Wissenschaft und Forschung 02.03.2023

Mehrwert für die Praxis? Der Einsatz von KI in der Endodontie



Mehrwert für die Praxis? Der Einsatz von KI in der Endodontie

Foto: ipopba – stock.adobe.com

Originaltitel: "Einsatz von KI in der Endodontie"

Künstliche Intelligenz (KI) findet inzwischen in der Automobilindustrie, im IT-Bereich oder Logistik bereits umfangreiche Anwendung. Auch die Medizin integriert sie – besonders in der Diagnose und Verwaltung. In der Zahnmedizin ist der Einsatz von KI aktuell noch überschaubar. Aber gerade bei bildgebenden Verfahren oder der bereits erwähnten Diagnostik fasst sie langsam, aber sicher Fuß. Dr. Sascha Herbst aus der Abteilung für Orale Diagnostik, Digitale Zahnheilkunde und Versorgungsforschung der Charité – Universitätsmedizin Berlin beschäftigt sich ebenfalls intensiv mit diesem Thema. Im Interview erklärt er, wie KI speziell in der Endodontie zum Einsatz kommen kann.

Herr Dr. Herbst, die KI basiert auf zahlreichen Datensätzen, die ausgewertet werden können. Welche Daten braucht die KI in der Zahnmedizin vor allem?

Generell können alle Typen von Daten zur Auswertung durch KI verwendet werden, die wir in der Zahnarztpraxis finden – (Röntgen-)Bilder, Text bzw. generell von Menschen erhobene Daten und auch Audiodaten. Daher richtet sich die benötigte Datenquelle nach der gewünschten Anwendung. Aktuell ist der Fokus in der Forschung und klinischen Anwendung auf die Röntgendiagnostik gerichtet, sprich die Verwendung von Bilddaten. Klinische Bilder finden ebenfalls vermehrt Anwendung in der Forschung.

Die KI muss auch weiterentwickelt werden. Man spricht hier von dynamischer und statischer KI. Wie unterscheiden sich beide Formen und welche kommt aktuell in der Zahnmedizin zum Einsatz?

Die Termini statische und dynamische KI werden einerseits für die Lernform angewendet als auch für das Umfeld, in welchem die KI zum Einsatz kommt. Bei der statischen Lernform wird der Algorithmus an einem vorher definierten und dadurch begrenzten Datensatz trainiert, wohingegen beim dynamischen Lernen kontinuierlich neue Daten durch den Anwender hinzugefügt werden, z. B. über eine Internetverbindung, wodurch der Algorithmus kontinuierlich lernt, sprich dynamisch angepasst wird. Bei der statischen Lernform wird der Algorithmus durch ein Software-Update für den Anwender aktualisiert, ohne dass Daten durch den Anwender zur Optimierung der Algorithmen bereitgestellt werden. In einem statischen Umfeld wird dem Algorithmus ein Datensatz vorgelegt, z. B. ein Röntgenbild, und dieses wird analysiert – damit ist die Anwendung der KI abgeschlossen. Von einem dynamischen Umfeld spricht man, wenn ein kontinuierlicher Datenstrom analysiert und dementsprechend das Ergebnis der KI-augmentierten Analyse in Echtzeit (dynamisch) angepasst wird.Die häufigste klinische Anwendungsform heutzutage ist die (in Lernform und Umfeld) statische KI in der Röntgendiagnostik. Zukünftig werden auch Algorithmen im dynamischen Umfeld angewendet werden können, z. B. zur Echtzeitidentifikation von Strukturen bei Aufnahmen durch Intraoralkameras.

Abb. 1: Dargestellt sind die häufigsten Termini, die unter dem Sammelbegriff „künstliche Intelligenz“ zusammen gefasst werden

In welchen Bereichen der Endodontie ist KI einsetzbar und welche Vorteile bringt dieser Einsatz mit sich?

Aktuell wird die KI in der Endodontie zur Identifikation von apikalen Läsionen sowie vorhandenen Wurzelkanalfüllungen auf Röntgenbildern eingesetzt. Hierdurch können z. B. Zufallsbefunde auf Panoramaschichtaufnahmen optisch hervorgehoben und somit eine Hilfestellung bei der Röntgenbefundung und Patientenaufklärung gegeben werden. Natürlich ist die Forschung zur Anwendung von KI in der Endodontie ein junges Feld, das noch in den Anfängen steht, und folglich ist das meiste Potenzial noch nicht ausgeschöpf.

Die KI muss sich auf einen Konsens von Daten bzw. deren Auswertungen durch verschiedene Experten beziehen können. Heißt das nicht, dass die KI nur so gut arbeiten kann wie die Experten, die sie zuvor mit den Daten versorgt haben?

