Recht 07.12.2018
AcceleDent® – Gericht bestätigt Wirksamkeit und Abrechnung
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Immer wieder begegnet dem erwachsenen Kieferorthopädiepatienten der Hinweis eines Kostenträgers auf eine bloß kosmetische Behandlungsindikation, nunmehr auch noch kombiniert mit dem Einwand, dass ein etwa verfolgtes Beschleunigungsbemühen nichts als eine Wunschbehandlung sei, die ein reines Konvenienzinteresse des Patienten bediene. Jedenfalls aber dürften derartige Behandlungswünsche nicht zulasten eines Kostenträgers der Gesundheitsbranche liquidiert werden. Unter rechtlichen Gesichtspunkten ist dies nicht haltbar und der nachfolgende Fall des Amtsgerichtes Stuttgart (Urteil vom 9.8.2018, 1 C 5032/16) zeigt auch, dass im Erwachsenengebiss gute Gründe nicht nur für die Bejahung der kieferorthopädischen Behandlungsindikation sprechen, sondern auch aus medizinischen Gründen eine Beschleunigung sehr wohl geboten sein kann.
Medizinischer Behandlungsbedarf
Zunächst soll der Behandlungsbedarf und -verlauf mit dem AcceleDent® Optima-Gerät – so wie von dem Patienten im hier besprochenen Fall erlebt – dargestellt werden: Trotz wurzelbehandeltem und aufbereitetem Frontzahn drohte dieser bei auch nur geringer Fehlbelastung abzubrechen. Die Überweisung an den Fachzahnarzt für Kieferorthopädie erfolgte mit dem Ziel, so schnell wie möglich eine Gebissumformung herbeizuführen, damit ein Implantat eingebracht werden könne, da jederzeit – auch bei Aufnahme weicher Kost – der Verlust des Frontzahns drohte.
Der abgestorbene Zahn hatte sich bereits verdunkelt. Zur Beseitigung der Fehlstellung im Frontzahnbereich wurde eine Distalisierung geplant. Hierzu wurde ein Alignersystem mit 68 Schienenpaaren ärztlich verordnet. Die Behandlung war auf 680 Tage angelegt. Bei jedem neuen Schienensatz empfand der Patient große Spannungen im Kiefer, die sich mit Schmerzen im Kiefer sowie in den Zähnen zeigten. Er litt an Kopfschmerzen, besonders an den ersten Tagen nach Einsetzen eines neuen Schienensatzes.
Unter der Anwendung des AcceleDent® Optima-Gerätes erfuhr der Patient jeweils umgehende und auch anhaltende Linderung. Das Gerät wurde von Anfang an mit einer täglichen Anwendung von ca. 20 Minuten verordnet. Durch die Rüttelbewegungen der Gerätevibration wurden die Spannungen im Kiefer und im Zahn gelockert und der Schmerz wurde dadurch merklich weniger. Vor allem die Kopfschmerzen besserten sich nach dem Einsatz des Gerätes. So wurde eine Linderung der Begleitbeschwerden während der KFO-Therapie für den Patient erreicht.
Durch die Benutzung des Gerätes konnte eine deutliche Verkürzung der Behandlung erreicht werden. Auf diesem Wege konnte die Behandlung fast ein halbes Jahr früher abgeschlossen werden. Für den Patienten bedeutete dies, ein halbes Jahr weniger Schmerzen zu haben und ein halbes Jahr früher mit der Implantatbehandlung beginnen zu können, den dunklen Zahn im Frontbereich früher loszuwerden und alles wieder unbekümmert essen zu können sowie die Einschränkungen, die das Tragen der Schienen mit sich bringt, wieder los zu sein.
Medizinische Notwendigkeit der Therapiebeschleunigung
Der geschilderte Behandlungsverlauf ist zweifellos die Umsetzung einer medizinisch notwendigen Behandlung i.S.d. Musterbedingungen der privaten Krankenversicherung. Danach ist „eine Behandlung medizinisch notwendig, wenn es nach objektiven medizinischen Befunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Zeitpunkt der Behandlung und ihrer Planung vertretbar ist, die Maßnahme als medizinisch notwendig anzusehen. Vertretbar ist eine Heilbehandlung dann, wenn sie in fundierter und nachvollziehbarer Weise das zugrunde liegende Leiden diagnostisch hinreichend erfasst und eine ihm adäquate, geeignete Therapie anwendet. Davon ist dann auszugehen, wenn eine Behandlungsmethode und Therapie zur Verfügung steht und angewendet wird, die geeignet ist, die Krankheit zu heilen, zu lindern oder ihrer Verschlimmerung entgegenzuwirken. Zahnbehandlungen sind medizinisch notwendig, wenn sie der Wiederherstellung der Kau- und Sprechfunktion dienen.“
Den Platzzuwachs im Zahnbogen maß der Sachverständige innerhalb der nachweisbaren Behandlungszeit von acht Monaten mit 4,4 mm. Dies entspreche einem mittleren Platzzuwachs im Zahnbogen pro Monat von 0,55 mm. Aufgrund dieser signifikanten Beschleunigung der orthodontischen Zahnbewegung in der Behandlung sei alleine unter zeitlichen Gesichtspunkten eine deutliche Verkürzung der Leidensdauer des Patienten zu erwarten, sodass die medizinische Notwendigkeit des AcceleDent® Optima-Verfahrens im Sinne der Musterbedingungen der Privaten Krankenversicherung zu bejahen sei.
