Recht 26.05.2015
Digitale Abformung aus juristischer Sicht
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Unter rechtlichen Gesichtspunkten wurde die digitale Abformung bisher vorrangig unter dem Aspekt der Dokumentationsanforderungen nach dem am 26.02.2013 in Kraft getretenen Patientenrechtegesetzes diskutiert mit der Fragestellung, ob schon heute eine vollständige Umstellung von der körperlichen Gipsabformung auf die digitale datengestützte Abformung generell empfohlen werden kann.
Dass diese Umstellung aktuell von niedergelassenen Kieferorthopäden gewünscht wird, kann auf die Freude an der Implementierung digitaler Prozesse und die so erreichbare Effizienzsteigerung zurückgeführt werden (geringere Stuhlzeiten, höhere Patientenakzeptanz, weniger Fehlabdrücke, leichtere Datenverfügbarkeit und Archivierbarkeit, geringeres Verlustrisiko). Doch wie konfliktfest ist dieses Verfahren eigentlich und gibt es unter rechtlichen Gesichtspunkten systematische Einwände, die diese im Prinzip unbestrittene Effizienzsteigerung infrage stellen könnten?
I. Kein Verwertungshindernis
Ein Verwertungshindernis für Gutachter und Gerichte ist weder wegen eines möglicherweise immanenten Fälschungseinwandes noch wegen mangelnder Beurteilbarkeit aus technisch-systematischen Gründen zu besorgen. Dies folgt aus einem Vergleich beider Abformungssysteme (optoelektronisch einerseits und konventionell andererseits):
Bei der optisch-elektronischen Abformung werden die zugänglichen Bereiche des Kiefers mittels optischer Verfahren (z.B. mittels Kamera oder Scanner) im Rahmen der CAD/CAM-Techniken abgetastet und digitalisiert dargestellt. Aus mehreren Einzelmessungen, auch aus mehreren verschiedenen Aufnahmewinkeln, werden die Raumkoordinaten zu einem kompletten Modellsatz zusammengefügt. Präparationen, Nachbarzähne, Antagonisten, Gegenbiss und habituelle Interkuspidation werden zu dreidimensionalen Modellen gerechnet, die exakt die anatomische Situation darstellen. Im CAD/CAM-Prozess dienen diese virtuellen Modelle als Grundlage für die Konstruktion der Restauration auf dem Bildschirm und für das Formschleifen der Versorgung aus Keramik, Kunststoff oder Metall. Mit der Einführung lichtoptischer Scans zur intraoralen Abformung wird die Prozesskette für CAD/CAM-gefertigten Zahnersatz von der Präparation bis zur Eingliederung vollständig digitalisiert. Bei der prothetischen Therapie erfolgt die Abformung nach der Präparation des Zahnes.
In gerichtlichen Verfahren wurde bei der konventionellen Abformung des öfteren der Einwand der nachträglichen Veränderung und der Manipulation der Modelle erhoben. Denn selbstverständlich bestand die Möglichkeit, initial schon mehrere Abdrücke zu nehmen und Modelle herzustellen und eine Veränderung oder Bearbeitung vorzunehmen. Auch zu einem späteren Zeitpunkt lassen sich Modelle duplizieren – wie häufig nachträglich von Kostenträgern gewünscht – und eine Abänderungsmöglichkeit ist eröffnet. Derselbe Einwand wurde übrigens auch erhoben bei der Einführung und der Verbreitung digitaler Röntgenbilder und der EDV-gestützten Dokumentation. Den Nachweis hat dabei in allen Fallkonstellationen derjenige zu führen, der den Fälschungseinwand erhebt. Ein Gericht wird diesem Einwand regelmäßig erst dann nachgeben, wenn er sich nach Einschätzung eines gerichtlich berufenen medizinischen Sachverständigen anhand konkreter Tatsachen aufdrängt und ergebnisrelevant ist. Ohne die Beiziehung eines EDV-Sachverständigen wird ein solcher Nachweis kaum jemals zu führen sein. Dementsprechend selten wird der Einwand heute noch erhoben und verfolgt.
