Kinderzahnheilkunde 07.12.2020
Sherlock Holmes im Milchgebiss – der Karies auf der Spur
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Karies bleibt weltweit und über alle sozialen Schichten hinweg die häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter!1, 2 Die Milchzahnanatomie, Schwierigkeiten beim häuslichen Zähneputzen von Kleinkindern, rezidivierendes Trinken von kohlenhydratreichen Getränken aus Nuckelflaschen und versteckter Zucker in den Nahrungsmitteln lassen förmlich die Karies in den kleinen Mündern sprießen. Eine früh entdeckte kariöse Läsion im Anfangsstadium kann große und kostenaufwendige Sanierungen im Milchgebiss vermeiden. Es liegt in der Hand des Zahnarztes, die Karies frühzeitig zu erkennen. Doch wie gelingt es, den kleinen Zahnteufeln schnell auf die Spur zu kommen?
„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“ – dieser Slogan ist vielen sicherlich bekannt. Und dementsprechend sind Milchzähne auch nicht mit den Zähnen der permanenten Dentition gleichzusetzen. Es gibt einige Besonderheiten im mikro- und makromorphologischen Aufbau, die man im Hinterkopf behalten sollte, um überhaupt die Karies im frühen Stadium zu diagnostizieren. Milchzähne haben einen sehr dünnen Schmelzmantel, etwa die Hälfte von dem eines bleibenden Zahnes. Der Mineralgehalt ist geringer. Die Pulpakammer ist sehr ausgedehnt und die Pulpahörner liegen exponierter.3, 4 Auch wenn das Milchgebiss im Frontzahnbereich häufig lückig steht, so stehen die Milchmolaren oft extrem eng aneinander und weisen breite und flächige Approximalkontakte auf.3, 4 In diesen Zwischenräumen entstehen sehr früh kariöse Läsionen, die sich mit dem bloßen Auge während der klinischen Befunderhebung oft gar nicht erblicken lassen.
Für die Kariesdiagnostik bei Kindern empfiehlt sich zu Beginn eine gründliche Anamnese zu Ernährungs- und Mundhygienegewohnheiten sowie zur Fluoridprophylaxe. Oft lässt sich hier schon herausfiltern, ob ein erhöhtes Kariesrisiko besteht. Daran anschließend erfolgt die klinische Untersuchung. Zur gründlichen Kariesdiagnostik sollten auch weitere optische oder bildgebende Methoden herangezogen werden.
Visuell-taktil
Die Inspektion der Mundhöhle kann mit bloßem Auge erfolgen. Empfehlenswerter sind jedoch Vergrößerungshilfen wie Lupenbrillen. Denn gerade bei Kindern können sich dunkel verfärbte Fissuren bereits als aktive Läsionen bis ins Dentin hinein entpuppen.16 Auch eine Sonde kann zur taktilen Befunderhebung nützlich sein. Doch sollte man achtgeben, dass damit intakte Schmelzoberflächen von Initialläsionen zum Einbruch gebracht werden können. Andererseits kann das Hängenbleiben in den Fissuren auch durch deren Morphologie verursacht sein.4, 16
Kinder wollen die spitze Sonde oft nicht akzeptieren und haben von vornherein Angst, dass man ihnen damit wehtun könnte. Daher sollte zunächst mit der bekannten Tell – Show – Do-Methode der „Zahnfühler“ mit der abgerundeten Seite auf der Hand des Kindes sanft entlanggestrichen werden.
Des Weiteren gehören zur Diagnostik gute Lichtverhältnisse und die Trocknung des Zahnes. Kinder lieben es, sich zu verkleiden, und somit kann man vor dem Anknipsen der Behandlungsleuchte dem kleinen Patienten gern eine Sonnenbrille anbieten. Vielen Kindern erscheint der Luftpuster unheimlich oder sie haben damit bereits schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn das Kind trotz Zeigen an der Hand den Puster ablehnt, kann auf eine Watterolle zur Trocknung des Zahnes ausgewichen werden. Die Watterolle erfährt seltenst Ablehnung. Als Tipp empfiehlt es sich, den Kindern eine zweite Watterolle in die Hand zu geben, die sie während der Behandlung festhalten. Hierbei können sie den Gegenstand erfühlen, sich damit vertraut machen und sind somit abgelenkt.
Während der klinischen Inspektion empfiehlt es sich, auf Plaque-Retentionsstellen zu achten. Oft finden sich im Oberkiefer erhöhte Plaquestellen an den Vestibulärflächen der Milchmolaren und den Zervikalflächen der vorderen Inzisivi. Im Unterkiefer befinden sich die für die Zahnbürste schwierig zu erreichenden Stellen meist lingual. Diese vulnerablen Stellen sollte man den Eltern zeigen und sie gleichzeitig mit Tipps für eine effizientere Putztechnik motivieren. Aufgrund der engen Approximalkontakte sollten die Eltern und kleinen Patienten bereits sehr früh an die Zwischenraumreinigung herangezogen werden. Mit Zahnseide, am besten aufgespannt auf einem Zahnseidestick, lassen sich die Interdentalräume gut reinigen. Die Sticks gibt es in bunten Farben und Motiven in Drogerien zu kaufen und finden somit schnell Akzeptanz bei den Kleinsten.
