Oralchirurgie 05.11.2024

Die Relevanz von Vitamin D bei der Weisheitszahnentfernung



Die Relevanz von Vitamin D bei der Weisheitszahnentfernung

Foto: evso – stock.adobe.com

Der Beitrag gibt einen Überblick über den therapeutischen Stellenwert von Vitamin D in der Zahnheilkunde und analysiert anhand der vorhandenen Literatur den Einfluss auf den postoperativen Verlauf nach operativer Weisheitszahnentfernung.

Das fettlösliche Hormon Vitamin D3 (Cholecalciferol) spielt eine Rolle bei einer Vielzahl von Prozessen im Körper und ist nicht nur für den Knochenstoffwechsel im Rahmen der Calciumhomöostase, sondern auch für ein gesundes Immunsystem essenziell.1–4 In den letzten Jahren konnte der Zusammenhang zwischen einem niedrigen Vitamin-D-Spiegel und Osteoporose, Diabetes mellitus, kardiovaskulären Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen sowie Lungen-, Brust- und Darmkrebs hergestellt werden.5–7

Die Vitamin-D-Versorgung erfolgt bei regelmäßigem Aufenthalt in der Sonne zu 80 bis 90 Prozent über die endogene Synthese in der Haut. Nur 10 bis 20 Prozent werden über die Nahrung aufgenommen.8 Mittels UV-B-Strahlung (290 bis 315 nm) des Sonnenlichts wird Cholecalciferol aus dem Provitamin D3 (7-Dehydrocholesterin) in der Haut synthetisiert. Dieses wird zunächst in der Leber (25[OH]D3, 25-Hydroxycholecalciferol) und anschließend in der Niere in die biologisch aktive Form Calcitriol (1,25[OH]2D3, 1,25-Dihydroxy-cholecalciferol) hydroxyliert.2, 5 Das Enzym CYP27B1, das die Hydroxylierung von 25(OH)D3 in 1,25(OH)2D3 vornimmt, ist nicht nur in der Niere, sondern auch in Makrophagen und Monozyten vorhanden.9

Abb. 1: Endogene Calcitriolsynthese. Zunächst wird 7-Dehydrocholesterin durch UV-B-Strahlung zu Cholecalciferol synthetisiert. Anschließend erfolgt eine zweifache Hydroxylierung zu 1,25-Dihydroxycholecalciferol bzw. Calcitriol. © Dr. Melina Rausch, Prof. Dr. Dr. Eik Schiegnitz, Univ.-Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas, Prof. Dr. Matthias Kreisler

Das aktive Vitamin D (Calcitriol) löst über den intrazellulären Vitamin-D-Rezeptor (VDR) mehrere metabolische Reaktionen aus.10 Calcitriol erhöht den Calcium- und Phosphatspiegel im Serum und fördert so den Knochenauf- und -umbau. Die Erhöhung des Calciumspiegels wird durch vermehrte intestinale Calciumresorption, erhöhte renale Absorption und über die Aktivierung des RANKL durch eine gesteigerte Mobilisation aus den Knochen realisiert. Die mineralisierende Wirkung von Calcitriol überwiegt jedoch, indem es inhibierend auf Interleukine (IL-6, IL-8), die Osteoklasten aktivieren, wirkt.2, 3, 7 Calcitriol hat durch seine antimikrobiellen und antientzündlichen Eigenschaften, z. B. über die Regulation proinflammatorischer Zytokine, ebenfalls einen Einfluss auf die Immunantwort.7

Zur Bestimmung des Vitamin-D-Spiegels im Serum wird eine Vorstufe von Calcitriol, 25-Hydroxycholecalciferol, mit einer Halbwertszeit von zwei bis sieben Wochen herangezogen.9 Nach der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS) von 2011 haben mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland einen Serumspiegel unterhalb des Schwellenwerts von 40 nmol/l bzw. 20 ng/ml. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) sieht einen Wert von ≥ 50 nmol/l als optimal und Werte unter 30 nmol/l bzw. 12 ng/ml als Mangelsituation an.5, 8, 11 Andere Autoren geben mit 75–100 nmol/l bzw. 30–50 ng/ml deutlich höhere Werte als Optimum an.6, 10 Hier kann also keine generell gültige Empfehlung bezüglich des optimalen Vitamin-D-Spiegels ausgesprochen werden. Circa 60 Prozent der deutschen Bevölkerung weisen einen Vitamin-D-Wert von unter 50 nmol/l auf und sind somit nicht optimal versorgt.11 Vor allem im Herbst und Winter ist die endogene Vitamin-D-Synthese in nördlichen Breitengraden ungenügend. Auch die über die Nahrung aufgenommene Menge an Vitamin D, z. B. durch fettigen Fisch, Eier und Speisepilze, entspricht nicht den Ernährungsempfehlungen von 20 μg bzw. 800 IE pro Tag.5, 8 Folglich können eine Supplementierung in Form von Nahrungsergänzungsmitteln oder mit Vitamin D angereicherte Lebensmittel (z. B. Milch) notwendig sein.8 Bei einer oralen Überdosierung im Sinne einer Hypervitaminose kann es jedoch zu einer Hyperkalziämie, Nephrokalzinose oder Nierensteinen kommen.2, 10

