Parodontologie 28.02.2011

Risikomanagement aus heutiger Sicht



Risikomanagement aus heutiger Sicht

Die Behandlung von Patienten ab der fünften Lebensdekade stellt den heutigen Zahnarzt vor eine neue Herausforderung. Die enorme Verbesserung der Zahngesundheit im Alter und die damit verbundene höhere Überlebenswahrscheinlichkeit jedes einzelnen Zahnes führen zunehmend zu einem Paradigmenwechsel in der Therapie dieser Patienten. Erhöhte Zahnbeweglichkeit, subgingivale Entzündungen und freiliegende Zahnhälse mit begleitender Wurzelkaries stellen in vielen Fällen den Schwerpunkt der Probleme dar. Der folgende Artikel zielt darauf ab, die Problematik aus heutiger Sicht aufzuzeigen und neue Konzepte zu erörtern.

Betrachtet man kritisch die heutige Zahngesundheit und das immer besser etablierte Recall-System in modernen Zahnarztpraxen, lässt sich im Konsens mit der Vierten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS IV) die Aussage treffen, dass der Rückgang der Kariesprävalenz in allen Altersgruppen zu einer erhöhten Überlebenswahrscheinlichkeit der Zähne führt. Folgerichtig ergibt sich für den Zahnarzt eine Situation, in der restaurative und prothetische Versorgungen zurückgedrängt werden und zunehmend präventive Tätigkeiten an Stellenwert gewinnen, die eine Erkrankung des Zahnes, aber vor allem des Zahnhalteapparates, verhindern. Diese Veränderungen führen dazu, dass neue Therapiekonzepte erarbeitet werden müssen, mithilfe derer Patienten fortgeschrittenen Alters sinnvoll behandelt werden können. Diese Konzepte sollen sicherstellen, dass vor allem aus Erkrankungen wie der Parodontitis kein Zahnverlust hervorgeht.
 
Was bedeutet klinisch gesund?
Bei der Behandlung von Patienten jenseits der fünften Lebensdekade ist ein Paradigmenwechsel zu beobachten. Es ist davon auszugehen, dass die supragingivale Entfernung von Plaque und Zahnstein weiterhin ein probates Mittel darstellt, um Zähne über einen langen Zeitraum gesund zu erhalten. Doch was ist mit denjenigen Patienten, die trotz adäquater Mundhygiene vor allem im Alter zunehmend unter Zahnverlust leiden, bei denen also das fast schon als Dogma bekannte Prinzip, dass Parodontitis nur auf der Grundlage einer Gingivitis entstehen kann, nicht greift? In einer Studie von Albandar et al. (1995) konnte bei einer Gruppe brasilianischer Schulkinder gezeigt werden, dass selbst beste Mundhygiene (Plaque- und Gingivitisfreiheit) bei den untersuchten Probanden keinen signifikanten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer früh einsetzenden Parodontitis hatte. Longitudinale Beobachtungen von Hugoson et al. (1998), die Patienten über einen Zeitraum von 20 Jahren untersucht haben, konnten ebenfalls aufzeigen, dass die Qualität der Mundhygiene zwar einen signifikanten Einfluss auf die Ausprägung von Gingivitis hatte, die Präsenz oder das Fehlen von Gingivitis jedoch nicht deutlich mit der Häufigkeit des Auftretens von Parodontitis korrelierte. Demzufolge bedeutet „Klinisch plaquefrei“ eben nicht automatisch „(langfristig) gesund“; genauso wenig korrespondiert die Aggressivität parodontaler Erkrankungen proportional zum Volumen der belassenen Plaqueschicht.
 
Risikoeinschätzung in der Parodontologie
Dass bei manchen Patienten an vereinzelten Stellen ein parodontaler Abbau stattfinden kann, ist die Folge eines komplizierten Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren, die sich mehr oder minder auf die Fähigkeit oder Unfähigkeit eines Patienten beziehen, gegen bestimmte Bakterien Antikörper zu bilden. Im Rahmen der Therapie von Patienten im fortgeschrittenen Alter stellen sich daher zwei fundamentale Fragen:
1. Wann beginnt man idealerweise mit einer Behandlung, um parodontale Schäden möglichst zu vermeiden?
2. Wie sieht ein adäquates zukunftsorientiertes Therapiekonzept aus, das dem Patienten einen langfristigen Erhalt der Zähne ermöglicht?
Vor allem sollte in diesem Zusammenhang geklärt werden, ob die jeweiligen Patienten einer solchen Art von Therapie zugänglich und in der Lage sind, den mit ihnen erarbeiteten Therapiekonzepten zu folgen.

