Psychologie 09.11.2015

Schmerz und Psyche



Schmerz und Psyche

Foto: © Kalim – Fotolia

An dieser Stelle können Leser der langjährigen ZWP-Autorin und Expertin auf dem Gebiet der Psychologie Dr. Lea Höfel Fragen stellen – in Bezug auf Patienten, das Team und sich selbst. Die Fragen und Antworten finden Sie hier redaktionell aufbereitet wieder. Dieses Mal geht es um Patienten, deren Schmerzen sowohl psychische als auch physische Komponenten aufweisen. Psychologin Dr. Lea Höfel antwortet.

Anfrage: In unserer Praxis behandeln wir viele Patienten mit Kiefergelenkbeschwerden unterschiedlicher Ursache. Kürzlich hatten wir eine Patientin – 48 Jahre, im sozialen Bereich tätig, zwei Kinder, verheiratet (beschreibt ihren Mann als wenig unterstützend) –, die seit Jahren unter Zahn- und Kieferbeschwerden leidet, verstärkt in Stressphasen. Sie hat schon mehrere Ärzte aufgesucht, zahlreiche Zahnbehandlungen durchführen lassen (wobei die Schäden anfangs deutlich vorhanden waren und inzwischen behandelt sind) und klagt weiterhin über unveränderte Beschwerden, die sich neuerdings auch zu starken Kopfschmerzen ausbreiten. Sie beschreibt einen sehr stressigen Tag mit Arbeit, Kindern und Streitigkeiten mit ihrem Mann. Inzwischen hat sie Angst vor den Schmerzattacken und beschäftigt sich davor, währenddessen und danach damit. Änderungsvorschläge kann sie nicht annehmen, wobei es keine Unwilligkeit ist, sondern das Unvermögen, sich eine Änderung ihres Lebensstils vorzustellen. Wie entsteht so eine Schmerzproblematik?

Die beschriebene Patientin scheint sich in einem Kreislauf zu befinden, der sich aus Schmerzen – Stress – emotionalen Herausforderungen und tatsächlichen/akuten Schmerzerfahrungen zu Beginn zusammensetzt. Spätestens seit Melzack und Wall 1965 die Gate Control Theorie veröffentlichten,1 ist bekannt, dass Schmerzempfindungen nicht proportional zur Verletzung oder Entzündung entstehen, sondern von psychologischen Faktoren beeinflusst werden. Ihre Patientin hat sicherlich zu Beginn akute Schmerzen aufgrund von Zahnschäden empfunden. Durch das Zusammenspiel von Schmerz und negativen Emotionen, hervorgerufen durch Stress oder Streitigkeiten, kann sich der Schmerz jedoch verselbstständigen. Die Zusammenhänge sollen hier kurz erläutert werden.

Akuter und chronischer Schmerz

Ein akuter Schmerz, wie z.B. hervorgerufen durch Zahnschäden, wird physiologisch von Nozizeptoren wahrgenommen und Richtung Gehirn weitergeleitet. Auf Rückenmarksebene wird dieser Reiz erst einmal auf ein Folgeneuron umgeschaltet, am sogenannten „Schmerztor“. Von da aus geht es weiter in Richtung Gehirn, wo nochmals eine Filterstelle (Thalamus) zwischengeschaltet ist. Dort kann je nach Aufmerksamkeit, Wichtigkeit oder persönlicher Veranlagung dem Schmerzreiz mehr oder weniger Bedeutung beigemessen werden. Erst wenn der Schmerzreiz das Tor und den Filter passieren darf, gelangt das Signal ins Gehirn, wo es weiterverarbeitet und als Schmerz empfunden wird. Im Englischen heißt es „no pain, until it reaches the brain“, was bedeutet, dass nur dann Schmerz wahrgenommen wird, wenn er im Gehirn verarbeitet wird. Solange der Schmerz dem Grad der Zahnschädigung entspricht, erfüllt er seine Aufgabe als Alarmsignal. Es kann jedoch passieren, dass beim Zusammenwirken weiterer Faktoren aus einem akuten Schmerzerleben ein chronifizierter Schmerz entsteht, der die Aufgabe der Alarmfunktion verloren hat. Der Schmerz kann sich unter bestimmten Bedingungen wie Stress, Traurigkeit oder negativen Gedanken verstärken und unabhängig vom ursprünglichen Auslöser selbstständig machen. Je nach persönlicher Veranlagung können sich also aus einmaligen, aber meist wiederkehrenden, akuten Schmerzreizen chronische Schmerzen entwickeln. Die empfundenen Schmerzen sind real, da sie im Rahmen der neuronalen Schmerzverarbeitung (Nerven, Gehirn) generiert werden, auch wenn die körperliche Grundlage vielleicht nicht (mehr) in Form einer Verletzung oder Zahnschädigung vorhanden ist.