Abb. 2: Mögliche Interpretation des Vitamin-D-Spiegels (25[OH]D3). Die DGE sieht im Gegensatz hierzu Werte von ≥ 50 nmol/l bereits als optimal an. Bezüglich des Vorliegens einer Mangelsituation stimmt die DGE mit den hier gezeigten Werten von 30 nmol/l bzw. 12 ng/ml überein (modifiziert nach botissCARE Produktinformation). © Dr. Melina Rausch, Prof. Dr. Dr. Eik Schiegnitz, Univ.-Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas, Prof. Dr. Matthias Kreisler

Vitamin D in der Zahnmedizin

Das aktive Vitamin D (Calcitriol) hat einen signifikanten Einfluss auf Immunprozesse, indem es eine antientzündliche und antimikrobielle Wirkung besitzt.4, 12 Über die Inhibition der Produktion proinflammatorischer Zytokine in gingivalen Fibroblasten, wie IL-6 und IL-8, und die Beeinflussung von T- und B-Lymphozyten, spielt Calcitriol eine Rolle in akuten Entzündungsreaktionen und somit in der spezifischen Immunabwehr.7 Die Regulierung der unspezifischen Immunantwort erfolgt durch die Aktivierung der Synthese antimi-krobieller Peptide (z. B. Defensine) über Vitamin-D-Rezeptoren (VDR). Diese Rezeptoren lassen sich in Keratinozyten, Monozyten, Makrophagen, antigenproduzierenden Zellen und B-/T-Lymphozyten finden.7, 9 Das aktive Vitamin D beeinflusst außerdem den Leitkeim der Parodontitis: Porphyromonas gingivalis.12, 13 Calcitriol inhibiert zum einen das Wachstum von P. gingivalis, die von P. gingivalis induzierte IL-8- und TNF-a-Sekretion sowie die durch P. gingivalis induzierte Aktivierung des NF-κB Signalwegs, der eine bedeutende Rolle in chronischen Entzündungen spielt.12, 13 Diese Vorgänge sind für die Chemotaxis von Immunzellen und den Knochenverlust bei Parodontitis verantwortlich.7, 13

Mehrere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass ein niedriger Vitamin-D-Spiegel mit Gingivitis bzw. Schwangerschaftsgingivitis und klinischem Attachmentverlust korreliert sein kann.4, 14 Bei parodontalchirurgischen Eingriffen wirkt sich ein suffizienter Vitamin-D-Spiegel positiv auf das Behandlungsergebnis aus. Es konnten ein höherer Attachmentgewinn und verminderte Sondierungstiefen festgestellt werden.14 Des Weiteren kann ein optimaler Vitamin-D-Serumspiegel eine positive Auswirkung auf die Osseointegration von Implantaten sowie die Geweberegeneration haben.4, 14 Auch bezüglich der Mundschleimhautgesundheit bringt ein suffizienter Vitamin-D-Spiegel Vorteile. Bei Patienten mit rekurrierenden Aphthen wurde ein signifikant niedrigerer Vitamin-D-Spiegel im Serum festgestellt als bei der gesunden Kontrollgruppe gleichen Alters und Geschlechts.15

Tab. 1: Aktuelle Studienlage zum Thema Vitamin D bei der operativen Weisheitszahnentfernung. © Dr. Melina Rausch, Prof. Dr. Dr. Eik Schiegnitz, Univ.-Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas, Prof. Dr. Matthias Kreisler

