoläre Protrusion der Frontzähne
  • Rezidive nach kieferorthopädischer Behandlung

Der oben benannte offene Biss, also ein fehlender Kontakt der Zähne im Front- oder auch Seitenzahnbereich, stellt eine kieferorthopädische Auffälligkeit dar. Beobachtet werden dabei nur Zähne, die durchgebrochen sind. Neben der skelettal bedingten Form, welche häufig vorwiegend genetische Einflüsse hat, ist die dentoalveolär-offene Form auffällig (Abb. 3).

Die Krankenkasse wird die Behandlung bei medizinischer Notwendigkeit ab über 2 mm geöffnetem Biss übernehmen, d.h. der Overbite ist dabei kleiner als null. Dentale Symptome sind häufig protrudierte Inzisiven. Zu beachten ist, dass die Zähne in Infraposition stehen können. Neben dem infantilen Schluckmuster sollten hier zwingend auch andere habituelle Einflüsse wie ein exzessiver Schnullergebrauch, Lutschen an Fingern und Zungenpressen abgeklärt werden. Die Ursache eines dentoalveolär-offenen Bisses sollte dringend beseitigt werden, um einem Rezidiv vorzubeugen.

Auch extraoral lassen sich immer wiederkehrende Symptome definieren. Hypotone Muskulatur und inkompetenter Lückenschluss sowie Mundatmung sollten hier abgeklärt werden.

Im Zusammenhang mit dem offenen Biss sind häufig auch weitere myofunktionelle Störungen, jedoch auch Sprachauffälligkeiten wie interdentaler Sigmatismus oder interdentale Bildungsweisen des „sch“ aber auch „ch“ vergesellschaftet.

Die kieferorthopädische Behandlung zielt auf den Schluss des offenen Bisses ab. Nicht selten findet man eine Besserung der Situation nach Umstellung des Schluckmusters. Sowohl herausnehmbare Apparaturen als auch festsitzende Apparaturen kommen dafür zur Anwendung.

Dass das Nichterkennen eines Habits zu Rezidiven führen kann, wurde bereits angesprochen. Es ist ratsam, solcherlei Habits oder Dysfunktionen bestenfalls vor einer kieferorthopädischen Behandlung abzustellen. Obgleich die Therapie beim Entfernen der kieferorthopädischen Apparatur als erfolgreicher Abschluss gewertet werden kann, wirkt im Anschluss die Kraft bei jedem Schluckakt wieder fehlgeleitet auf die Frontzähne. So kann sich beispielsweise wieder der Biss öffnen, wie hier an einem Beispiel verdeutlicht werden soll (Abb. 4a–c), bei welchem ein frontal offener Biss mittels kieferorthopädisch-kieferchirurgischem Vorgehen behandelt wurde, eine Automatisierung des Schluckmusters jedoch nicht stattfand. Logopädische bzw. sprachtherapeutische Ansätze sind – neben der Abgewöhnung des Habits – ganzkörperliche Übungen und Regulationen der Muskulaturen von Zunge, Wange und Lippe. Mit den Therapeuten werden Hilfestellungen und Anleitungen zum Erlernen eines physiologischen Schluckablaufes erarbeitet. Diese müssen auch außerhalb der Therapiesitzungen beibehalten werden und sollten schließlich in einer Automatisierung enden. Dabei wird deutlich, dass die Ädhärenz des Patienten bzw. dessen Eltern enorm wichtig ist sowie die Selbstbeobachtung eine übergeordnete Rolle spielt.

Im Rahmen der Heilmittelverordnung für Zahnärzte (kzbv.de) kann eine logopädische Begleittherapie vor einer kieferorthopädischen Behandlung oder begleitend ärztlich angeordnet werden. In diesem Heilmittelkatalog sind Störungen des oralen Schluckaktes (SCZ, zum Beispiel bei viszeralem Schluckmuster) direkt benannt. Die Erstverordnung erfolgt über zehn Sitzungen, welche mindestens einmal wöchentlich über 45 Minuten durchgeführt werden sollten. Es empfiehlt sich, einen Therapiebericht bei den behandelnden Logopäden/Sprachtherapeuten anzufordern, da zur gewünschten Schluckmusterumstellung bzw. Automatisierung häufig Folgeverordnungen notwendig werden.

Zusammenfassung

Der Schluckakt ist ein lebensnotwendiger Vorgang des menschlichen Körpers. Um das dritte Lebensjahr sollte das infantile Schluckmuster, das Pressen der Zunge gegen die Frontzähne, in ein physiologisches, adultes Schluckmuster umgestellt werden, wobei es zu keinem Kontakt zu den Zahnreihen während des Schluckaktes kommt. Zur Rezidivvermeidung nach kieferorthopädischen Behandlungen ist ein funktionelles und harmonisches Gleichgewicht des stomatognathen Systems erforderlich. Sollte das infantile Schluckmuster nicht erkannt werden oder es nach einer logopädischen Therapie nicht zur Automatisierung des physiologischen Schluckmusters kommen, kann die Stabilität des kieferorthopädischen Ergebnisses gefährdet sein und Folgebehandlungen werden erforderlich. Falls die Diagnostik für das viszerale Schluckmuster positiv ausfällt, sind im Rahmen der Heilmittelverordnung für Zahnärzte Therapiemöglichkeiten im Sinne von logopädischen Behandlungen verschreibbar, welche als Erstverordnung über zehn Sitzungen à 45 Minuten verschrieben werden können.

Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.

Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

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