Zuweilen hatten Sachverständige auf die Vorlage herkömmlicher Röntgenbilder bestanden, weil sie anfangs die Erfahrung gemacht hatten, diese nicht öffnen oder am eigenen Bildschirm möglicherweise nicht zuverlässig beurteilen zu können. Diese Einwände werden heute nicht mehr erhoben, im Gegenteil erfreuen sich die Verfahrensbeteiligten an den Vorzügen dieser Technik und es ist festzustellen, dass nur noch in wenigen Sälen der Arzthaftungskammern überhaupt noch Röntgenbildbetrachtungsvorrichtungen vorgehalten werden.
Ein großes Problem der körperlichen Gipsabformungen war das Risiko der Beschädigung, des Verlustes und der Verwechslung, sodass für den Zahnarzt stets wegen Verletzung der Befundsicherungspflicht Beweisnachteile drohten. Unzählig sind die Beanstandungen von Sachverständigen, die die fehlende Beschriftung und Datierung von Modellen und damit die fehlende Zuordenbarkeit zu einem Behandler, zu dem Befundzeitpunkt und zu dem Gegenkiefer betrafen. Die Beanstandungen der Gutachter gipfelten darin, dass die Beurteilung von Planungsmodellen nicht nur die Einstellung in einen beliebigen Artikulator erfordert, sondern gerade in denjenigen, der von dem Behandler bei der Diagnostik und Therapieplandung verwendet worden war (LG Frankfurt am Main, Urt. v. 15.1.2015, 2–14 O 202/11). All dies zeigt, dass schon bisher erhebliche Risiken bei der Dokumentation mittels herkömmlicher Modelle bestanden.
Klar ist jedenfalls, dass im Konfliktfall die Scans als Bestandteil der ärztlichen Dokumentation durch den Gerichtssachverständigen auszuwerten sind. Eine Verwertungssperre droht nicht, es ist allenfalls bei auftretenden Widersprüchen etwa zu anderen ärztlichen Befundunterlagen – wie bei körperlichen Modellen auch – mit einer moderaten Herabsetzung des Beweiswertes zu rechnen. Regelmäßig werden digitale Abformungen jedoch einen höheren Präzisionsgrad aufweisen und deshalb im Informationsgehalt den konventionellen Modell zumindest gleichwertig, wenn nicht sogar überlegen sein.
II. Facts und Fiction
Ernster wiegt der Einwand, dass der Scan als Befundunterlage selbst bei optimaler Anwendung stets teilweise eine Realität abbildet, die so wie abgebildet gar nicht existiert. Dies gilt namentlich für Zahnzwischenräume und Seitenzahnbereiche, die der vollständigen elektro-optischen Erfassung entzogen sind. Hier wird die Bildgebung anhand der verwertbaren Lichtsignale gemäß der implementierten Software-Programmierung virtuell fortgeschrieben. Dies spricht aber nicht gegen die Verlässlichkeit der Bildgebung als solcher, sondern gebietet lediglich, dass dieser Umstand bei der Auswertung sachgerecht durch den Betrachter berücksichtigt und bewertet wird. Niemand käme auf die Idee, ein Röntgenbild, das eine parallaktische Bildgebung aufweist, als nicht verwertbar zu bezeichnen. Für die sachgerechte Auswertung dreidimensionaler Röntgenaufnahmen wird ein entsprechender Befähigungsnachweis als Beleg dafür gefordert, dass der Anwender das DVD zu lesen gelernt hat eben unter Berücksichtigung und zur Ausschaltung systembedingter Verfälschungsfaktoren. Ähnliche Qualifizierungsanforderungen bieten sich beispielsweise auch für Sachverständige an, denen die Auswertung digitaler Abformungen obliegt.