Der von Ihnen beschriebene Punkt hebt eine zentrale Herausforderung in der Forschung zur Anwendung von KI hervor. Damit ein Algorithmus beispielsweise nicht nur auf bestimmten Röntgenbildern die erforderliche Akkuratheit erreicht, müssen die Datensätze möglichst vielfältig sein, und das mit unterschiedlichen Qualitäten. Wir sprechen hierbei von der Generalisierbarkeit der Algorithmen. Auch wenn es mittlerweile viele Techniken des selbstständigen Lernens gibt, brauchen wir Menschen als Referenz, welche die relevanten Strukturen benennen, die von der KI erlernt werden sollen. Die Algorithmen werden dabei nicht an einer einzigen Meinung trainiert, sondern anhand einer Mehrheitsentscheidung von vielen Expertinnen und Experten. Dabei wird das Prinzip der Schwarmintelligenz angewendet, damit optimale Ergebnisse erzielt werden können.

Gerade im Bereich Bildgebung (Röntgenbilder, DVT- Daten) gibt es enorm große Datenmengen. Wie effektiv kann die KI hier eingesetzt werden, um z. B. Karies zu erkennen? Und denkt man weiter: Hätte KI sogar eine Zukunft im Auffinden von Wurzelkanälen?

Bei großen Datenmengen kann die KI ihre ganze Kraft entfalten und uns unterstützen. Wir Menschen sind darauf optimiert, für uns wesentliche Merkmale aus Daten herauszufiltern. Wie wir aus der eigenen alltäglichen Erfahrung wissen, können diese Filter durchaus ihre Grenzen haben. Die KI hingegen kann uns hierbei unterstützen, indem sie Datensätze grundsätzlich in ihrer Gesamtheit erfasst. Dadurch stehen uns Behandlern große Datenmengen optimal aufbereitet zur Interpretation und Entscheidungsfindung zur Verfügung. Auf dem Markt existieren bereits Softwarelösungen, die zuverlässig Karies, apikale Parodontitiden und weitere Pathologien identifizieren können. Ihre Frage zum Auffinden von Wurzelkanälen beschäftigt mich in meiner Forschung ebenfalls. Eine erste Studie von einer anderen Forschungsgruppe konnte bereits das Auffinden von zweiten distalen Kanälen in Unterkiefermolaren auf Panoramaschichtaufnahmen automatisieren und ähnlich präzise Ergebnisse liefern, wie Zahnärzte mit radiologischem Schwerpunkt.1

Abb. 2: Segmentierung der Wurzelkanäle auf einer Biss flügel aufnahme.

Wenn man alle Aspekte zusammennimmt: Kann die KI so etwas wie eine „zweite Meinung“ im Praxisalltag sein?

Der Begriff „zweite Meinung“ wirft den Verdacht auf, dass die Diagnose durch eine KI-Software in Konkurrenz zur Diagnose des Behandlers steht – dem ist nicht so! Vielmehr sollten wir von einer Unterstützung in der Diagnostik und Therapieplanung sprechen, welche den Behandlern assistiert und zu einer Steigerung der Therapieeffektivität führen kann. Durch KI haben wir die Chance, eine weitere Perspektive auf unsere täglichen Entscheidungen zu bekommen.

Wie wird sich der Bereich KI und ihr Training in Zukunft aus Ihrer Sicht entwickeln?

In der Zukunft wird die KI-augmentierte Diagnostik vermutlich zur Routine in der zahnärztlichen Praxis und Entscheidungsprozesse können vereinfacht werden. Ich möchte hierfür ein Beispiel geben: Die präoperative Komplexitätseinschätzung einer Wurzelkanalbehandlung ist zeitintensiv und aufgrund von subjektiven Einschätzungen teils uneinheitlich im Ergebnis. Zukünftig könnte eine KI das vorliegende Einzelbild auf ebendiese Fragestellung untersuchen, und somit würde in weniger als einer Sekunde eine auf aktuellen Richtlinien beruhende erste einheitliche Einschätzung vorliegen, welche in die weitere Behandlungsplanung einfließen könnte. Zudem könnten anatomische Schwierigkeiten farblich hervorgehoben und aktuelle Literatur verlinkt werden, wodurch die manuelle Recherche und Weiterbildung vereinfacht wird. Können Sie selbst programmieren und wenn ja, welche Vorteile bringt es mit sich?

Können Sie selbst programmieren und wenn ja, welche Vorteile bringt es mit sich?

Ja, ich kann in den beiden gängigsten Programmiersprachen Daten analysieren und KI-Algorithmen trainieren. Nach meinem Empfinden bekommt man dadurch ein tieferes Verständnis für Daten und die angewandten Methodiken, als wenn man diesen Prozess outsourcen würde. Während des Analyseprozesses lernt man auch, welche Fragestellungen ggf. neu formuliert werden müssen. Jedoch möchte ich hervorheben, dass das Training dieser Algorithmen meist keine Einzelleistung ist, sondern das ganze Team involviert. Daher bin ich sehr froh, dass wir eines der weltweit größten Teams an Datenwissenschaftlern in der Zahnmedizin in unserer Abteilung haben, mit dem ich mich austauschen und weiterentwickeln darf.

1 Hiraiwa, T., Ariji, Y. (et al.): A deep learning artificial intelligence system for assessment of root morphology of the mandibular first molar on panoramic radiogra phy, Dentomaxillofacial Radiology (2019) 48, 20180218; Published by the British Institute of Radiology.

Dieser Beitrag ist im EJ Endodontie Journal erschienen.

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