Bezüglich des Stellenwerts des Vitamin-D-Spiegels in der Implantologie gibt es einige Studien, die einen positiven Effekt aufzeigen. Die Studienlage ist allerdings nicht eindeutig.16, 17 Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass ein suffizienter Vitamin-D-Spiegel das frühzeitige Verlustrisiko vermindern und die Osseointegration fördern kann.7, 17 Bei der Untersuchung des postoperativen Knochenniveaus an Implantaten konnte eine signifikant höhere Knochenapposition bei Patienten mit einem suffizienten Vitamin-D-Spiegel nachgewiesen werden.18 Parallel zu den Ergebnissen bezüglich der Parodontitis zeigen Studien signifikant geringere Vitamin-D-Spiegel bei Patienten mit Periimplantitis im Vergleich zu Patienten mit einer Perimukositis bzw. gesunden Gingiva.19 In der randomisierten, doppelt verblindeten und Placebo-kontrollierten Studie von Schulze-Späte et al. wurde der Einfluss der Vitamin-D-Supplementierung auf das Knochenremodeling nach externem Sinuslift untersucht. Es konnten zwar keine statistisch signifikanten Unterschiede festgestellt werden, jedoch eine erhöhte Osteoklastenaktivität in der Gruppe, die eine Substitution erhielt, was auf einen erhöhten Knochenumbau deuten kann.20 Analog zu dem großen Interesse im Bereich der Implantologie gibt es zur einfachen Vitamin-D-Testung im Praxisalltag bereits Testkits von einem Implantathersteller (z. B. botissCARE Rapi-DTM, Straumann) auf dem Markt, die einen Wert ab ≥ 30 ng/ml bzw. 75 nmol/l als optimal angeben. Auch in der aktuellen S2k-Leitlinie Implantologische Indikation für die Anwendung von Knochenersatzmaterialien wird der mögliche negative Einfluss eines niedrigen Vitamin-D-Spiegels erwähnt.21

Aktuelle Studienlage zum Thema Weisheitszahnentfernung

Die Datenbanken PubMed und Cochrane Central Register of Controlled Trials (CENTRAL) wurden nach der relevanten Literatur durchsucht. Sprachliche, regionale oder zeitliche Einschränkungen wurden nicht vorgenommen. Folgende Begriffe wurden zur Suche herangezogen: „Vitamin D“ and „third molar surgery“, „cholecalciferol“ and „third molar surgery“, „vitamin D“ and „wisdom teeth removal“, „cholecalciferol“ and „wisdom theeth removal“, „vitamin d“ and „third molar extraction“, „cholecalciferol“ and „third molar extraction“, „vitamin d“ and „removal wisdom teeth“, „vitamin d“ and „removal third molar“, „cholecalciferol“ and „removal third molar“, „cholecalciferol“ and „removal wisdom teeth“. Es wurden lediglich zwei Artikel identifiziert.

Der erste Artikel wurde von Oteri et al. im Jahre 2016 publiziert und ist eine randomisiert kontrollierte Studie.22 Im Rahmen eines einfach verblindeten Split-mouth-Designs wurde die klinische Auswirkung einer Einmalgabe von Vitamin D vor der Weisheitszahnentfernung im Unterkiefer bei 25 erwachsenen Patienten mit einem Vitamin-D-Mangel (≤ 30 ng/ml) auf Entzündungsparameter untersucht. Alle Zähne konnten nach der Pell und Gregory-Klassifikation in Klasse II B und II C eingeteilt werden, die Extraktionsgründe waren perikoronale Infektionen, Karies und kieferorthopädische Gründe. Bei jedem Patienten wurden die Weisheitszähne beidseitig entfernt, die erste Seite (Kontrollgruppe) wurde mit der präoperativen Gabe eines Placebos durchgeführt, die zweite Seite (Testgruppe) mit der Verabreichung einer Einmalgabe von 300.000 IE Cholecalciferol vier Tage präoperativ. Klinische Parameter (Schmerz, Schwellung und Funktionseinschränkung) sowie Laborwerte wurden vier Tage präoperativ, direkt postoperativ, drei und sieben Tage postoperativ erhoben. Der Schwellungsverlauf wurde mittels Maßband und zuvor festgelegter Messpunkte (Tragus-Mundwinkel, Tragus-Pogonion) ermittelt, die Schmerzintensität mittels VAS-Score festgehalten. Es zeigten sich eine signifikant reduzierte Schwellung sowie signifikant reduzierte Entzündungsparameter IL-1, IL-6, TNF-a in der Testgruppe. Bezüglich der Schmerzen konnten zwar keine signifikanten Unterschiede, jedoch leicht geringere Werte in der Versuchsgruppe festgestellt werden.22

