Praxismanagement 28.06.2023

Stadt Praxis Land – Die Versorgung geht auf dem Zahnfleisch

Stadt Praxis Land – Die Versorgung geht auf dem Zahnfleisch

Foto: © Ing.-Büro Honsa / Andreas Stedtler

Sachsen-Anhalt droht, wie auch anderen Bundesländern, ein Notstand bei den Dentisten. Die Versorgung dünnt bereits jetzt aus. Ein Zahnmediziner auf dem Land ächzt unter der Flut an Patienten. In einem neuen Beitrag in unserer Reihe „Stadt – Praxis – Land“ wird die zahnärztliche Versorgungssituation in Gröbzig geschildert.

Zur Einstimmung schickt Jürgen Rinke ein Lied. „Die Termine werden kürzer, die Patienten werden mehr“, singt eine Männerstimme. Der Refrain geht: „Ja, in der Neuen Straße 5 bei Doktor Rinke auf dem Land, da geben sich Patienten die Klinke in die Hand.“ Der Sänger war der zweite Zahnarzt in der Rinke-Praxis in Gröbzig (Anhalt-Bitterfeld) und hatte das Lied zum eigenen Abschied komponiert. Nicht nur der Kollege fehlt jetzt, auch Praxen in der Umgebung schlossen. „Seit Monaten ruft eine Flut an Patienten an, die wir nicht ansatzweise bewältigen können“, sagt Zahnarzt Rinke, der die Praxis mit Ehefrau Kerstin als Praxismanagerin betreibt. „Wir können nicht mehr alle Akutfälle behandeln und keine neuen Patienten aufnehmen. Ich schaffe es nicht.“ Rinke ist 64 Jahre alt – in zwei Jahren will er in Rente.

Lage spitzt sich zu

Die Praxis in Gröbzig ist nur ein Beispiel für den Zahnarzt-Notstand, der sich in Sachsen-Anhalt schleichend ausbreitet. „Die Kapazitäten sind in vielen Regionen erschöpft. Immer mehr Patienten finden keine Praxen mehr“, sagt Jochen Schmidt, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZV). Die Lage habe sich zuletzt weiter zugespitzt. Laut aktueller Umfrage könne nur noch jede zweite Praxis Neupatienten aufnehmen. Mehrere Regionen im Norden liegen bei der Versorgung unter der 100-Prozent-Marke. Als voll versorgt gilt eine Region, wenn auf einen Zahnarzt 1.680 Patienten entfallen. Doch in den nächsten Jahren droht die Versorgungskatastrophe – sollten Gegenmaßnahmen nicht helfen. Laut KZV-Prognosen wäre der Landkreis Harz 2025 nur zu 84 Prozent versorgt, 2030 nur noch zu 56 Prozent. Am heftigsten träfe es das Jerichower Land mit 26 Prozent Abdeckung.

Die Gründe sind schnell erzählt: Etwa die Hälfte der aktuell rund 1.520 Zahnärzte, darunter Kieferorthopäden, geht bis 2030 in den Ruhestand. Jede zweite Praxis findet schon heute keinen Nachfolger. Und von jährlich etwa 40 Absolventen der Zahnmedizin in Halle (Saale) bleiben zu wenig im Land. „Die prekäre Lage wird von der Landesregierung nicht erkannt“, sagt Schmidt. Hilferufe seien verhallt. Die KZV hatte Projekte, Programme, Stipendien und ein Zahnforum in Halle aufgelegt, kooperiert mit Regionen bei der Nachwuchsgewinnung. Ein extra gegründeter Strukturfonds fördert Praxisgründungen und ein Studium in Ungarn. Dort können Stipendiaten ohne Spitzen-Abi studieren, wenn sie danach in Sachsen-Anhalt arbeiten. Doch das alles wird nicht reichen: Ohne Hilfe der Politik, so Schmidt, drohten wachsende gesundheitliche Gefahren für die Bevölkerung.

