Branchenmeldungen 27.08.2024
Augmented Living Spaces: Gezielte Teilhabeförderung für Ältere
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Die Welt ist in den Brunnen gefallen: schreckliche Kriege im europäischen und angrenzenden Raum, steigende Kosten, wohin man schaut, ein tiefgreifender Fachkräftemangel, ein wackeliges Gesundheitssystem, welt- wie regionalpolitische Verunsicherungen – die Liste ließe sich leicht fortführen. Und doch passiert – ganz nebenbei – viel Gutes, viel Innovatives, gibt es Lichtblicke am Standort „made in Germany“. Und genau diesen Inhalten, dem Innovationsgeist und zuversichtlichem Blick nach vorn, möchten wir in unserer Rubrik „OEMUS × Lichtblicke“ nachgehen und dabei Ideen und Entrepreneure, Prozesse und Produkte, Tendenzen und vielversprechende Aussichten vorstellen. Ein Feelgood auf gehobenem Niveau. Wir starten mit einem Forschungsprojekt für eine digitale Gesundheitslösung im Bereich der Alters(zahn-)medizin- und betreuung.
Augmented Living Spaces (ALiS) bezeichnen Räume, welche mittels spatialer Augmented Reality (AR)-Technologie aufgewertet werden. Im Gegensatz zu AR via Headsets (bspw. Microsoft HoloLens) wird das AR-Erlebnis für Nutzer mit Projektoren und Sensoren umgesetzt, welche die synthetischen Informationen – Bilder, Töne etc. – in den Raum projizieren und dynamisch anpassen.
Der Einsatz von AR-Technologien, hat für die Stärkung der Selbstständigkeit älterer und kognitiv eingeschränkter Menschen ein hohes Potenzial. Das zeigen verschiedene Projekte, die bereits den Einsatz von AR in der Pflege erforschen. Die BMBF-Projekte „Pflegebrille“ oder „Augmented Living“ ermöglichen beispielsweise durch die Nutzung von AR-Headsets das Anbringen virtueller Notizen in der Wohnung, bessere Kommunikationsmöglichkeiten via Videotelefonie oder die Routenführung in der eigenen Wohnung. Die Ergebnisse zeigen, dass dadurch sowohl Pflegekräfte als auch Pflegebedürftige und ältere Menschen in Szenarien des Lebensalltags unterstützt werden können. Diese Erfolge basieren jedoch durchgängig auf der Akzeptanz und Kompetenz im Umgang mit diesen Wearables. Dies ist jedoch nicht bei allen Menschen der Zielgruppe gegeben. So führen körperliche/medizinische Voraussetzungen wie kognitive Beeinträchtigungen oder die fehlende Bereitschaft, ständig ein AR-Headset zu tragen, zu erheblichen Nutzungsproblemen.
Die Idee des Projektes ALiS hat genau an diesem Punkt angesetzt: durch die Nutzung von spatialer AR sollen diese Probleme umgangen und dennoch die Potentiale von AR in der Pflege und insbesondere in der Teilhabeförderung realisiert werden. In enger Zusammenarbeit mit der Zielgruppe (ältere und kognitiv eingeschränkte Menschen) sowie Praxispartnern aus der Wirtschaft wurden spezifische Szenarien für ALiS identifiziert und vielversprechende Unterstützungsszenarien getestet. Diese wurden als ALiS umgesetzt und im Vergleich zum Einsatz von AR-Headset evaluiert.
Vieles landet leider in der Schublade!