Abrechnung des AcceleDent® Optima-Gerätes geklärt
Das zur Eigenanwendung dem Patienten mitgegebene Gerät wird durch den Fachzahnarzt beschafft und vorab verauslagt. Mangels einer dem § 10 Abs. 1 Nr. 1 GOÄ vergleichbaren Regelung in der GOZ, ist eine direkte Abrechnungsgrundlage in der GOZ nicht vorgesehen. Eine solche existiert ausschließlich für Kosten der Zahntechnik und des Laboraufwandes.
Jedoch erkannte das Gericht eine Regelungslücke, da es den Regelungsintentionen des Gesetzgebers nicht entsprechen könne, wenn – wie hier – die notwendigen Materialkosten für das AcceleDent® Optima-Gerät 547,15 Euro betrugen und das KFO-Behandlungshonorar für die Positionen 6090 und 6050 GOZ 641,16 Euro beträgt, das Honorar also nahezu vollständig durch den sinnvollen Materialaufwand aufgezehrt werde.
Das Amtsgericht Stuttgart stützte sich insoweit auf den Rechtsden der Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 27.5.2004, III ZR 264/03 für die Berechnung ossärer Aufbereitungsgeräte im Rahmen der zahnärztlich-implantologischen Behandlung entwickelt hatte, und verwies zur Vertiefung auf die Kommentierung in: Liebold/Raff/Wissing, GOZ 9010, 2.6.1: Berechnung von Einmalinstrumentarium/Materialkosten im Bereich der Implantologie, Stand: März 2015.
Auch ein Verweis auf ihre Tarifbedingungen verhalf der privaten Krankenversicherung nicht zur Leistungsfreiheit: Denn das AcceleDent® Optima-Gerät ist eben kein bloßes Hilfsmittel, das als solches häufig nur dann erstattungspflichtig ist, wenn es positiv in dem Hilfsmittelverzeichnis vereinbart worden ist. Denn Hilfsmittel besitzen niemals eine therapeutische Relevanz, sondern stellen Alltagshilfen dar, die für die Dauer ihrer Anwendung ein körperliches Defizit auszugleichen oder abzumildern in der Lage sind (typischerweise z.B. Gehhilfen, Rollstühle, Sehhilfen, Hörhilfen).
Sinn und Zweck der AcceleDent® Optima-Anwendung ist jedoch eine die kieferorthopädische Therapie beschleunigende und Schmerz reduzierende Wirkung. Damit griff auch der Hilfsmitteleinwand nicht, und das Gericht verurteilte die Krankenversicherung zur Zahlung des Behandlungsgerätes. Danach sind Kosten des AcceleDent® Optima-Gerätes abrechnungsfähig und eintragungsfähig unter der Position „Kosten für Auslagen nach § 3, § 4 GOZ und § 10 GOÄ“ des Muster-Rechnungsformulars gemäß der Anlage 2 zur GOZ.
AcceleDent®-Beschleunigung auch in der öffentlichen Beihilfe
Der Nutzen dieser Beschleunigung ist auch von der öffentlichen Beihilfeverwaltung zu berücksichtigen. Zwar gewinnt man zuweilen den Eindruck, dass die Anwendung der GOZ durch die Beihilfestellen eine qualitativ andere sei als die Anwendung der GOZ durch die Zivilgerichte, jedoch ist aufgrund des Vorgesagten die Abrechnungsfähigkeit des AcceleDent® Optima-Gerätes auch im Rahmen der öffentlichen Beihilfe bestätigt. Denn es handelt sich um die identische Gebührenordnung und das AcceleDent® Optima-Gerät fällt aus den genannten Gründen auch nicht unter den Hilfsmittelkatalog der Beihilfe.
Fazit
Das durch einen Fachzahnarzt für Kieferorthopädie beratene Zivilgericht hat für den entschiedenen Patientenfall die Beschleunigung der Zahnbewegung bestätigt und den erzielten Beschleunigungseffekt mit einem Platzzuwachs im Zahnbogen pro Monat von 0,55 mm quantifiziert. Dieser Wert entsprach etwa jenem Wert, der bereits 2015 im Rahmen einer umfassenden wissenschaftlichen Studie ermittelt worden war (Pavlin D, Anthony R, Raj V, Gakunga PT: Cyclic loading (vibration) accelerates tooth movement in orthodontic patients: A double-blind, randomized controlled trial. Seminars in Orthodontics 2015; 21: 187–194).
Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.