Als besonders geeignet wird sich die digitale Abformung auch zur Beurteilung der KIG-Einstufungen (z.B. zur Quantifizierung einer vertikalen Stufe) erweisen, soweit die Kriterien alleine auf exakte Messungen abstellen und klinische Bewertungen nicht erforderlich sind. Neben der gesteigerten Messgenauigkeit wäre so die umgehende und sichere Qualifizierung der Behandlungsindikation möglich und es könnten gerichtliche Einordnungsstreitigkeiten vermieden werden, die zeitglich vor dem Sozial- und dem Zivilgericht stattzufinden hätten (AG Bonn, Urt. v. 3.1.2013, 110 C 128/11.). Dieser Konflikttypus ist besonders aufwendig, weil neben den beiden außergerichtlichen Beratungsärzten der Kostenträger zwei Gerichtsgutachter beauftragt werden müssen und die körperlichen Modelle (oder Duplikate hiervon) einem jedem der Gutachter vorgelegt werden müssen. Hierdurch wird die kieferorthopädische Behandlung des Minderjährigen oft in unzumutbarer Weise verzögert. Bei digitaler Abformung ließen sich die Datensätze zu den Modellen schneller und zudem simultan versenden und es wäre eine zügige Behandlungseinleitung gewährleistet. Gegenüber der Verwendung sog. KIG-Sonden hat dieses Verfahren den Vorteil der höheren Präzision einerseits und der größeren Objektivität andererseits, da die Ergebnisse der Messung nicht händisch durch den Behandler genommen, sondern automatisiert errechnet und protokolliert belegt werden.
III. Kieferzuordnung im dynamischen System
Nun erfasst die digitale Abformung den statischen Befund der Kiefer und bildet ihn ab. Die Bewegungsbahnen des Unterkiefers und die in diesem Rahmen vorhandenen Kontaktpunkte der Bezahnung von Ober- und Unterkiefer sind so ohne weiteres nicht erkennbar. Erst die Einstellung der konventionellen Modelle in den Artikulator ermöglichte die entsprechende Befundung und Berücksichtigung bei der Therapieplanung. Durch die Einstellung der Planungsmodelle in einer Artikulator (Anfangs-, Verlaufs-, und Schlussmodelle) lässt sich bei dem jeweils statischen Planungsmodell auch prüfen, ob nicht nur eine verträgliche Okklusion gewährleistet war, sondern darüber hinaus, ob – gewissermaßen dynamisch – auch die Bewegungsabläufe des Unterkiefers und die patienten-individuellen Kaumuster von der prothetischen Versorgung bewältigt wurden. Die umfassende Funktionsdiagnostik ist in der Regel erst dann ein Postulat des medizinischen Standards und im Rahmen der kieferorthopädischen Behandlung geboten, wenn Kiefergelenksprobleme oder eine entsprechende Diagnose bereits vor dem Behandlungsbeginn vorlagen (OLG Köln, Urt. v. 23.8.2006, 5 U 22/04; OLG Hamm, Urt. v. 04.07.2014, I-26 U 131/13; OLG Köln, Urt. v. 19.11.2014, 5 U 166/12).
Dass die diesbezügliche Auswertung von Modellen, die nicht durch konventionellen Abdruck gewonnen wurden, sondern Ausdrucke der digitalen Abformung sind, in allen Punkten zumindest gleichwertig sind, scheint heute nahezu gesichert zu sein. Dies zeigen zumindest die Stellungnahmen der hierzu befragten Sachverständigen in ersten zivilgerichtlichen Verfahren. Eine ganz andere Frage ist, wann eine Simulation und die funktionelle Analyse ohne körperlichen Abdruck oder Ausdruck und ohne die Einstellung in den Artikulator möglich sein werden (sogenannter virtueller Artikulator). Diese Diagnostik spielt in der Forensik soweit ersichtlich heute noch keine Rolle und war auch in sonstigen Begutachtungsverfahren nicht Gegenstand einer Auseinandersetzung. Im Ergebnis wird man hierzu festhalten können, dass der Durchsetzung auch dieser Technik juristische Einwände nicht entgegenstehen werden, wenn die Befundungen zumindest in vergleichbarer Weise belastbar sind.