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Bedeutung der Parodontitis
Gingivitis und Parodontitis werden in der Zahnarztpraxis immer häufiger beobachtet und sind keineswegs ausschließlich schicksalhafte Folgeerscheinungen des Älterwerdens. In der Vierten Deutschen Mundgesundheitsstudie wurde festgestellt, dass es durch die erhöhte Zahngesundheit zunehmend zu parodontalen Erkrankungen kommt, die jedoch bis heute inadäquat und in der Regel viel zu spät behandelt werden. Hinzu kommt, dass die Patienten durch die unzureichende Früherkennung und die ungenügende Patientenaufklärung oft nicht in der Lage sind, die Situation richtig einzuschätzen und sich der Erkrankung entsprechend zu verhalten.
Es ist nach wie vor sehr schwer, ein definitives Konzept für alle Patienten vorzugeben, denn die Parodontitis ist ein multifaktorielles Geschehen und zeigt sich oft in verschiedenen Schweregraden. Folgt man dem Schema von Lang und Tonetti (1996), so hängt die Einschätzung der klinischen Parameter von drei wesentlichen Faktoren ab: Patientenbezogene Faktoren (Rauchen, Compliance), zahnbezogene Faktoren (iatrogene Faktoren, Zahnbeweglichkeit, Furkationen) und zahnflächenbezogene Faktoren (Attachmentverlust, Suppuration).
Wird zu Beginn einer Behandlung festgestellt, dass sich die erhobenen klinischen Parameter negativ darstellen, sollte unabhängig von einer Kariesfreiheit ein enges Recallprogramm erfolgen, um diese Patienten bereits bei beginnenden parodontalen Beschwerden zu behandeln. Versäumt der Zahnarzt diese für den Patienten wichtige Überwachung, kann es als Folge der parodontalen Probleme zu einem Verlust der Zähne kommen.
 
Risikoeinschätzung in der Kariologie
Freiliegende Zahnhälse respektive Wurzeloberflächen, die iatrogen, aber auch durch langjährige Erkrankung des parodontalen Systems entstehen, sind in der fünften Lebensdekade der Auslöser für die Entstehung von Karies, da sie als Prädilektionsstellen mit den herkömmlichen Mundhygienemaßnahmen oft nicht adäquat behandelt werden. Die Zahnhartsubstanz ist in diesem Bereich des Wurzeldentins ungenügend gegen Säureangriffe geschützt und eine beginnende Läsion führt meist zu einer irreversiblen Defektbildung, die aus heutiger Sicht langfristig nur schwer mit restaurativen Methoden therapiert werden kann. Oft bleibt dem Behandler im Falle einer fortgeschrittenen kariösen Zerstörung nur die Extraktion des Zahnes, die durch frühzeitige parodontale Therapien oder chirurgische Rekonstruktionen hätte verhindert werden können.
Das Leiden vieler Patienten an hypersensiblen Zahnhälsen kann für den Behandler ein Frühsignal für eine sich ausbildende Parodontitis, aber auch für fehlerhafte und exzessive Mundhygienemaßnahmen sein. In den meisten Fällen wird in der Frühphase versucht, die Überempfindlichkeit durch desensibilisierende Agenzien zu verringern, die jedoch bis heute nicht die gewünschten Langzeiterfolge aufweisen. In der Folge kommt es in diesen Bereichen zu einem Mundhygienedefizit und langfristig zu dauerhaften Entzündungsherden, die eine parodontale Destruktion begünstigen. Es ist unbestritten, dass der Patient in dieser Phase eine schmerzreduzierende Therapie erhalten sollte, um vor allem in diesen Problembereichen einer Läsionsbildung vorzubeugen.

