Branchenmeldungen 12.02.2024

Allgemeingesundheit: Was ist los mit unserem Immunsystem?



Allgemeingesundheit: Was ist los mit unserem Immunsystem?

Foto: Dudarev Mikhail – stock.adobe.com

 Ist unser Organismus aktuell schwächer als vor 2019 und dem Beginn der Coronapandemie? Gefühlt ja, aber was sagt die Wissenschaft? Prof. Dr. Lothar Rink vom Institut für Immunologie der Uniklinik RWTH Aachen ordnet unsere Wahrnehmung ein und rät Zahnärzten zu einem wachen Auge bei Patienten, deren Auffälligkeiten eine Überweisung zum Facharzt benötigen könnten.

Herr Prof. Rink, unser Immunsystem scheint nach Corona deutlich zu schwächeln – ist das nur eine gefühlte oder eine wissenschaftlich nachweisbare Tatsache?

Nein, das Immunsystem ist nicht schwächer geworden, es ist nur aus dem Training. Die großen Infektionswellen nach Corona liegen vor allem daran, dass wir uns durch die Coronamaßnahmen auch von anderen Erregern abgeschirmt haben. Wie Corona und Influenza, so verändern sich auch die normalen Schnupfenviren (Rhinoviren). Jedoch steckt man sich in der Regel nicht von seinem Partner wieder an, wenn man diesen angesteckt hatte und man selbst schon wieder gesund ist. Der Grund ist, dass man den Erreger schon kennt und man so geschützt ist, darauf beruhen auch die Impfungen. Vergeht einige Zeit, so hat der Erreger sich über viele andere Menschen, die er infiziert hat, verändert. Irgendwann kann unser Immunsystem ihn deshalb nicht mehr abwehren und wir infizieren uns neu, so wie zurzeit bei Corona, obwohl wir geimpft sind. Es sind also die Antikörper, die uns vor der Infektion schützen, die jetzt aber nicht mehr den veränderten Erreger erkennen, also aus dem roten Auto ist bildlich ein blaues geworden und die Antikörper erkennen nur rote Autos. Die Verläufe sind aber nicht mehr so schlimm, da unsere zelluläre Immunität (die T-Zellen) alle Autos erkennt, denn sie reagiert auf andere, stabilere Eigenschaften der Viren. Deshalb infizieren wir uns zwar, aber die Infektion verläuft harmloser und ist schneller vorbei. Die Viren haben nämlich keine Pause gemacht, sondern sich weiter modifiziert, sodass quasi alle wieder empfänglich sind.

Gerade auch bei Kindern hat man das Gefühl, dass sie schneller und mehr krank werden, ist das auch Ihrer Beurteilung nach so?

Ja, das hat einen klaren Grund: Die durch die Coronamaßnahmen ausgelassenen Infektionen werden jetzt nachgeholt. Dies sieht man eben auch vor allem an der starken RSV-Welle (Respiratory Syncytial Virus) bei Kindern. Normalerweise infizieren sich mit dem Virus 50 Prozent der Säuglinge im ersten Lebensjahr und am Ende des zweiten Lebensjahres haben 90 Prozent die Infektion durchgemacht. Die meisten mit nur geringer Symptomatik, einige, meist Frühgeborene, aber mit schweren Verläufen. Nach mehr als drei Jahren Corona hatten wir jetzt nicht einen Jahrgang ohne Kontakt (die Neugeborenen), sondern vier. Insofern musste man mit der vierfachen Menge an erkrankten Kindern rechnen. Das gleiche passiert gerade wieder, da wir das zweite Jahr eben auch nachholen, bis wir bei einer Infektionsrate von 90 Prozent bei den kleinen Kindern sind. Danach sollten wir wieder auf ein Vor-Corona-Niveau zurückfallen.

Im Zusammenhang mit Long Covid wird derzeit von einer Zunahme anhaltender Schwächezustände gesprochen, die jeden treffen können – was steckt dahinter?

Das Phänomen „Long Covid“ ist nichts Neues in der Infektiologie. Gerade geht auch durch die Presse, dass es auch „Long Influenza“ gibt, etwas, was wir schon im-mer kannten und auch von anderen Infektionen kennen, z. B. dem Epstein-Barr-Virus (EBV). Die meisten machen die EBV-Infektion fast unbemerkt durch, denn 95 Prozent der Bevölkerung sind infiziert. Einige bekommen aber das Pfeiffersche Drüsenfieber und sind über Wochen oder Monate zum Teil schwer erkrankt und noch länger erschöpft. Es kommt also darauf an, wie gut ihr Immunsystem mit einem Erreger umgehen kann und jeder von uns hat eine Lücke, d.  h. einen Erreger, mit dem er nicht gut klarkommt. Bei EBV sind es eben nur fünf Prozent der Bevölkerung, die sich gar nicht infizieren. Deshalb kann sie trotzdem ein anderer Erreger in voller Härte treffen. Bei „Long Covid“ kommt noch etwas Besonderes dazu, was nichts mit dem Immunsystem zu tun hat, sondern mit den Isolationsmaßnahmen. Es gibt Patienten mit „Long Covid“-Symptomatik, die gar kein Corona hatten. Der Mensch ist halt ein soziales Wesen und Isolation macht auf Dauer krank.