IV. Keine delegationsrechtlichen Einwände
Die Abdrucknahme erfolgte in der Regel durch zahnärztliche Fachangestellte, da § 1 Abs. 5 ZHG die Delegation dieser Befunderhebung zulässt (http://www.bzaek.de/fileadmin/PDFs/grafiken/Delegationsrahmen.pdf: Herstellen von Situationsabdrücken, z.B. Teiltätigkeiten bei der Kieferabformung zur Erstellung von Situationsmodellen). Da die Abdrucknahme patientenseitig häufig als schmerzhaft empfunden wurde und die Sorge um ein Herauslösen oder Lockern anderer Zahnbestandteile oder -prothetik auslöste, sah sich der Zahnarzt bei problematischem Verlauf schnell dem Vorwurf ausgesetzt, er habe in unzulässiger Weise die Abdrucknahme pflichtwidrig auf eine nicht-ärztliche Mitarbeiterin verlagert oder diese nicht hinreichend beaufsichtigt. Die Probleme vergrößerten sich, wenn u. U. mehrere Abdrücke notwendig wurden, weil verwertbare Ergebnisse sich erst so gewinnen ließen. Derartigen Vorhaltungen sind bei der digitalen Abformung nicht zu erwarten, weil die Patientenbelastung geringer und die Abdruckpräzision höher ist. Die berührungslose Abformung mittels Scans wird im Patientenkonflikt wohl umso eher und stärker gewinnen, je älter der Patient ist.
V. Abrechnung
So innovativ diese Technik auch ist, so ernüchternd fällt angesichts der Investitionskosten die durch den Gesetzgeber vorgesehene Abrechnungsziffer 0065 GOZ aus. Auch wenn man es für zulässig hielte, überproportional hohe Kosten einer Behandlung bei der Bestimmung des Steigerungssatzes unter dem Gesichtspunkt der „Umstände der Ausführung“ nach § 5 Abs. 2 GOZ zu berücksichtigen (hierzu: Liebold/Raff/Wissing, § 9 Rz 8 betreffend Material- und Laborkosten), wäre wohl eine Steigerung oberhalb des Doppelten des Höchstsatzes im Hinblick auf den Wuchereinwand problematisch. Selbst bei einer Steigerung durch Honorarvereinbarung auf den 7-fachen Satz wären bei der Eingangsdiagnostik 126,– EUR berechenbar. Bezugnehmend auf die Gesetzbegründung und die GOZ-Kommentierung der BZäK beschreibt die Leistung die dreidimensionale Datenerfassung intraoraler Strukturen mittels optisch-elektronischer Apparaturen zum Zweck der Herstellung einer Restauration bzw. Rekonstruktion. Der Kieferorthopäde verfolgt freilich andere Zwecksetzungen, sodass an eine anderweitige Analogie nach § 6 GOZ auch auf der Rechtsfolgenseite zu denken sein könnte. Denn einerseits hat die Zwecksetzung maßgeblichen Einfluss auf die Ausführung einer Leistung und andererseits spielt es bei der Frage nach der Analogiefähigkeit auch immer eine Rolle, inwieweit eine in Betracht kommende Abrechnungsbestimmung auch auf der Rechtsfolgenseite zu angemessenen Ergebnissen führt. Mit der Kodifizierung durch die GOZ-Novelle mit Inkrafttreten zum 1.1.2012 hat der Gesetzgeber den Tatbestand der optisch-elektronischen Abformung jedoch abschließend erfasst, da der Text der Leistungslegende selbst nicht nach dem Zweck der Maßnahme differenziert. Aus diesem Grunde wird die analoge Anwendung einer anderweitigen Abrechnungsbestimmung nicht möglich sein. Eine bessere Bewertung dieser Leistung wird voraussichtlich erst durch eine Änderung der GOZ zu erreichen sein.
VI. Datenverantwortung
Patientenkritik im Hinblick auf eine im Prinzip unlimitierte Datenspeicherung bei erhöhter Verkehrsfähigkeit der Daten (per Mausklick) im Vergleich zum körperlichen Modell ist bislang nicht bekannt geworden. Zweifellos besteht hier eine erhöhte Datenverantwortung des Zahnarztes. Gleichwohl dürfte ein Anspruch des Patienten auf Datenlöschung wie bei der öffentlichen Datenerhebung und -speicherung (z.B. nach Ablauf der zehnjährigen Aufbewahrungsfrist) nicht bestehen, da auch bei der herkömmlichen ärztlichen Dokumentation ein Anspruch auf Vernichtung der Dokumentation nach Ablauf der Dokumentationsfrist nicht bekannt ist.