Patienten 02.10.2017

Problempatienten mit stomatognath-fixierter psychogener Störung



Problempatienten mit stomatognath-fixierter psychogener Störung

Foto: Andrei_R – shutterstock.com

Teil 2

Dieser Beitrag beschreibt Gemeinsamkeiten und Charakteristika von Patienten mit einer speziellen manifesten psychischen bzw. psychosomatischen Störung. Die Intention als zahnärztlicher Autor ohne besondere psychologische oder psychiatrische Ausbildung liegt dabei auf einer eher deskriptiven Darstellung von Auffälligkeiten dieser Patienten, aus der möglicherweise für Kollegen Rückschlüsse für den besseren Umgang mit diesen Patienten in der Praxis bzw. Hinweise auf eine bessere Früherkennung und Negativselektion erfolgen können. Die dargestellten Sachverhalte und Überlegungen basieren auf den eigenen persönlichen Erfahrungen als eher exponierter Spezialist für Funktion und Ästhetik der DGÄZ.

Vorbehandler

Der über viele Jahre kontinuierlich erfolgte Wechsel des Zahnarztes ist einer der deutlichsten Hinweise auf das Vorliegen einer psychischen Ursache. Sobald ein Patient angibt, eine laufende Behandlung sei in der provisorischen Phase abgebrochen worden oder ein vor nicht allzu langer Zeit eingegliederter Zahnersatz sei mangelhaft, ist gezielt und vollständig die Liste der Vorbehandler abzufragen. Generell scheuensich viele Patienten davor, einen Vorbehandler zu benennen, mit dem sie nicht zufrieden waren.

Besteht der Verdacht auf eine psychische Komponente, so ist es ratsam, eine Behandlung zu verweigern, sofern nicht die gesamte Vorgeschichte offengelegt wird. In einem meiner Fälle stellte sich im Nachhinein heraus, dass bereits 24 zum Teil bekanntermaßen hochkompetente Kollegen erfolglos am Werke gewesen waren. Auch ist wichtig, zu erfahren, welche Behandlungen vom Zahnarzt bzw. vom Patienten abgebrochen worden waren und aus welchen Gründen.

Funktion und Ästhetik – Zwangsstörung

Die von den Patienten als untragbar empfundenen Zustände liegen zum großen Teil in den Bereichen Funktion und/oder Ästhetik. Funktion im weitesten Sinn umfasst dabei neben der Okklusion und Kaufunktion auch die Phonetik, das Lippen-, Zungen- und Mundgefühl und alles, was vom Patienten als störend und unangenehm angegeben wird. Eine Patientin war darauf fixiert, dass der Luftstrom palatinal an einem oberen Frontzahn einen bestimmten Widerstand aufweisen müsse, weil das für das Gesangshobby von entscheidender Bedeutung sei, was offensichtlicher Unsinn ist. Es kann vorkommen, dass sich eine Restauration oder auch nur eine Stelle im Mund als derart störend für die Zunge manifestiert, dass es die Patienten an nichts anderes mehr denken lässt. Die Ausbildung solcher Probleme weist sehr große Ähnlichkeit mit anderen Zwangsstörungen auf, die zu den häufigsten psychischen Störungen überhaupt zählen. Dabei entsteht eine negative Spirale, bei der durch die zwangsweise häufige mentale Beschäftigung oder dem ständigen Ertasten der Störstelle (mit Lippe oder Zunge) die Filterschwellen herabgesetzt werden und sich die Missempfindung verstärkt bzw. neuronal einprogrammiert. Ähnlich wie das Gehör zur Vermeidung einer Reizüberflutung viele Störgeräusche und Grundrauschen herausfiltert, so werden auch die meisten Empfindungen im Mund normalerweise ausgeblendet. Das stomatognathe System ist ein extrem fein kalibriertes, nerval gesteuertes, kybernetisches System mit hochempfindlichen Sensoren, die allerdings normalerweise nicht auf jeden Reiz ansprechen. So wird es zum Beispiel nicht wahrgenommen, ob eine Wangentasche größer ist als die andere. Genau solches sind aber typische Angaben von Patienten mit der beschriebenen Störung.