„Innovationskraft und das Potenzial digitaler Gesundheitslösungen sind in Deutschland enorm ausgeprägt. Ich hatte letztens die Möglichkeit bei einem Schülerwettbwerb in den Klassenstufen 8 bis 11 zu Ausgründungsideen als Unterstützer teilzunehmen und dort wurden teilweise Ideen zu Demenz-Apps und ähnliches gepitched. Das heißt: die Ideen sind da! Die Menschen zur Umsetzung sind es auch! Und vor allem auch die Personengruppen, die dann von diesen Lösungen profitieren. Zudem gibt es eine Vielzahl an Förderprogrammen durch den Bund oder die EU, bei denen höchst innovative Forschungsideen und -projekte umgesetzt werden. Das Problem ist nur, dass eine ebenso große Vielzahl wieder in der Schublade landet, weil der Schritt aus dem Forschungsprojekt heraus in die Wirtschaft meist unmöglich ist. Hier wäre auf jeden Fall noch genügend Platz, um coole und innovative Ideen so lange es geht zu fördern, weiterzuentwickeln und dann letztlich zur Marktreife zu bringen. Das klingt sehr nach Klischee, ist aber tatsächlich oft der springende Punkt, wenn es darum geht, die Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen.“ – Martin Böhmer
Im Verlauf des Projekts wurde eine Vielzahl an Fokusgruppen durchgeführt, die einerseits Pflegekräfte und andererseits unsere Zielgruppe einbezogen. Dies ermöglichte es uns, eine Designtheorie zu entwickeln, auf deren Grundlage wir die technische Systemarchitektur und ein erstes Prototypszenario realisieren konnten. Durch die agil-iterative Entwicklung können wir eng mit unserer Zielgruppe deren individuell bedürfnisorientierte Anforderungen umsetzen und adäquat auf Änderungsvorschläge in den Zwischenevaluationen reagieren. Dabei ist es unser Ziel, ein ganzheitliches ALiS-System zu entwickeln, um die Autonomie der älteren und kognitiv eingeschränkten Menschen zu erhalten, ohne dabei aufdringlich, störend oder übergriffig zu sein.
Interview mit Martin Böhmer
Herr Böhmer, in welchem Zeitraum lief Ihr Projekt und wer war daran beteiligt?
Das Forschungsprojekt ALiS lief von April 2021 bis Juni 2023 und wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über die „Translationsregion für digitalisierte Gesundheitsversorgung (TDG)“ gefördert. In der Summe hatte das Projekt ein Fördervolumen von etwa 335.000 EUR und wurde primär durch die Professur für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Betriebliches Informationsmanagement von Prof. Stefan Sackmann an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, initiiert. Da BMBF und TDG-geförderte Forschungsprojekte immer auch einen Praxispartner beinhalten müssen, hatte sich der Lehrstuhl mit dem Hallenser Start-up DENKUNDMACH zusammengetan, welche die notwendige Multimedia-Design-Expertise in den Bereichen Augmented und Virtual Reality mitbringen konnten. So entstand ein kleines interdisziplinäres Projektteam. Ich war als Projektmanager für die wissenschaftliche Umsetzung (bspw. Konzeption, Evaluation, Publikationen) durch die MLU sowie projektübergreifende Veranstaltungen (Pitch- Days, Netzwerktreffen, Konferenzen) verantwortlich.
Was waren Ihre Projekt-Highlights?
Zu den Highlights des Projektes gehörten die verschiedenen Fokusgruppen, Diskussionsrunden und Evaluationen mit unserer Zielgruppe der älteren und kognitiv eingeschränkten Menschen. Vor allem zu Beginn des Projektes durften wir einen Tag in einer Demenz-WG wohnen und
mit den Pflegern der Volkssolidarität sprechen, was nicht nur ausgesprochen interessant war, sondern uns auch sehr tiefe Einblicke in den Alltag dieser Menschen gegeben hat. Dabei war es eine sehr bewegende Erfahrung, zu sehen, wie unterschiedlich, teilweise einsam, aber doch selbstbestimmt der Alltag älterer und kognitiver eingeschränkter Menschen sein kann. Hier mussten wir auch öfter die Erfahrung machen, dass Dinge (vor allem Funktionalitäten, Designs etc.) für diese Menschen in einigen Fällen weniger hilfreich waren als wir uns das vorgestellt und erwartet haben. Aber auch zu sehen, wie offen und interessiert diese Zielgruppe sein kann, besonders wenn es an das Testen des ALiS-Systems ging, war ein sehr motivierender und bestätigender Anblick.
Gab es auch Durststrecken oder Ernüchterungen im Projektverlauf?
Es gab kaum große Hürden im Projektverlauf, da wir immer gut durch die TDG (vor allem in der Probandenakquise und für Netzwerkveranstaltungen) unterstützt wurden. Die größte Ernüchterung bzw. Hürde ist letztlich die Anschlussfinanzierung mit der wirtschaftlichen Verwertung. Das ist ein Punkt, der durch die wirklich guten Ergebnisse des Projektes und die potenziellen Verwertungsmöglichkeiten (bspw. über Krankenkassen oder Health-Tech-Unternehmen) wehmütig macht. Vermutlich hätte man noch eher anfangen können, auf die Suche nach Verwertungsmöglichkeiten zu gehen, aber letztlich schärft sich die Ausrichtung des Projektes, mitsamt der Ergebnisse, erst zum Ende hin.
Dieser Beitrag ist in der ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis erschienen.