Branchenmeldungen 16.02.2021
Spüllösungen und -protokoll bei der Wurzelkanalbehandlung
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Für eine erfolgreiche Wurzelkanalbehandlung muss der Zahnarzt vor der Versieglung die Kanäle gründlich reinigen, um Bakterien möglichst wenig Raum für eine Neubesiedlung zu geben. Auf dem Markt gibt es dafür verschiedenste Spüllösungen, zudem hat jeder Zahnarzt sein favorisiertes Spülprotokoll. Im folgenden Interview gibt Dr. Sebastian Riedel, Endodontologe aus Berlin, seine Erfahrungen mit verschiedenen Spüllösungen wieder und gibt Tipps für deren Verwendung und was bei Nebenwirkungen zu tun ist.
Welche Anforderungen müssen Spüllösungen in der Endodontie erfüllen?
Hauptsächlich erwarten wir vier verschiedene Effekte: Wir möchten körpereigenes organisches Gewebe im gesamten Wurzelkanalsystem auflösen. So entziehen wir dem System Substrat, welches ansonsten wieder Ernährungsgrundlage für Bakterien und deren Vermehrung bieten würde. Weiterhin sollen Bakterien inaktiviert und zerstört werden, sodass diese nicht durch Teilung und Vermehrung die eigentliche Infektion aufrechterhalten können.
Anorganische Stoffe und Smear Layer, also eine der Wurzelkanalwand aufgelagerte und auch durch den Zahnarzt mitverursachte Schicht aus Abrieb, soll entfernt und eine mechanische Reinigungsleistung erreicht werden, damit z. B. gelöste Späne herausgespült werden.
Chlorhexidin, Natriumhypochlorit, EDTA: Welche Spüllösungen favorisieren Sie und warum?
Als wichtigste desinfizierende Spüllösung kommt in meiner Praxis für Endodontie Natriumhypochlorit (NaOCl) in 3%iger Konzentration zum Einsatz. Dabei finde ich es wichtig zu erwähnen, dass das Präparat in den Kunststoffflaschen belassen wird, in denen es vom Hersteller geliefert wird. So reduziere ich den Kontakt zur Luft, denn dieser Sauerstoffkontakt beschleunigt den schleichenden Abbau des enthaltenen Chlors. Auch bei Bestellungen in der Apotheke achte ich darauf, dass wir kein in Glasflaschen abgefülltes Natriumhypochlorit erhalten, denn es reagiert mit dem Borsilikat des Glases, eine erkennbare Auskristallisierung zeugt von reduzierter oder nicht vorhandener Wirksamkeit. Natriumhypochlorit ist das einzige wirksame Mittel im Spülprotokoll zur Auflösung organischen Gewebes, und es zeigt eine hervorragende Wirkung gegenüber Bakterien im Sinne einer Inaktivierung und Lyse. Der Mechanismus der Zerstörung der Bakterienhülle verläuft vergleichbar den Mechanismen der unspezifischen Immunabwehr im menschlichen Körper.
Wichtig zu erwähnen ist dabei, dass unterhalb einer Konzentration von 1% Chlor in der Lösung keine gewebeauflösende Wirkung oder Bakterienwände lysierende Reaktion mehr zu erwarten ist. Die Spülflüssigkeiten müssen deshalb in entsprechend hoher Konzentration erworben werden und durch ordnungsgemäße Lagerung und portionsweise Verwendung am Patienten in ihrer Konzentration erhalten werden.
Natriumedetat (EDTA) verwende ich in 17%iger Konzentration. Es kommt dann zu Einsatz, wenn das komplette Kanalsystem maschinell aufbereitet ist. Dann sind die Volumina maximal erweitert, die Kanalwände wurden mechanisch abgetragen oder sind zumindest angeraut worden. EDTA soll anorganische Bestandteile aus dem Kanalsystem waschen – es ist das wichtigste Spülmedium zur Entfernung der Smear Layer. EDTA in Verbindung mit massiver Schallbewegung durch den EDDY® (VDW) und durch Erbium-Yag-Laserinduzierte Schockwellen (Morita AdvErL) schafft es, diese teils massive Schicht zu zertrümmern und die darunterliegenden Poren im Dentin der Desinfektion zugänglich zu machen. Viele Kollegen benutzen für diesen Arbeitsschritt auch erfolgreich Zitronensäure. Ich kann darüber allerdings aufgrund fehlender Erfahrungen nichts berichten.
CHX spielt in meinen endodontischen Behandlungen keine Rolle mehr – entsprechend der aktuellen Studienlage überwiegen bei diesem Präparat die Nachteile gegenüber messbaren Vorteilen. Einen Hauptnachteil kann man bei Benutzung von Chlorhexidin oft beobachten: Das Ausfällen eines schwer entfernbaren Chloranilinniederschlags sorgt für sichtbare rotbraune Verfärbungen. Es ist giftig und umweltgefährdend, sein Einsatz innerhalb des menschlichen Organismus ist meiner Meinung nach durch nichts gerechtfertigt.