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Parodontaler oder iatrogener Zahnverlust?
In einer Studie von Hugoson et al. (1998) konnte anhand einer Untersuchung der erwachsenen schwedischen Bevölkerung gezeigt werden, dass im Durchschnitt etwa die Hälfte der Erwachsenen an Parodontitis leidet. Demzufolge ermöglicht eine steigende Zahngesundheit (DMS IV) den Patienten in erster Linie ein gesteigertes Lebensgefühl im Alter; gleichwohl steigen die Anzahl der Risikoflächen und damit die Wahrscheinlichkeit für ein frühes Auftreten von Parodontopathien.
Die Abschätzung, ob der zu behandelnde Patient an einem Zahnverlust durch eine parodontale Erkrankung leiden wird, kann aus heutiger Sicht anhand von definierten Faktoren festgestellt werden. Klinische Zeichen, wie erhöhter Sulkusfluid, Blutung auf Sondierung (BOP), Sekretentleerung, Pusentleerung und das Auftreten von parodontalen Abszessen sind wichtige Parameter, um hinsichtlich einer Behandlungsbedürftigkeit zu entscheiden. Eine reine Erhöhung der Sondierungstiefe ist kein ausreichender Indikator für eine parodontale Erkrankung, da in zahlreichen Studien gezeigt werden konnte, dass diese nur selten mit der tatsächlichen Taschentiefe korrelieren.
Aus heutiger Sicht kann eindeutig gesagt werden, dass ein Zahnverlust durch reine Gingivarezession ohne parodontale Vorerkrankungen eher eine Ausnahme darstellt und jegliche Art von Früherkennung eine hohe dentale Überlebenswahrscheinlichkeit sicherstellt.
 
Behandlungskonzepte
Aufgrund der Vielzahl von Faktoren, die einen Erhalt der Zähne jenseits der fünften Lebensdekade beeinflussen, lässt sich nicht immer klar entscheiden, inwiefern der gewählte Therapieweg Erfolg versprechend ist. Während eindeutig bekräftigt werden kann, dass ein hohes Maß an Mundhygiene auch im Alter von großer Bedeutung ist und bleibt, müssen bei der dentalen Therapie mit der Aussicht auf veränderte Zahnqualität neue Konzepte erarbeitet werden, anhand derer ein Patient fortgeschrittenen Alters langfristig behandelt werden kann.

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Behandlungsplanung in der Kariologie
Die Entstehung einer Karies spielt vor allem in den frühen Lebensdekaden eine herausragende Rolle, in denen die Mundhygiene noch nicht ausreichend erfolgt. Das Risiko, einen Zahn nur durch kariesbedingte Schäden zu verlieren, ist dennoch stark zurückgegangen; tiefe Läsionen, die eine Versorgung unmöglich machen, treten heute selten auf. Verstärkte Hygienemaßnahmen führen zu einer geringeren Bakterienlast in der Mundhöhle, die einerseits die Kariesbildung verhindert, andererseits aber durch falsche und exzessive Zahnreinigung zu Abrasionsphänomenen führen können. Zudem kommt es durch den größeren Anteil an freiliegenden Zahnoberflächen und der heute häufigen Aufnahme säurehaltiger Nahrungsmittel zu Erosionen, die unbehandelt die Pulpa irreversibel schädigen und im ungünstigen Fall einen Zahnverlust nach sich ziehen können.
Es ist davon auszugehen, dass sich die Kariestherapie der Patienten mit fortgeschrittenem Alter vor allem auf die Bereiche der Zahnhälse und der Wurzeloberflächen konzentriert. Diese Bereiche erschweren die Füllungstherapie, da adhäsive Rekonstruktionen in diesen Regionen eine begrenzte Haltbarkeit aufweisen. Demzufolge ist eine besonders frühe Erkennung einer im Zahnhalsbereich liegenden Läsion bei Patienten jenseits der fünften Lebensdekade ausschlaggebend für einen langfristigen Erfolg, denn diese können einer minimalinvasiven Therapie (Politur, oberflächliches Ausschleifen) und anschließend einer regelmäßigen Fluoridierung zugeführt werden.
 