Im Bereich der Ästhetik findet der gleiche Prozess statt. Die Aufmerksamkeit wird auf ansonsten unerhebliche Details fixiert, eine feste Zwangsvorstellung etabliert, eine Zufriedenheit nie erreicht. Dies kann sich z.B. in einem übersteigerten Perfektions- und Symmetriebedürfnis manifestieren oder im Wunsch, dass sich eine Restauration überhaupt nicht mehr von dem natürlichen Vorbild unterscheiden darf.

Allgemeine psychische Störungen und Belastungen

Statistiken belegen, dass psychische Erkrankungen verhältnismäßig häufig auftreten. Andererseits ist dieser Bereich in unserer Gesellschaft stark stigmatisiert und tabuisiert. Die Häufigkeit der Angaben psychischer Störungen auf den zahnärztlichen Anamnesebögen steht nicht in Verhältnis zum tatsächlichen Vorkommen. Gerade Zwangsstörungen oder sogar die für die Zahnmedizin relevante Bulimie werden von den Patienten gewollt oder ungewollt unterschlagen. Wenig erscheint den Menschen heute als so beschämend, wie psychisch für nicht normal gehalten zu werden. Hier sind starke Verdrängungsmechanismen am Werke. Hinzu kommt, dass der psychische Gesundheitszustand normalerweise auf Anamnesebögen in der Zahnarztpraxis nur mit einer einzigen Frage unter vielen anderen abgehandelt wird. Es erscheint daher als sinnvoll, beim Verdacht auf eine psychische Störung eine zusätzliche umfassende Anamnese in dieser Richtung zu erheben. Unabhängig von Erkrankungen der Psyche sind die Menschen in der heutigen Gesellschaft einer Vielzahl von psychischen Belastungen ausgesetzt. Deren Natur kann gesundheitlicher, privater, familiärer, beruflicher, finanzieller, gesellschaftlicher u.v.a.m. Art sein. Vor allem Stress stellt einen gewichtigen Belastungsfaktor dar.

Auch diese Belastungen werden von Patienten einem Zahnarzt, der neben seiner Rolle als Arzt auch als Handwerker wahrgenommen wird, üblicherweise nicht ohne Weiteres anvertraut, zumindest nicht zu Beginn und ohne Nachfrage. Die sicherere Annahme für einen Zahnarzt ist leider diejenige, dass der unbekannte, normal erscheinende Patient möglicherweise eine psychische Belastung oder Problematik mit sich bringt und nicht diejenige, dass er sicher normal sein wird. Um sich dies zu vergegenwärtigen und nicht aus dem Blick zu verlieren, empfiehlt es sich, die Liste der Fragen als interne Checkliste durchzugehen, wenn sich Patienten auffällig verhalten. Dies ist kein Anamnesebogen, der einem Patienten vorgelegt werden könnte, ohne ihn danach sehr wahrscheinlich zu verlieren. Einige der Fragen können aber für eine Spezialanamnese verwendet werden, wenn der Patient eine Behandlung wünscht und sich der psychischen Komponente bewusst ist. Sinnvoll ist sicher auch, einen Psychologen, Psychotherapeuten oder ähnlichen Spezialisten im eigenen Netzwerk zur Verfügung zu haben, um Patienten erforderlichenfalls professionelle Hilfe empfehlen zu können.

Die erste Voraussetzung für die Möglichkeit einer Therapie oder Änderung des Zustandes ist die eigene Einsicht des Patienten, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wenn dies bei einem wahrscheinlich oder offensichtlich gestörten Patienten nicht der Fall ist, ist von prothetischen zahnärztlichen Maßnahmen abzuraten.

Das Ziel dieses Beitrages ist es, gegenüber den Risiken zu sensibilisieren, die allein im psychischen Set-up des Patienten begründet liegen und nichts mit der eigenen zahnärztlichen Kompetenz zu tun haben. Denn wenn so ein Misserfolg dann einmal eingetreten ist, so verbleiben dennoch immer Zweifel, ob man es nicht doch hätte besser machen können, und es ist zumeist mit massivem Ärger, Frust und persönlicher Unzufriedenheit verbunden. Daher ist es auf jeden Fall besser, solche Problempatienten bereits zu Beginn zu identifizieren und von einer Behandlung Abstand zu nehmen.

Der Beitrag ist in der cosmetic dentistry 3/2017 erschienen.

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