Röntgen
Für eine genaue und gründliche Kariesdiagnostik sollten Röntgenbilder angefertigt werden. Empfehlenswert sind Bissflügelaufnahmen, welche je nach Kariesrisiko alle ein bis zwei Jahre wiederholt werden können. Dunkel schimmernde Verfärbungen unter der intakten Schmelzoberfläche im Approximalraum oder weißlich-opake Streifen, die sich meist um die oral-zervikalen Flächen der Milchmolaren ziehen, können Hinweise auf eine Interdentalraumkaries sein. Mit der Röntgenaufnahme sind bereits kleinste Kariesstellen diagnostizierbar. Im frühen Stadium lassen sich die Kavitäten leichter und schmerzärmer behandeln. Das sollte man vor allem den Eltern mitteilen, wenn man nach zunächst klinischer Kariesinspektion ein Röntgenbild anweist. Moderne digitale Röntgengeräte sind sehr strahlungsarm und können somit die Besorgnis der Eltern vor einer erhöhten Strahlenexposition lindern. Die Röntgenbelastung bei einem Zahnfilm mit digitaler Technik liegt bei etwa drei Mikrosievert.5 Im Vergleich dazu beträgt die kosmische Strahlung bei einer Flugreise von Frankfurt am Main nach Gran Canaria etwa zehn bis 18 Mikrosievert.
Sowohl beim Verwenden von Speicherfolien als auch bei Röntgensensoren sollten kleine Größen verwendet werden, die auch in einen Kindermund passen.
In einigen Fällen kann auch eine Panoramaschichtaufnahme hilfreich sein, beispielsweise um die Zahnentwicklung zu analysieren und Nichtanlagen auszuschließen.
Laserdiagnostik
Der kabellose DIAGNOdent™️ pen von KaVo beruht auf einer Laserfloureszenztechnologie, mit dessen Hilfe völlig schmerzfrei die Zähne auf Fissuren-, Glattflächen- und Approximalkaries geprüft werden können.7 Mit einem roten Laserlicht wird die Zahnsubstanz zum Fluoreszieren angeregt. Die durch Karies veränderte Zahnhartsubstanz fluoresziert, wobei die Fluoreszenz proportional zur Demineralisation ist.8 Die Fluoreszenzunterschiede von gesunder zu erkrankter Substanz werden optisch und akustisch angezeigt. Hierfür sollten jedoch die Zähne vorher gründlich gereinigt und getrocknet werden, da diese Methode auch Konkremente detektiert.8
Falldarstellung Melisa: Die 4-jährige Patientin mit Migrationshintergrund stellte sich in unserer Praxis mit multiplen kariösen Läsionen vor. Die Patientin hatte keinerlei Schmerzen, doch fiel ein großer Sanierungsbedarf auf. Die Patientin trank hauptsächlich Säfte und Milch. Die Mundhygiene daheim wurde vernachlässigt. Es wurde unregelmäßig mit einer Handzahnbürste geputzt. Fluoridierte Kinderzahnpasta wurde verwendet. Zahnseide und fluoridiertes Speisesalz wurden nicht benutzt. Mit den Eltern und vor allem mit der Patientin bestanden Sprachschwierigkeiten. Die Patientin saß allein auf dem Behandlungsstuhl. Es erfolgte eine klinische und radiologische Untersuchung. Nach einer professionellen Zahnreinigung für Kinder wurden kleine Kariesläsionen in zwei Sitzungen therapiert. Aufgrund mangelnder Compliance und dringendem Therapiebedarf willigten die Eltern in eine Kariestherapie in Intubationsnarkose ein. |
Fiberoptische Transillumination (FOTI)
Mit dieser Lichtsonde lässt sich quasi wortwörtlich der Zahn durchleuchten. Hierbei wird ein fokussiertes Kaltlicht erzeugt. Dieses weiße sichtbare Licht ohne Infrarot-Wärmestrahlung wird über einen Faserlichtleiter übertragen und am Austrittsfenster gebündelt.9 Die Sonde wird von bukkal oder oral in den Interdentalraum positioniert und dort leicht hin- und hergeschwenkt. Die approximale Läsion lässt sich als dunkle Zone innerhalb des sonst hell durchleuchtenden Zahnes erkennen und bleibt auch beim Schwenken der Lampe lagekonstant.11 Die Poren kariöser Flächen sind mit Wasser gefüllt, sodass dort die Absorption des Lichtes größer ist und die Läsionen bei der Lichtdurchleuchtung dunkler erscheinen.10 Diese Methode ist vorwiegend für approximale Dentinläsionen und nicht für okklusale Läsionen geeignet.11, 18 Allerdings wird aufgrund anderer Lichtbrechungseigenschaften von Milchzähnen das Verfahren weniger empfohlen als in bleibenden Zähnen.12
Elektrische Widerstandsmessung (ECM)
Zur Diagnostik von Okklusalkaries kann die Messung elektrischer Widerstände herangezogen werden. Intakter speichelfeuchter Zahnschmelz besitzt eine elektrische Leitfähigkeit. Bei einer kariösen Läsion werden Mineralien wie Calcium und Phosphate aus dem Schmelz herausgelöst. Dadurch nimmt das Porenvolumen im Zahnschmelz zu und somit auch dessen elektrische Leitfähigkeit.13 Der sich dadurch verringerte elektrische Widerstand wird als sogenannte Impedanzmessung mit geeigneten Geräten angezeigt. Aufgrund der geringen Spezifität wird diese Methode jedoch nur eingeschränkt empfohlen.14, 15
Mikrobielle Untersuchung – Caries Risk Test (CRT® bacteria) und Speicheltest
Ergänzend kann man zur Kariesuntersuchung auch eine mikrobielle Analyse anbieten. Mithilfe eines Speicheltests kann die Quantität der kariesverursachenden Mikroorganismen wie Streptococcus mutans und Lactobazillen bestimmt werden. Je höher die ermittelte Bakterienzahl, desto größer ist das Risiko, an Karies zu erkranken.
