Recht 27.03.2013
KIG kennt keine Härtefallregelung
share
Ein Beitrag von RA Michael Zach,
Experte im Bereich Zahnarzt-, Arzt- und Medizinrecht.
Bei gesetzlich versicherten Kindern mit
einer Angle Klasse II/2 kann der Konflikt entstehen, dass bei der
Therapie distaler Bisslagen eine GKV-Leistungspflicht nur noch bei
einer Rückverlagerung des UK von mehr als 6 mm besteht und
andererseits mit Blick auf Kiefergelenkserkrankungen aus
funktionellen Gründen eine Behandlung erforderlich sein kann.
Letztere wäre dann privat zu bezahlen, obwohl eine u. U.
schwerwiegende oder chronifizierte Erkrankung vorliegt oder droht.
Der Leistungsausschluss wird von den Betroffenen dann als unbillig
und von den Behandlern aus medizinischen Gründen als inadäquat angesehen.
Seit 1993 ist der Leistungsanspruch im
Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung im Prinzip auf
Minderjährige und auf jene Leistungen beschränkt, die in der
Positivliste des gemeinsamen Bundesausschusses wiedergegeben sind,
sofern die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Für
die Kieferorthopädie sind diese Rahmenbedingungen in § 29 SGB V
niedergelegt, wonach ausschließlich Minderjährige und Patienten mit
kombiniert kieferchirurgisch und kieferorthopädischem
Behandlungsbedarf in den Genuss einer GKV-Kostentragung gelangen.
© Yuri Arcurs - Shutterstock.com
Eine inhaltsgleiche Regelung findet
sich im Bereich der Beihilfe unter Nr. 1.2.3 der Anlage zur BVO
Baden-Württemberg. Für den gesetzlich versicherten Patienten legen
die Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und
Krankenkassen für kieferorthopädische Behandlungen vom 4.6.2003
(Bundesanzeiger Nr. 226, S. 24966) die kieferorthopädischen
Indikationsgruppen (KIG) fest. Darin werden zum Teil millimetergenau
jene Befundgruppen abgegrenzt, die noch der Erstattungspflicht der
gesetzlichen Kassen unterliegen sollen. Ausgegrenzte oder auch
„ausge-KIG-te“ Befundsituationen können nach
herkömmlichem Verständnis unter keinem Gesichtspunkt eine
Leistungspflicht der Krankenkasse auslösen.
Zwar hat der Gesetzgeber einen weiten
Gestaltungsspielraum bei Vornahme dieser Abgrenzung insbesondere auch
vor dem Hintergrund chronisch angespannter Haushaltslage. Tatsächlich
ist die Begrenzung der kieferorthopädischen Leistungspflicht auf
Minderjährige wiederholt als verfassungsgemäß eingestuft worden
(VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 2.5.2012, 2 S 2904/10). Zur
Abgrenzung derartiger Sachverhalte darf der Gesetzgeber sich einer
solchen Stichtagsregelung bedienen. Sachlicher Hintergrund hierfür
ist die Erwägung, dass idealerweise die kieferorthopädische
Behandlung vor Abschluss des Körperwachstums aus medizinischen
Gründen begonnen werden soll. Allerdings wurde dieser Grundsatz vom
VGH Baden-Württemberg (s.o.) in einer Beihilfekonstellation
durchbrochen, in der eine erwachsene Patientin unter einer schweren
cranio-mandibulären Dysfunktion (CMD) litt. Das Gericht hielt in
diesem Ausnahmefall („Skel. Kl. 1, mand. Verschiebung nach rechts,
Biss abgesackt durch fehlende dorsale Abstützung“) ausschließlich
die Bewilligung einer kieferorthopädischen Leistung für
ermessensgerecht und vertrat den Standpunkt, die erfolgte
Kostenversagung verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des
Art. 3 Abs. 1 GG. Das Gericht verwies darauf, dass eine
Behandlungsalternative zur kieferorthopädischen Therapie hier nicht
bestand, dass im Falle der Versagung der Kostenerstattung und der
Behandlungsdurchführung mit erheblichen Folgeproblemen zu rechnen war und dass eine sogenannte
sekundäre Anomalie vorlag, die erst im Erwachsenenalter erworben
worden war.