Abb. 1: Laser mit Glasfaserspitze.
Bitte beschreiben Sie uns Ihr Spülprotokoll.
Ich verwende im Rahmen der Wurzelkanalbehandlung NaOCl, EDTA und Ethanol. Die oben beschriebenen Wirkungen der einzelnen Medien werden sinnvoll kombiniert. Wichtiger noch als die Konzentration des Natriumhypochlorits ist die verwendete Menge: Nur durch ausreichend lange und regelmäßige Spülung gelingt uns die vollständige Auflösung des erreichbaren organischen Gewebes im Wurzelkanalsystem. Mindestens alle fünf Minuten während der Aufbereitung, aber besser noch nach jeder verwendeten Feile, wechsele ich die einwirkende Spülung im Zahn und gebe neues, unverbrauchtes NaOCl hinzu. Menge und Einwirkzeit sind für mich die effektiv wichtigen Parameter. Das Ausperlen von Bläschen signalisiert die Wirksamkeit: Chlorgas entsteht beim Kontakt mit organischem Gewebe. Bei der Behandlung eines Molaren kommen so mindestens 30–50ml NaOCl im Laufe der Behandlung zum Einsatz.
Im Rahmen der Masterpoint-Einprobe wird EDTA dann als Zwischenspülung eingesetzt: Es inaktiviert zwar die Wirkung des NaOCl, aber sein Beitrag zum Beseitigen der Schmierschicht ist entscheidend für die im wahrsten Sinne „porentiefe“ Desinfektion. Nachdem EDTA einige Minuten einwirken konnte, wird noch einmal mit NaOCl unter Aktivierung mit Schall und Er:YAG-Laser Schockwellen (PIPS-Mechanismus) aktiv desinfiziert. Noch einmal sind die charakteristischen Bläschen erkennbar, die beim Kontakt mit organischem Gewebe entstehen. Allerdings werden diese nun kleiner, denn es sind die Poren, die kleinste Mengen an organischem Gewebe enthalten, das aufgelöst wird.
Ethanol in Konzentration von 70 Prozent wird von mir nicht zu Desinfektionszwecken eingesetzt – es hilft mir aber sehr effizient bei der Trocknung der Kanalwände und ermöglicht es, die thermoplastische Wurzelfülltechnik erfolgreich anzuwenden. Wenn moderne biokeramische Füllmaterialien verwendet werden, ist allerdings eine gewisse Restfeuchte des Wanddentins erwünscht, damit diese Massen aushärten können. Wie beim Bonding ist aber auch hier die Frage: „How wet is wet?“
Abb. 2: Schallaktivierte Spülung des Wurzelkanals.
Ist eine Schall- oder Ultraschallaktivierung der Spüllösung immer angezeigt und welche Vor- oder auch Nachteile hat dieser Schritt bei der Wurzelkanalbehandlung?
Ich bin ein absoluter Fan der Aktivierung von Spülflüssigkeiten. Hinsichtlich der Bezeichnung möchte ich allerdings anmerken, dass wir im Grunde hier nichts aktivieren, es liegen nach dem Arbeitsschritt immer noch dieselben Spülflüssigkeiten im selben Zustand vor. Gemeint ist ein aktives Bewegen der Spülmedien. Wenn z. B. Natriumhypochlorit nur passiv ins Kanalsystem gegeben wird, kann nicht von einer optimalen Benetzung aller Wandoberflächen ausgegangen werden. Kinetische Energie, appliziert durch Schall- oder Ultraschallspitzen, macht den Vorgang effektiver. In Bezug auf die Ultraschallenergie nennt man das PUI („passive ultrasonic irrigation“). Mit passiv ist dabei gemeint, dass durch die verwendeten Spitzen keine Bearbeitung der Kanalwand mehr geschieht.
Genau das ist aber nicht zu 100 Prozent vermeidbar: Wenn Kanalsysteme gekrümmt sind oder extrem eng, kann eine schwingende Ultraschallspitze sehr wohl die Kanalwand touchieren und verändern. Abhilfe schaffen moderne Schallansätze aus dem Handel: bewegliche, verhältnismäßig weiche Kunststoffmischungen wie beim EDDY® verursachen keine erkennbaren mechanischen Destruktionen im Dentin. Zwar sind Schall und Ultraschall aufgrund von Unterschieden in ihrer Amplitude und Frequenz nicht vergleichbar, aber beide Methoden unterstützen die bewusste Erosion von Debris und organischem Gewebe im Kanalsystem. Bei der chemischen Aufbereitung von Kanalisthmen und Furchen in den Wänden erhöht die aktive Desinfektion mit Schallunterstützung signifikant das Potenzial, Gewebe aufzulösen, die Kontaktzeit zum Zielgewebe wird deutlich erhöht. Vorsicht ist allerdings bei bestimmten anatomischen Situationen geboten: Perforationen und weite offene Foramina bergen die Gefahr der Auspressung von Spülflüssigkeiten, da sich teilweise wirksame Strudel bilden können.