Weiterhin gibt es auch Testkits, mit denen die Speichelfließrate und Pufferkapazität ermittelt werden kann. Eine stark verringerte Speichelmenge oder eine niedrige Pufferkapazität können auf ein erhöhtes Kariesrisiko hinweisen.
Die Tests sind einfach und benötigen wenig Zeit. Die Patienten sollten eine Stunde vor Testbeginn nüchtern sein, das heißt, nichts essen oder trinken und auch keine Zähne putzen. In der Praxis lässt man sie für einige Minuten auf einem Stück Paraffinwachs kauen. Der stimulierte Speichel wird in einem Becher gesammelt und mit einem Applikator auf einem speziellen Nährboden aufgetragen. Das Ganze wird in ein Kulturgefäß gesteckt und wenige Tage in einem Brutschrank bebrütet. Anschließend kann die Probe auf einer Skala verglichen und so das Kariesrisiko bestimmt werden. Für die Bestimmung der Speichelpufferkapazität ist kein Bebrüten notwendig. Hierbei wird die Speichelprobe auf einem Teststreifen appliziert und innerhalb weniger Minuten anhand des Farbumschlags das Kariespotenzial bestimmt.
Diese Untersuchung ist eher für Vorschulkinder und als zusätzlicher Test zur Kariesrisikobestimmung geeignet. Bei Eltern und Kindern trifft er auf hohe Akzeptanz, da Kinder das Gefühl haben, bei der Untersuchung aktiv mit helfen zu können und die Testergebnisse leicht verstehen. Zurzeit gibt es jedoch keinen wissenschaftlichen Beleg für den Nutzen dieser Risikotests.17
Plaque-Färbemittel
Bei Kindern über sechs Jahren werden oft im Rahmen der Individualprophylaxe Beläge angefärbt und die Plaque sichtbar gemacht. Das beeindruckt nicht nur die Patienten, sondern auch die Eltern. So können beide meist endlich sehen, wie gründlich die häusliche Mundhygiene ist und von was der Zahnarzt spricht, wenn er von „schlecht geputzt“ redet. Eine weiße, dicke Plaqueschicht ist nämlich für die meisten Kinder nicht ersichtlich und wird deshalb beim Putzen oft übersehen. Nach intensiver Putzanleitung und Putztraining lassen sich häufig unter den lang bestehenden Plaquerändern weiß-opake Initialläsionen erkennen.
Auch kann mit der Anfärbemethode die zu empfehlende Reinigung der Interdentalräume visualisiert werden. Trotz aller Methoden der Kariesdiagnostik sollten bereits junge Mütter sensibilisiert werden, die regelmäßigen Früherkennungsuntersuchungen beim Zahnarzt mit ihren Säuglingen wahrzunehmen. Denn hierbei lassen sich durch Aufklärung und Ernährungslenkung, durch Demonstration von Putztechni- ken sowie durch Motivierung zur Etablierung eines ritualisierten Zähneputzens daheim, erste Weichen für eine gute Mundgesundheit stellen.
Falldarstellung Frida: Die 5-jährige Patientin stellte sich zur routinemäßigen Kontrolluntersuchung vor. Häusliche Mundhygiene wurde zweimal täglich mit einer elektrischen Zahnbürste und fluoridierter Kinderzahnpasta durchgeführt. Zahnseide wurde nicht verwendet. Hauptgetränk war Wasser, jedoch wurden gelegentlich auch süße Getränke gereicht. Die Patientin nascht gern Süßigkeiten. Klinisch stellte sich ein kariesfreies Milchgebiss dar, jedoch schimmerte an Regio 84 distal eine dunkle, okklusal nicht kavitierte Stelle durch den Zahnschmelz hindurch. Daraufhin wurden Bissflügelaufnahmen gefertigt, die multiple Schmelz- und Dentinläsionen in zwei Approximalräumen aufwiesen. Es erfolgte eine Kariessanierung in zwei Sitzungen und regelmäßige, halbjährliche Kontrolluntersuchungen. |
Der Beitrag ist in ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis erschienen.
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