Implantologie 02.08.2023
Vestibulumplastik als Schnittstelle zwischen Chirurgie und Prothetik
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Die Vestibulumplastik entstammt in ihren Ursprüngen der präprothetischen Chirurgie zur Verbesserung des Prothesenlagers bei Ober- oder Unterkiefer-Totalprothesen.1 Dabei ist die ausgedehnte Präparation des Vestibulums im Oberkiefer bzw. die totale Mundbodenplastik im Unterkiefer und Abdeckung mittels freier Schleimhauttransplantate vom Gaumen oder aus dem Planum bukkale eher in den Hintergrund getreten.2 Dies liegt wesentlich an der verbesserten Verankerungsmöglichkeit von Zahnersatz an Implantaten in den letzten 30 bis 40 Jahren.3, 4
Insbesondere bei kombiniert festsitzend-herausnehmbarem Zahnersatz stellt die Vestibulumplastik eine notwendige Ergänzung zum Behandlungserfolg dar. Die Indikation in diesen Fällen ergibt sich durch:
a) Beseitigung von einstrahlenden Bändern und beweglicher Schleimhaut an Implantaten
b) Herstellung von „abdichtenden“ Ventilrändern bei Cover-Denture-Prothesen mit wenigen Implantaten
c) Verbesserung der Schleimhautsituation nach Augmentationen
d) Rückverlagerung des Vestibulums nach plastischer Deckung infolge Kieferhöhleneröffnung
Eine Arbeitsgruppe der Berner Universitätsklinik5 hat sich die Mühe gemacht, eine Klassifikation zur Verbreiterung der keratinisierten Gingiva periimplantär zu erarbeiten. Da wir uns hier auf die Versorgung von problematischen Alveolarkammsituationen und deren Implantatversorgungen und nicht auf das Einzelzahnimplantat fokussieren wollen, spielen für uns drei Therapieoptionen eine Rolle:
1) Ist eine kleinere Vestibulumplastik ohne Transplantat ausreichend?
2) Bedarf es einer ausgedehnteren Vestibulumplastik, die die Abdeckung mit einem freien Schleimhauttransplantat vom Gaumen (FST) erfordert?
3) Ist eine Senkung der Morbidität einer ausgedehnteren Vestibulumplastik unter Verwendung einer Membran z. B. gewünscht?
Diese Fragestellungen sollen am Beispiel von drei präsentierten Fällen erörtert werden.
Fall 1: Vestibulumplastik ohne auto- oder xenogenes Transplantat
Bei dem damals 79-jährigen Patienten mussten 2018 nach der Abnahme der Kronen 15 bis 17 die Zähne wegen extremem Kariesbefall gezogen werden. Bei der operativen Entfernung ging bukkal die Knochenwand der Alveole teilweise verloren. Zum Erhalt des Alveolarkamms für die konsekutive Implantation wurde simultan zur Osteotomie ein Gitternetz inseriert und mit Osteosyntheseschrauben fixiert (Abb. 1). Auf eine Knochentransplantation wurde wegen der zu erwartenden Abheilung der Alveolen verzichtet und lediglich eine plastische Deckung mit einem Rehrmann-Lappen vorgenommen.