Auch die Zahnmedizin braucht ein funktionierendes Immunsystem, um effektive Heilungsprozesse in die Behandlung integrieren zu können – wie wichtig ist hier Ihrer Meinung nach der Blick der Zahnmedizin über den Tellerrand, um Patienten auch in Richtung Immunsystem aufklären und anleiten zu können?

Ich würde sogar noch weiter gehen, dass Zahnärzte auch durchaus einige Patienten zum Hausarzt schicken sollten. Ständige Zahnfleischentzündungen trotz normaler Mundhygiene können ein Hinweis auf einen Immundefekt sein. Nach jedem Essen haben wir Speisereste unter dem Zahnfleisch, aber normalerweise führt das nicht zu einer Entzündung, da das Immunsystem die Reste entfernt. Ein anderes Beispiel ist Parodontose nach einem Himalaya-Aufenthalt, wegen der trockenen Luft und der damit fehlenden IgA-Antikörper im Speichel. Der Mund ist also ein Spiegel für den Kontakt der Schleimhäute mit der Außenwelt.

Deshalb ist es wichtig, den Mund feucht zu halten, auch gern mit zuckerfreiem Kaugummi, damit das Immunsystem arbeiten kann. Ein weiterer wichtiger Tipp ist das Putzen (Massieren) des Zahnfleisches, um die Durchblutung anzuregen, sodass die Fresszellen die Speisereste entfernen, bevor sich die Bakterien vermehren.

Was kann man tun, um sein Immunsystem gerade jetzt im erhöhten Infektionszeitraum sowie langfristig zu stärken?

Zunächst eine Klarstellung, niemand sollte sein Immunsystem stärken, sondern nur dessen Funktion bestmöglich erhalten. Ein zu starkes oder überreaktives Immunsystem führt zu Autoimmunerkrankungen bzw. Allergien. Man kann aber sich und dem Immunsystem Gutes tun, die folgende Aufzählung soll als kleiner Hinweis dazu dienen.

Stress nicht als Dauerzustand

Das Immunsystem ist ein Sprinter, d. h. schnell und stark reagieren, dann aber wieder in den Ruhezustand zurück, sonst könnte es den Körper selbst angreifen. Eine Aktivierung des Immunsystems passiert auch bei körperlichem oder psychischem Stress. Kurzzeitig förderlich, aber als Dauerzustand ein Problem, denn das Immunsystem bricht bei Daueraktivierung zusammen.

Nein zu Drogen

Drogen und Rauchen sollte man absolut vermeiden, denn sie hemmen die Immunfunktion, weshalb Rauchen auch nicht nur Lungenkrebs, sondern alle Krebsarten fördert. Bei Alkohol ist es nicht ganz so schlimm, d. h. da geht es um den Missbrauch, der das Immunsystem schwächt. Also gelegentlich feiern oder geringe Mengen kann das Immunsystem tolerieren.

Gesunde Ernährung verfolgen

Das Immunsystem ist das am stärksten nachwachsende Zellsystem im Körper (allein 80 Millionen Fresszellen werden pro Minute produziert). Deshalb brauchen wir Baustoffe (Eiweiße, Fette) und Energie sowie Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Damit wird es im Winter manchmal knapp, besonders mit Vitamin D, und in der älteren Bevölkerung hat die Mehrheit eine Unterversorgung mit Zink. Bei der vielen Werbung muss man klar sagen, dass das meiste, was angeblich das „Immunsystem stärkt“ nicht bewiesen ist. Die EU hat dazu Studien analysiert und es gibt nur zehn Nahrungsbestandteile, für die es gesichert ist und in der Werbung behauptet werden darf, dass diese zur natürlichen Funktion des Immunsystems beitragen: Vitamine A, B6, B9 (Folsäure), B12, C und D sowie die Spurenelemente Eisen, Kupfer, Selen und Zink.

Bewegung/Sport als tägliche Begleiter

Das Immunsystem muss bewegt werden. Unser Blut transportiert die Immunzellen durch den Körper. Einmal ins Gewebe ausgewandert und auf Patrouille, kommen die Zellen nur über die Lymphbahnen zurück in die Lymphknoten, um Infektionen zu melden. Die Lymphe wird aber nur passiv über Muskelbewegung transportiert. Deshalb täglich mindestens 30 Minuten Bewegung, da genügt Spazierengehen. Zwei- bis dreimal die Woche Sport ist auch noch förderlich, darüber hinaus wird es aber Stress für das Immunsystem, was sich negativ auswirkt.

Schlaf ernst nehmen

Das Immunsystem baut sein Gedächtnis im Schlaf auf. Deshalb brauchen wir einen regelmäßigen und ausreichenden Schlaf. Schichtarbeiter haben darum mehr Infektionen, da der Schlafrhythmus nicht mehr passt und weil man sich spätabends und nachts schneller ansteckt als am Morgen und frühen Nachmittag.

Dieser Beitrag ist in der ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis erschienen.

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