Ruf nach mehr Anreizen

In Gröbzig hatten Rinkes noch einmal Geld in die Praxis gesteckt und sie modernisiert. „Wir wollten sie für Nachfolger attraktiver machen. Aber Interessenten ist es zu ländlich“, sagt Kerstin Rinke, die auch CDU-Kommunalpolitikerin ist. Auch das Verdienstgefälle spielt eine Rolle: Auf dem Land gäbe es weniger Privatversicherte, aber das gleiche ein Mehr an Patienten aus, so die 62-Jährige. Doch junge Zahnärzte wollten ohnehin lieber fest angestellt sein. „Sie wollen die Verantwortung einer eigenen Praxis nicht, das Risiko, die Bürokratie.“ Deshalb müssten Land und Kommunen gezielter gegensteuern. „Regionen müssen mehr für sich werben. Es braucht eine Willkommenskultur für junge Zahnärzte, Bauland, finanzielle Förderungen. Der Staat muss mehr Anreize bieten.“

Auch die KZV fordert mehr Beteiligung des Landes: Förderung der Stipendien in Ungarn, Landzahnarztquote, mehr Studienplätze in Halle. Zuletzt war die Zahnarzt-Notlage auch Thema im Landtag. Er beauftragte die Landesregierung im Januar, eine Landzahnarztquote zu prüfen. Dabei werden Studienplätze für jene reserviert, die nach dem Abschluss in ländlichen Regionen bleiben. Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne (SPD) sieht aktuell keine Unterversorgung, wie sie im Landtag klarmachte. Dies sei erst bei einer Abdeckung von unter als 50 Prozent der Fall. Die KZV betont dagegen: Viele Regionen seien nur rein rechnerisch versorgt – weil die Zahlen für gesamte Landkreise gelten, einzelne Gemeinden seien aber schlecht versorgt.

Grimm-Benne spielt den Ball zurück: Per Gesetz müsse die KZV eine Unterversorgung mit „geeigneten Maßnahmen abwenden“. Erst wenn diese nicht ausreichten, handele das Land. Die Landesregierung schätzte im April ein: Eine Quote sei „tendenziell wenig verhältnismäßig“, für zusätzliche 20 Studienplätze seien jährlich über vier Millionen Euro mehr nötig sowie bauliche Investitionen. Stattdessen müsse das Land als „Arbeits- und Lebensort“ für Zahnärzte attraktiver werden. Wie, wird nicht gesagt.

Hilft neuer Studiengang?

In der Debatte meldet sich jetzt die Zahnmedizin zu Wort. „Wir brauchen eine neue Struktur, um Absolvierende in ländliche Regionen zu bringen. Wir müssen uns an ihren Bedürfnissen orientieren“, sagt Jeremias Hey, Professor an der Martin-Luther-Universität und Direktor des Departments für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Die Einzelpraxis sei nicht mehr sofort das Ziel, deshalb könne eine universitäre Weiterbildung junge Zahnärzte binden. Sie sollen in Praxen und MVZ berufsbegleitend unterstützt werden. Dabei würde ein Netzwerk aus Fachzahnärzten geschaffen. „So können Absolvierende Erfahrungen sammeln, in Spezialgebieten oder auch der Telemedizin.“ Sie würden auch in die ländliche Versorgung eingebunden. „Und vielleicht übernehmen sie später doch eine Praxis.“ Dieser Masterstudiengang könne eine Blaupause für andere Bundesländer werden. Ob er kommt? Ist unklar.

Zahnarzt Rinke vermittelt Patienten auch an Kollegen. Manche Operationen finden bei Kieferchirurgen in Bernburg oder Dessau statt. „Aber dafür bin ich nicht Zahnarzt geworden. Ich wollte Menschen in meiner Praxis helfen.“

Autorin: Lisa Garn

Hinweis: Dieser Beitrag ist am 13. April 2023 unter dem Titel „Auf dem Zahnfleisch“ in der Mitteldeutschen Zeitung ersterschienen. Die Verwendung in der ZWP 6/23 wurde von der Mitteldeutschen Zeitung freundlich genehmigt.

Dieser Beitrag ist in der ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis 06/2023 erschienen.

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