Nach ca. vier Monaten entfernen wir in der Regel das Titan-Mesh, da sonst mit konsekutiven Gingivadehiszenzen bei der plastischen Deckung eine „Durchwanderung des Osteosynthesematerials durch die Schleimhaut“ zu beobachten ist (Abb. 2).6 Die Implantation konnte simultan zur Gitternetzentfernung vorgenommen werden. Die drei Monate später durchgeführte Freilegung der Implantate wurde mit einer kleineren Vestibulumplastik ohne Abdeckung durch ein auto- oder xenogenes Transplantat kombiniert (Abb. 3). Das Fehlen einer suffizienten Zone von keratinisierter Mukosa um Implantate herum, kann für die Entstehung einer Periimplantitis verantwortlich sein.7 Deshalb ist im Praxisalltag des Autors nach umfangreicheren Alveolarkammaugmentationen und/oder Weichgewebsplastiken eine Vestibulumplastik obligat. Bei festsitzendem Zahnersatz mit Kronen und Brücken reicht zur Erzielung eines 1 bis 1,5 mm Gewinns Attached Gingiva unserer Erfahrung nach eine epiperiostale Rückverlagerung der Mukosa mit Nahtfixation ins Vestibulum (Abb. 3). Die offene Wunde wird dann der freien Granulation überlassen. Anhand der zahntechnischen „Gingivamaske“ des Gipsmodells ist der Gingivawulst um die Implantate gut zu sehen. Im Abschluss-OPG sind die inserierten 12 mm langen Implantate auch in Regio 16 und 15 gut erkennbar (Abb. 4).
Fall 2: Vestibulumplastik mit freiem Schleimhautransplantat vom Gaumen
Unserer Einschätzung nach erfreut sich diese Methodik in der zahnärztlichen Praxis zunehmend geringerer Beliebtheit, weil die Entnahme von Gaumentransplantaten intra- und postoperativ mit Blutungskomplikationen einhergehen kann. Der Autor verwendet aus diesem Grund eine aus dem Operationssaal entlehnte bipolare Pinzette (Elektrotom ICC 50), mit der subtil Blutstillung betrieben werden kann. In selteneren Fällen kann es auch notwendig sein, eine mit Osteosyntheseschrauben palatinal fixierte Verbandsplatte einzugliedern (Abb. 5). Diese hat außerdem den Vorteil, die Transplantate auf die Unterlage zu pressen und damit die Einheilung sicherzustellen. Die Schrauben können nach zehn bis 14 Tagen relativ problemlos sogar ohne Lokalanästhesie herausgedreht werden.
Bei der damals 61-jährigen Patientin war es 2009 zu einem Zusammenbruch der weitspannigen Brückenkonstruktion im Oberkiefer gekommen (Abb. 6), sodass eine gaumenfreie, steggetragene Oberkieferprothese auf vier Implantaten im anterioren Bereich geplant wurde. Für den Halt der Interimsprothese wurden übergangsweise die Zähne 16, 14 und 26 als Anker für die individuell gebogenen Klammern belassen. Nach dreimonatiger Einheilung der Implantate sollten die Restzähne extrahiert werden, wobei es trotz schonender Extraktion des Zahns 26 zu einer breitflächigen Eröffnung der Kieferhöhle (MAV) kam, die plastisch durch einen Rehrmann-Lappen gedeckt werden musste (Abb. 7). Wie in dem intraoralen Foto erkennbar, stellte sich eine deutliche Verziehung des Vestibulums ein, sodass wir zunächst von einer kompletten Freilegung der Implantate absahen.
Da wir eine solide Schleimhautsituation als Grundlage für den Langzeiterfolg der Implantate und einer Prothese sehen, wurde sich für eine Vestibulumplastik mit FST vom Gaumen (Abb. 8) entschieden. Angesichts des damals noch bestehenden Nikotinkonsums von ca. zehn Zigaretten/Tag erschien dieses Vorgehen mit einem körpereigenen Transplan-tat sicherer als durch künstliche Membranen. Zugegebenermaßen verzögerte sich dadurch die Versorgung mit der endgültigen Prothese um sechs Monate (drei Monate Abheilung der plastischen Deckung sowie drei Monate Einheilung des FST; Abb. 9). In vielen ausführlichen Gesprächen mit Patienten wurde vom Autor die Erfahrung gemacht, dass durchaus der Sicherheits- gegenüber dem Komfortaspekt überwiegt, und dies bei entsprechender Patientenführung auch durchgesetzt werden kann. Begleitend in dieser Phase kam die Diagnose eines Basalzellkarzinoms im Mundwinkelbereich links hinzu (Abb. 10). Dieser Fall illustriert recht eindrucksvoll, dass bei der Herstellung von Zahnersatz die Schleimhaut- und gelegentlich auch die periorale Hautsituation in das zahnärztlich-prothetische Handeln mit hineinspielen können (Abb. 11 und 12). Da der Autor über eine Qualifikation als Facharzt für MKG-Chirurgie/Plastische Operationen verfügt, konnte das Basalzellkarzinom im Mundwinkelbereich in seiner Praxis entfernt werden (Anm. d. Red.).