Hier löste sich das Gericht von der
sonst ausnahmslos durchgehaltenen Linie, wonach eine
kieferorthopädische Behandlung ausschließlich bei minderjährigen
Patienten seitens der Beihilfestelle zu tragen sei. Rechtsgrundlage
hierfür war eine in der Beihilfeverordnung vorgesehene
Härtefallregelung (§ 5 Abs. 6 BVO BW), die im Bereich des
Sozialrechtes nicht vorhanden ist.
Ob eine solche Durchbrechung auch für
den Bereich des Sozialrechtes im Einzelfall infrage kommen kann,
erscheint höchst zweifelhaft, da die sozialrechtliche Rechtsprechung
eine anderweitige Lösungsoption krasser Konfliktfälle vorgesehen
hat: Nur wenn die Versagung einer sozialrechtlichen Kostentragung
eine lebensbedrohliche und in der Regel tödlich verlaufende
Krankheit betrifft, für deren Behandlung keine dem medizinischen
Standard entsprechende Leistung in der GKV besteht, kann dennoch eine
Kostentragung durch die gesetzliche Krankenkasse in Betracht kommen
(Bundesverfassungsgericht, sog. Nikolausbeschlüsse vom 6.12.2005, –
1 BvR 347/98).
Bei kieferorthopädischen Befunden
dürften aber kaum jemals existenzbedrohliche Erkrankungen anzunehmen
sein. Zwar sind Konstellationen bekannt, in denen aufgrund einer
CMD-Erkrankung Berufsunfähigkeitsrenten bewilligt wurden (DRV
13050763C031) oder auch orthopädisch und psychologisch vermittelte
Folgeerkrankungen infolge einer unterbliebenen, unzureichenden oder
mangelhaften zahnärztlichen Behandlung aufgetreten waren
(Landesgericht Wels, Urt. v. 4.9.2006, 4 Cg 133/02 d-102). Auch mag
die Frage aufgeworfen werden, ob chronische Schmerzen dentaler Genese
mit ihren orthopädischen und psychiatrischen Manifestationen nicht
insgesamt den Patienten in seiner Existenz bedrohen können.
Allerdings würde eine solch exzessive Anwendung der zitierten
sozialgerichtlichen Rechtsprechung zu einer Umkehrung von Regel und
Ausnahme führen, die so von der Rechtsprechung sicher nicht gewollt
ist und getragen werden würde.
Die sozialrechtliche Regelung ist
insofern starr und enthält keine Härtefallklausel, die es
beispielsweise bei schwerwiegender CMD-Erkrankung ausnahmsweise den
Krankenkassen ermöglichen würde, Behandlungskosten zuzusagen, wenn
keine der KIG-Indikationsgruppen zu bejahen ist. In einer anderen
Konstellation lag eine Klasse II/2 bei einer minderjährigen
Patientin mit Kiefergelenkbeschwerden vor, wo die Berater von PKV und
GKV uneins waren, ob ein traumatischer Tiefbiss mit Gingivakontakt im
Sinne von D2 der KIG-Richtlinien vorlag oder nicht. Der gerichtlich
bestellte Sachverständige teilte die Einschätzung des Behandlers
und das Amtsgericht verurteilte die private Krankenzusatzversicherung
zur tariflichen Kostentragung der mit 3.949,71 € kalkulierten
Behandlungskosten. Dieser Fall zeigt, dass es für die
Indikationsgruppeneinstufung ausschließlich auf die in der
Richtlinie festgelegten Kriterien ankommt und eine CMD oder
Kiefergelenkbeschwerden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht zu
berücksichtigen sind (Amtsgericht Bonn, Urt. v. 3.1.2013, 110 C
128/11).