Mameledzija et al. untersuchten im Jahre 2022 in Form einer Pilotstudie den Einfluss der Vitamin-D-Serumkonzentration bei der Entfernung retinierter bzw. teilretinierter Weisheitszähne.9 In die Studie wurden 23 erwachsene Patienten eingeschlossen, bei denen Weisheitszähne aufgrund einer folgenden kieferorthopädischen Behandlung oder bestehender Schmerzen entfernt werden sollten. Untersuchte Parameter waren Schwellung, Trismus, Schmerzen, Weichgewebsheilung und Zeichen einer trockenen Alveole. Aufgrund der hohen Prävalenz des Vitamin-D-Mangels (91 Prozent) wurde eine Dichotomie der Patienten in einen unzureichenden (≥ 20 ng/ml) und mangelhaften (< 20 ng/ml) Status vorgenommen. Patienten mit hämorrhagischen Diathesen, instabilem Diabetes mellitus, unter Antikoagulanzien-, Bisphosphonat-, Chemo- oder Radiotherapie sowie Patienten mit der Einnahme von Immunsuppressiva wurden ausgeschlossen. Ebenfalls exkludiert wurden Schwangere oder stillende Mütter sowie Patienten, die bereits Vitamin D supplementieren. Präoperativ wurden Cholecalciferol (25 [OH]D), Parathormon und freies Calcium im Serum gemessen. Die OP-Dauer und der subjektiv empfundene Schwierigkeitsgrad wurden vom Operateur festgehalten. Postoperativ wurde den Patienten Amoxicillin vier Mal täglich für acht Tage, Ibuprofen und Chymoral verordnet. Zur Evaluation der Schwellung wurden die Werte bzw. Abstände Tragus-Pogonion sowie Tragus-Mundwinkel präoperativ, am dritten postoperativen sowie am zehnten postoperativen Tag mittels Maßband festgehalten. Präoperativ wurden Cholecalciferol (25 [OH]D), Parathormon und freies Calcium im Serum gemessen. Der Mittelwert des gemessenen Vitamin-D-Spiegels lag bei 21,5 ng/ml. Die postoperativen Schmerzen wurden mittels Visual Analogue Scale (VAS) und Anzahl der eingenommenen Analgetika evaluiert. Es konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Gruppen festgestellt werden. Lediglich die Parameter Schwellung und Trismus zeigten leicht verminderte Werte in der Patientengruppe mit einem unzureichenden Vitamin-D-Status.9

Bei der kritischen Betrachtung beider Studien ist zunächst festzuhalten, dass beide nur eine sehr geringe Anzahl an Patienten untersuchten. In der Studie von Mameledzija et al. könnte das Fehlen eines positiven Effekts des Vitamin D auf die hohe Prävalenz des Vitamin-D-Mangels der Patienten (91 Prozent) und die Abwesenheit einer ausreichend großen Testgruppe mit einem optimalen Vitamin-D-Serumspiegel zurückzuführen sein.9 Die Messung mittels Maßband und dermalen Messpunkten kann fehlerbehaftet und nicht objektiv sein. Hier könnte eine digitale Analyse mittels 3D-Scanner eine moderne und objektivierbare Lösung sein.23

Fazit

Der Einfluss von Vitamin D ist seit einigen Jahren Bestandteil vieler zahnmedizinischer Untersuchungen und wurde bereits hinsichtlich mehrerer Fragestellungen untersucht. Es ist möglich, dass die präoperative Supplementierung von Vitamin D bei einem vorhandenen Vitamin-D-Mangel, die Gewebeheilung nach chirurgischen Eingriffen fördert und postoperative Beschwerden, wie Schwellungen, lindert. Außerdem können positive Effekte auf die Implantateinheilung und Parodontitistherapie aufgezeigt werden. Obwohl in Deutschland jährlich über eine Millionen Weisheitszähne entfernt werden, fällt bei der Literaturrecherche vor allem die defizitäre Studienlage bei Weisheitszahnentfernungen im Vergleich zu implantologischen und parodontalchirurgischen Eingriffen auf. In weiteren, groß angelegten prospektiven Studien könnte der Einfluss des Vitamin-D-Spiegels auf das postoperative Outcome nach Weisheitszahnentfernungen besser untersucht werden. Fokus könnte vor allem auf den Aspekt der potenziellen Schmerzlinderung gelegt werden, der durch die Suppression der Prostaglandin-E2-Synthese erklärt werden könnte.1 Somit könnten durch präoperative Vitamin-D-Bestimmung und anschließende Substitution, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt, ein besseres Ergebnis und eine höhere Patienzufriedenheit erzielt werden.

zur Literaturliste

Dieser Artikel ist im OJ Oralchirurgie Journal erschienen.

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