Die Ausgestaltung der Prothese konnte dem ausdrücklichen Wunsch der Patientin entsprechend sehr individuell vorgenommen werden, sodass eine möglichst natürliche Optik erzielt wurde (Abb. 13 und 14).
Fall 3: Vestibulumplastik mit künstlicher Membran
Bei dem 82-jährigen zahnärztlichen Kollegen mussten infolge therapierefraktärer Periimplantitis die Implantate in Regio 34 und 35 entfernt werden (Abb. 15). Nun war der Patientenwunsch, die Funktion der bestehenden steggetragenen Unterkieferteilprothese möglichst genauso wiederherzustellen wie zuvor. Deshalb wurde nach knöcherner Konsolidierung in den selben Regionen nachimplantiert (Abb. 16). Da sich infolge der Alveolarkammatrophie bukkal bewegliche Mukosa zeigte, wurde bei der Freilegung gleichzeitig eine Vestibulumplastik durchgeführt, im Gegensatz zu anderen Autoren, die bereits im Rahmen der Implantation dieses Vorgehen empfehlen.8 Anhand der fotografischen Dokumentation lässt sich das von uns praktizierte Vorgehen veranschaulichen. Nach der epiperiostalen Präparation mit Skalpell und Ginigivektomienadel wird der bukkale Lappen durch unterminierende Präparation ausgedünnt, da sich sonst postoperativ schnell durch die vorwölbende Wundlefze eine Furche bildet, in der sich Speisereste einlagern.
Zum anderen kommt es in der Tiefe des präparierten Vestibulums zur Adhäsion der Mukosa an den Alveolarkamm, mit verstärkter Narbenbildung und Verschlechterung des operativen Outcomes. Deshalb wird der Lappen mit resorbierbaren Fäden der Stärke 6/0 zusätzlich in der Tiefe fixiert (Abb. 17). Zur Verminderung der postoperativen Morbidi-tät wurde auf die Entnahme eines Gaumentransplantats verzichtet. Zum Einsatz kam eine Membran (Mucograft®, Geistlich Biomaterials).9 Diese Membran wurde auf das Periost und die Wundränder aufgesteppt (Abb. 18). Nach drei Monaten ist eine ausgereifte periimplantäre Attached Gingiva ausgebildet (Abb. 19), die sich straff an die polierten Schultern des Tissue-Level-Implantatyps anlagert.
Fazit
Vestibulumplastiken in abgestuftem Ausmaß sind integraler Bestandteil der von uns praktizierten Implantatprothetik. Unserem Konzept „Alles aus einer Hand“10 folgend, werden im Rahmen bei der Freilegung der Implantate auch die Vestibulumplastiken durchgeführt. Bei festsitzender Kronen-Brücken-Prothetik auf Implantaten genügt es zumeist, die Mukosa zurückzuverlagern. Beim festsitzend-herausnehmbaren Zahnersatz auf Implantaten spielen die Vestibulumplastiken in doppelter Hinsicht eine wichtige Rolle. Erstens trägt ein straffe periimplantäre Attached Gingiva zum Langzeiterfolg der Implantate bei, zweitens werden durch ein ausgeformtes Vestibulum ungünstige Kippmomente auf die Prothesen vermieden. Bei erhöhten perioperativen Risiken wie Blutungsneigung, Lebensalter oder sonstige kann statt eines Gaumentransplantats auch eine künstliche Membran für Patienten nutzbringend eingesetzt werden.
Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.
Dieser Beitrag ist im IJ Implantologie Journal erschienen.