Behandlungsplanung in der Parodontologie
Eine moderne Parodontalbehandlung sieht den Patienten vor allem ganzheitlich und versucht, eine möglichst perspektivische Therapie zu entwickeln, die nicht nur die reine Beseitigung des subgingivalen Biofilms vorsieht. Der Patient sollte auf der Grundlage einer supragingivalen Zahnreinigung erkennen, dass es Zähne gibt, die nicht in ein weiteres Konzept eingearbeitet werden können und diese negativ auf die Überlebenswahrscheinlichkeit der restlichen Dentition wirken. So sollten frühzeitig sichere, fragliche und hoffnungslose Zähne anhand eines Ampelschemas festgelegt werden, wodurch dann die Folgebehandlung beeinflusst wird. In einer Studie von Renvert und Persson (2002) konnte zudem gezeigt werden, dass tiefe Residualtaschen trotz regelmäßiger Parodontalbehandlung zu weiteren Entzündungen in der Tiefe und dadurch zu weiteren Destruktionen und Zahnverlusten führen können.
Die Parodontalbehandlung bildet zusammen mit der Kariestherapie den entscheidenden Grundstock für den Zahnerhalt bis ins hohe Alter. Des Weiteren verbessert sie die gesamte gesundheitliche Situation des parodontal erkrankten Patienten, denn für diese bestehen erhöhte Risiken, an koronalen Herzkrankheiten, Myokardinfarkt oder Schlaganfall zu erkranken.
 
Behandlungsplanung in der Prothetik
Die Versorgung der Patienten mit festsitzendem oder herausnehmbarem Zahnersatz ist bei älteren Patienten oft unumgänglich; trotzdem steht diese Art der Therapie nicht selten im Widerspruch zu einer langjährigen Zahnerhaltung. Der Zahnersatz kann eine optimale Mundhygiene erschweren, was auf lange Sicht zu einer weiteren parodontalen Destruktion führt. Prothetische Arbeiten sollten daher so konzipiert werden, dass große verblockte Konstruktionen durch Einzelzahnversorgungen ersetzt werden, die ein hohes Maß an Mundhygiene und eine einfache Erweiterbarkeit gewährleisten. Trotz erhöhter Zahngesundheit kann die Restauration der Zahnkrone oft nur mithilfe von prothetischen Maßnahmen erfolgen, die aber immer unter Berücksichtigung der parodontalen Therapiebedürftigkeit erfolgen sollten.
 
Zusammenfassung
Durch die enorme Verbesserung der Zahngesundheit bei Patienten jenseits der fünften Lebensdekade kommt es zu einer Situation, in der die Patienten immer seltener allein prothetisch versorgt werden müssen. Das bedeutet aber auch, dass immer mehr Zähne vorhanden sind, die von freiliegenden Zahnhälsen, subgingivalen Entzündungen und erhöhter Zahnbeweglichkeit betroffen sind. Der Behandler muss nun entscheiden, inwieweit er in der Lage sein wird, ein Therapiekonzept auszuarbeiten, das vor allem die veränderten Bedürfnisse älterer Patienten (und deren Zähne) berücksichtigt. Sicher ist, dass eine rein supragingivale Mundhygiene in den meisten Fällen den Zahnverlust nicht aufhalten kann und dass zusätzliche Therapiemaßnahmen den Zahnhalteapparat stärken müssen. Zudem leiden viele der älteren Patienten an Hypersensibilitäten im Bereich der Zahnhälse, die bislang nur schwer dauerhaft therapiert werden können.

Literatur
1) Socransky S und Haffajee A: Dental Biofilms: difficult therapeutic targets. Periodontol 2000, 2002; 28:12–55.
2) Löe H et al.: Experimental gingivitis in man. J Periodont 1965; 36:177–187.
3) Lang NP et al.: Tootbrushing frequency as it relates to plaque development and gingival health. J Periodontol 1973; 44:396–405.
4) Mealey BL und Moritz AJ: Hormonal influences: effects of diabetes mellitus and endogenous female sex steroid hormones on the periodontium. Periodontol 2000 2003; 32:59–81.
5) Albandar JM et al.: Lack of effect of oral hygiene training on periodontal disease progression over 3 years in adolescents. J Periodontol 1995; 66:
255–60.
6) Hugoson A et al.: Oral hygiene and gingivitis in a Swedish adult population 1973, 1983 and 1993. J Clin Periodontol 1998; 25:807–12.
7) Lang NP und Tonetti MS: Periodontal diagnosis in treated periodontitis. Why, when and how to use clinical parameters. J Clin Periodontol 1996; 23:
240–50.
8) Renvert S und Persson GR: A systematic review on the use of residual probing depth, bleeding on probing and furcation status following initial periodontal therapy to predict further attachment and tooth loss. J Clin Periodontol 2002; 29 (Suppl 3):82–9.
9) Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) im Auftrag von Bundeszahnärztekammer und Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung 2006: Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV).

Autoren: Martin Jaroch, Prof. Dr. Andrej M. Kielbassa/Berlin

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