Recht 27.06.2024
Krankengeldzahlung trotz verspäteter AU-Meldung
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Der „gelbe Schein“ auf Papier ist durch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) abgelöst worden. Vertragsärztinnen und -ärzte übermitteln nach dem Gesetz die AU-Daten digital an die Krankenkasse (KK). Die Arbeitgeber rufen sie dort elektronisch ab. Was passiert aber mit dem Krankengeldanspruch des Versicherten, wenn weder der Versicherte seine AU rechtzeitig der KK gemeldet noch der Vertragsarzt die AU-Daten der KK elektronisch übermittelt hat? Hierüber hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 30.11.2023 (Az. B 3 KR 23/22 R) entschieden.
Der Sachverhalt
Der gesetzlich krankenversicherte Kläger war seit 31.03.2021 arbeitsunfähig erkrankt. Bis 11.05.2021 erhielt er Entgeltfortzahlung vom Arbeitgeber. Am 28.07.2021 übersandte er der beklagten KK AU-Bescheinigungen, mit denen u. a. AU für die Zeit vom 11.05. bis 21.07.2021 lückenlos attestiert wurde. Die Beklagte lehnte die Zahlung von Krankengeld vom 12.05. bis 21.07.2021 ab. Der Krankengeldanspruch habe in diesem Zeitraum geruht, weil ihr die unstreitigen AUen nicht jeweils rechtzeitig gemeldet worden seien.
Die Entscheidung
Klage, Berufung und Revision des Klägers waren erfolgreich.
Das BSG führt aus, dass der Anspruch des Klägers auf Krankengeld nicht geruht habe und er Krankengeld vom 12.05. bis 21.07.2021 beanspruchen könne.
Die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen - mit Ausnahme der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen - seien seit 01.01.2021 verpflichtet, die von ihnen festgestellten AU-Daten aufzuzeichnen und unter Angabe der Diagnosen sowie unter Nutzung der Telematikinfrastruktur (TI) - seit 09.06.2021 unter Nutzung des sicheren Übermittlungsverfahrens über die TI - unmittelbar elektronisch an die KK zu übermitteln. Damit sei zum Stichtag 01.01.2021 die Obliegenheit der Versicherten zur Meldung der AU innerhalb von einer Woche nach deren Beginn entfallen. Ein Ruhen des Anspruchs auf Krankengeld könne seither nicht mehr dadurch eintreten, dass der Versicherte die festgestellte AU der KK nicht melde.
Daran ändere nichts, dass im streitigen Zeitraum die TI noch nicht so ausgebaut gewesen sei, dass alle an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen hierüber AU-Daten unmittelbar elektronisch an die KK hätten übermitteln können. Der Gesetzgeber des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) habe 2019 im Blick gehabt, dass die Beteiligten für die Einführung dieses Verfahrens einen hinreichenden zeitlichen Vorlauf benötigt hätten, weshalb diese Regelung erst zum 01.01.2021 in Kraft getreten sei.
Anderes folge auch nicht aus der bundesmantelvertraglichen Vereinbarung, nach der noch bis 31.12.2021 übergangsweise keine Verpflichtung zur Übermittlung elektronischer AU-Bescheinigungen bestanden habe, solange die technischen Voraussetzungen nicht zur Verfügung gestanden hätten. Diese Vereinbarung habe zwar Rücksicht auf den tatsächlichen Stand der technischen Umsetzung der TI genommen, aber dem gesetzlichen Stichtag 01.01.2021 für die Übermittlungspflicht widersprochen. Insbesondere habe sie nicht eine gesetzlich seither nicht mehr vorgesehene Obliegenheit der Versicherten zur Meldung der vertragsärztlich festgestellten AU begründen können, deren Nichteinhaltung zum Ruhen des Anspruchs auf Krankengeld zulasten der Versicherten führe.