Schmerz führt immer zu einer Reihe von psychologischen Folgereaktionen, welche Gedanken, Bewertungen, Verhalten, körperliche Reaktionen und Emotionen beinhalten. Solang man den Schmerzreiz wahrnimmt (z.B. dumpf, stechend) ohne ihn gedanklich zu bewerten (z.B. mörderisch, schrecklich), wird er als weniger schlimm empfunden. Häufig jedoch treten Bewertungen ein, die sich zu umfassenden negativen Gedanken ausweiten können (z.B. „das wird nie wieder besser“). Ihre Patientin scheint sich in dieser Phase zu befinden, da sie sich aus Angst vor den Schmerzen ständig damit beschäftigt. Die Gefühle können hier eine große Bandbreite einnehmen und reichen von Resignation und Traurigkeit bis hin zu Depression oder Angstzuständen. Während Schonung, Kühlung und Ähnliches bei akuten Schmerzen durchaus eine adäquate Reaktion ist, hat dies bei chronischen Schmerzen meist keinerlei positive Auswirkungen auf die Schmerzstärke und den weiteren Verlauf. Auch Medikamente wirken nicht, da diese auf die somatische Ursache einwirken, nicht aber auf die psychische. Wahrscheinlich hat Ihre Patientin in diese Richtungen schon alles ausprobiert. Eine körperliche Reaktion der Patientin ist sicherlich eine Verspannung des gesamten Kieferbereichs, was die Problematik verstärkt. Der Körper antwortet mit der Zeit immer empfindlicher auf Reize und entwickelt eine hohe Sensibilität bezogen auf Schmerzen, was sich durch die Plastizität des zentralen und peripheren Nervensystems erklären lässt. In der Wechselwirkung all dieser Faktoren kann es dazu kommen, dass sich durch die Chronifizierung, die Ängste und die Anspannung ein ausgedehntes Schmerzgedächtnis entwickelt, dass Schmerzen generiert und wahrgenommen werden, ohne dass körperliche Auslöser vorhanden sind.

Bedeutung für die Patientin

Es ist anzunehmen, dass sich bei Ihrer Patientin der Schmerz verselbstständigt hat und kein Warnsignal für körperliche Schäden, sondern für psychische Anspannung, Überforderung und Ängste ist. Mit Unterstützung eines Psychotherapeuten und eines Schmerztherapeuten kann sie lernen, ihre persönlichen Stolperfallen zu erkennen und Alternativen zu erarbeiten. Möglicherweise können Berufsalltag und Familienleben weniger stressig gestaltet oder ihre Gedanken und Ängste durch sie selbst im therapeutischen Setting verändert werden. Eine entsprechende Empfehlung durch Ihre Zahnarztpraxis wird ihr sicherlich eher helfen als eine zusätzliche zahnmedizinische Behandlung. Nach Abklärung und Therapie der psychologischen Faktoren wird es Ihnen und Ihrem Team dann auch leichter fallen, die Kieferprobleme objektiv einzuschätzen und zu behandeln.

1 Melzack, R. and P.D. Wall, Pain mechanisms: a new theory. Science, 1965. 150(3699): p. 971–9.

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