Welche Nebenwirkungen können bei falschem Spülen auftreten und hatten Sie schon einmal eine solchen Fall?
Einen sogenannten Spülunfall gab es in meiner Arbeit als Zahnarzt in den letzten 18 Jahren glücklicherweise nicht. Ich glaube auch, dass es bei der Beachtung grundlegender einfacher Regeln so eine massive Beeinträchtigung des Patientenwohls unwahrscheinlich ist. Grundsätzlich werden allerdings alle Patienten im Vorfeld einer Behandlung über das theoretische Risiko einer gesundheitlichen Beeinträchtigung durch überpresste Spülflüssigkeiten aufgeklärt, ungeachtet der sehr geringen Wahrscheinlichkeit des Auftretens. Diese Aufklärung ist gesetzlich zwingend erforderlich und aus juristischer Sichtweise empfehlenswert.
Die angesprochenen Regeln sind simpel einzuhalten und selbsterklärend: Spülkanülen sollen immer so eingesetzt werden, dass die Spitze frei im Kanal beweglich bleibt. So kann die Spülflüssigkeit immer in Richtung koronal aus dem Kanal entweichen. Der aufgewendete Druck darf den venösen Blutdruck nicht übersteigen, die Abgabe der Spülflüssigkeit kann tröpfchenweise geschehen. Die Spülkanüle kommt erst dann im Kanal zum Einsatz, wenn die Arbeitslänge bestimmt ist oder ein deutlicher Sicherheitsabstand zum Foramen eingehalten wird. Im Fall eines weit offenen Foramens wird mit noch weniger Druck als ohnehin empfohlen gearbeitet. Falls die Assistenz während eines Arbeitsschrittes simultan Spülflüssigkeit ins Kanalsystem gibt, sollte die Spülkanüle von ihr nur ins Kavum eingeführt werden. Ich überprüfe das ständig im Augenwinkel.
Was empfehlen Sie, wenn Nebenwirkungen bei einem Patienten während oder nach der Desinfektion der Wurzelkanäle auftreten sollten?
Im Rahmen einer wirkungsvollen, erfolgreichen endodontischen Behandlung treten regelmäßig nach der Behandlung Schmerzepisoden auf. Nicht immer oder besser gesagt zum Glück sehr selten können die subjektiven Schmerzen der Patienten eindeutig mit unvorsichtigem Einsatz der Spülflüssigkeiten assoziiert werden. Meiner Meinung nach ist es unmöglich, ohne Beeinflussung des Immunsystems eine solche Behandlung durchzuführen.
Im Grunde wollen wir durch unsere Behandlung ein so sauberes System schaffen, dass die ablaufende Abwehrreaktion des Immunsystems verschwindet. Auf der anderen Seite erschrecken uns Anrufe von Patienten mit Beschreibungen von teils heftigen Schmerzen.
Hier gilt es, behutsam aufzuklären und den Patienten vor allem zu beschreiben, welche Mechanismen gerade ablaufen: Eine chronische Entzündungsreaktion wird aus der Balance gebracht, weil infiziertes Gewebe entfernt wird und deshalb kurzfristig eine akute Entzündungsreaktion resultiert. Das apikal offene Wurzelkanalsystem ermöglicht den Austritt von Debris, aber auch Tröpfchen von Spülflüssigkeit können im Zuge der mechanischen Aktivierung nach periapikal „gestrudelt“ werden wie in einem Abfluss.
Die Patienten bekommen nach Ende der Behandlung immer die Empfehlung, auf Schmerzmittel dann zurückzugreifen, wenn das Geschehen vordergründig wird und die empfundenen Schmerzen tagbestimmend werden. Ich sage ausdrücklich „empfundene Schmerzen“, denn wir erleben sehr unterschiedliche interindividuelle Unterschiede in der Rezeption. Ernst nehme ich alle Anrufe, wir betreuen die behandelten Patienten mit Schmerzepisoden engmaschig per Telefon, auch am Wochenende. Dieser Service verhindert Gänge zum Notdienst und Recherchen im Internet mit ungewissem Resultat.
Herr Dr. Riedel, vielen Dank für das Gespräch.
Dieser Beitrag ist im Endodontie Journal erschienen.