Versicherte erhielten auch nach Einführung des verbindlichen elektronischen Verfahrens zur Übermittlung der AU-Daten an die KK eine Ausfertigung der AU-Bescheinigung. Damit werde ihrem Informationsbedürfnis entsprochen, die an die KK übermittelten AU-Daten und insbesondere den festgestellten Zeitraum der AU auch zu einem späteren Zeitpunkt einfach nachvollziehen zu können. Zugleich bleibe sichergestellt, dass Versicherte sich den Zeitpunkt vergegenwärtigen könnten, zu dem sie sich erneut bei ihrer behandelnden Ärztin oder ihrem behandelnden Arzt vorstellen müssten, damit die Fortdauer der AU rechtzeitig vor Fristablauf ärztlich festgestellt werden könne. Insoweit bestehe für die Versicherten weiterhin die Möglichkeit, den Nachweis über die AU an ihre KK zu übermitteln.
Bei einem Scheitern der Übermittlung der AU-Daten im elektronischen Verfahren bleibe ab 01.01.2021 aber der Vertragsarzt zur Meldung der AU an die KK verpflichtet. Dem Versicherten sei diese Meldung möglich, obliege ihm aber nicht. Eine Obliegenheit des Versicherten bestehe seither nur noch für die Meldung von AU-Feststellungen durch nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte und Einrichtungen (z. B. Privatärzte und Rehabilitationseinrichtungen), soweit nicht auch für diese eine Übermittlungspflicht begründet sei (z. B. Krankenhäuser).
Hinweise für die Praxis
Die eAU ist eine der digitalen Anwendungen, die der Gesetzgeber beschlossen hat. Zur ambitionierten digitalen Transformation zählen vor allem der Aufbau der sicheren Vernetzung im Gesundheitswesen (TI), die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) mit ihren Anwendungen, die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) und des elektronischen Rezepts (E-Rezept), das Angebot der digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) und der digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) für die Versicherten, die Ausweitung der Nutzungsmöglichkeiten für die Videosprechstunde und weitere Leistungen in der Telemedizin. Wer sich als Leistungserbringer nicht an die Spielregeln hält, setzt sich Sanktionen aus, die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung für rechtmäßig gehalten werden.
So hat der für das Vertragsarztrecht zuständige 6. Senat des BSG mit Urteil vom 06.03.2024 (Az. B 6 KA 23/22 R) entschieden, dass die Kassenärztliche Vereinigung zu Recht das Honorar einer BAG im Quartal 1/2019 um 1 % gekürzt habe. Die Verpflichtung der BAG zur Anbindung an die TI habe in der Anfang 2019 geltenden Ausgestaltung des Regelungskonzepts keinen unverhältnismäßigen Eingriff in ihre ärztliche Berufsfreiheit dargestellt. Das Normkonzept des SGB V habe den Vorgaben aus dem europäischem Recht zur Gewährleistung einer ausreichenden Datensicherheit entsprochen. Es habe keine solchen systemischen Mängel aufgewiesen, die ärztliche Leistungserbringer von der Verpflichtung zur Anbindung an die TI hätten freistellen können. Die Verpflichtung der BAG zur Durchführung des Versichertenstammdatenabgleichs diene dem legitimen Zweck, Leistungsmissbrauch durch die Identifizierung ungültiger, verlorener oder gestohlen gemeldeter eGK zu verhindern, und sei verhältnismäßig.
Auch die vorliegende Entscheidung des für die Krankenversicherung zuständigen 3. Senates des BSG richtet die Verantwortung für die Übermittlung der AU an die KK ausschließlich an die Vertragsärztinnen und -ärzte. Sofern diese der gesetzlichen Pflicht nicht nachkommen, laufen sie Gefahr, wegen Verletzung vertragsärztlicher Pflichten disziplinarisch belangt zu werden.
Ob der Umstand, dass beide Entscheidungen das Aktenzeichen 23/22 tragen, als böses Omen für die Vertragsärzteschaft zu verstehen ist, mag jede(r) selbst bewerten.
Quelle: lenmed Newsletter 06/2024