Recht 22.02.2024

Ausnahmeindikation für Implantate – ein Fallbeispiel



Ausnahmeindikation für Implantate – ein Fallbeispiel

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Gesetzlich versicherten Patienten wird bekanntermaßen nur im Ausnahmefall eine Implantatversorgung erstattet. Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Behandlungsrichtlinie; in der am 18. Juni 2006 in Kraft getretenen Fassung) sieht unter Abschnitt B VII 2 Satz 4 Ausnahmeindikationen für Implantate und Suprakonstruktionen im Sinne von § 28 Abs. 2 S. 9 SGB V vor.

Eine solche Ausnahmeindikation sah eine Patientin bei sich gegeben und begehrte von ihrer Krankenkasse die Kostenübernahme für eine implantologische Versorgung im Oberkiefer, welche nach dem Kostenvoranschlag voraussichtlich 18.590,36 Euro kosten sollte.

Die junge Patientin litt an einer sogenannten Amelogenesis imperfecta, Hypomineralisations-/Hypomaturationstyp. Bei dieser seltenen genetisch bedingten Erkrankung ist die Bildung des Zahnschmelzes (äußere Zahnhartsubstanz) beeinträchtigt. Dem folgend besteht ein erhöhtes Risiko der Kariesbildung der Milchzähne und der bleibenden Zähne, meist werden die Zähne restaurationsbedürftig, z. B. durch frühzeitige Überkronungen. Bereits zuvor war die Patientin aufgrund des Verlustes der Zähne im Unterkiefer mit einer implantatgetragenen Prothese versorgt worden, wofür sie die Kosten selbst getragen hat.

Nun begehrte die Patientin die Kostenübernahme für die implantologische Versorgung im Oberkiefer, was die Krankenkasse ablehnte. Der daraufhin eingeschaltete Gutachter stellte eine nicht erhaltungswürdige Restbezahnung im Oberkiefer fest. Die Erkrankung der Patientin habe zum Verlust der Zähne geführt. Eine Ausnahmeindikation löse dieses Krankheitsbild jedoch nicht aus. Geplant seien acht Implantate mit rein implantatgetragenen Brücken. Die konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate sei jedoch möglich.

Daraufhin lehnte die Krankenkasse eine Leistung ab. Im Ergebnis des von der Patientin veranlassten Widerspruchsverfahrens verblieb es bei der Ablehnung unter Hinweis darauf, implantologische Leistungen gehörten grundsätzlich nicht zur zahnärztlichen Behandlung und dürften von den Krankenkassen auch nicht bezuschusst werden, sofern nicht eine vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegte Ausnahmeindikation vorliege und eine konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate nicht möglich sei. Die bei der Klägerin vorliegende Zahnanomalie falle nach dem Ergebnis der Begutachtung jedoch nicht unter die Ausnahmeindikationen.Im anschließenden Klageverfahren über zwei Instanzen lehnte das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 06.02.2023 (Az. L 5 KR 739/22) den Anspruch der Patientin ebenfalls ab. In einem vom Gericht eingeholten Befundbericht des behandelnden Facharztes für Mund- Kiefer- Gesichtschirurgie und Fachzahnarztes für Oralchirurgie N. führte dieser aus, eine konventionelle Versorgung der Klägerin durch Teleskopprothese oder Totalprothese sei möglich. Die bei der Klägerin vorliegende Krankheit sei kein Bestandteil des Ausnahmeindikationskataloges.

Die Klägerin legte ein Attest der Fachärztin für Allgemeinmedizin R. vor, wonach sie unter erheblichen Zahnproblemen mit zahlreichen Eingriffen und reaktiver psychischer Belastung leide. Durch die angestrebte Implantatversorgung könne die psychische Belastung der Klägerin reduziert und durch die Stabilisierung der Kiefermotorik eine chronisch-mandibuläre Dysfunktion behandelt werden. Dadurch würden Folgekosten durch anhaltendes Schmerzsyndrom, psychische Belastungsreaktionen und Krankheitsfehlzeiten reduziert.

Ergänzend trug die klagende Patientin zu ihrer Situation vor, sie habe durch die jahrelangen erheblichen Schmerzen keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen können. Sie habe sich überwiegend von Brei ernährt und keine ausgewogene Ernährung einhalten können, sodass sie untergewichtig gewesen sei. Auch in ihrer Ausbildung als Erzieherin habe sie psychische Probleme gehabt, weil sie aus Scham nicht habe lachen oder sprechen können. Aufgrund der jahrelangen Ängste, dass beim Kauen fester Nahrung ein Zahn abbreche, habe sie auch heute noch Ängste beim Essen fester Nahrung.

In ihrer Not ließ die Patientin die implantologische Versorgung im Oberkiefer zunächst auf eigene Kosten durchführen und wechselte dafür zu einem anderen Behandler. Dieser führte in seinem vom Gericht angeforderten Befundbericht aus, es sei theoretisch eine Vollprothese im Oberkiefer möglich, aber funktionell sei eine adäquate Versorgung damit nicht möglich. Eine Ausnahmeindikation im Sinne der Behandlungsrichtlinie des G-BA habe nicht vorgelegen. Jedoch habe die Patientin aufgrund ihrer Erkrankung schuldlos die Zähne verloren. Es habe auch keine stabile und funktionale Versorgung der Klägerin vor der durchgeführten Behandlung vorgelegen. Die normale Kau- und Sprechfunktion sei deutlich eingeschränkt gewesen und die Patientin habe über nachvollziehbare Schmerzen geklagt. Eine konventionelle Versorgung mit einer Totalprothese hätte für die Klägerin gravierende Folgen auf Lebenszeit mit sich gebracht. Eine stabile Lagerung wäre nicht möglich und eine Kaufähigkeit für härtere Lebensmittel nicht zu erreichen gewesen. Zudem wäre es über die Jahre zu einer ausgeprägten Rückbildung des Kieferknochens gekommen, die langfristig zu einer völligen Prothesenunfähigkeit hätte führen können. Seiner Einschätzung nach handele es sich um einen besonders schweren Fall, der vergleichbar sei mit den in der Behandlungsrichtlinie des G-BA festgelegten Ausnahmeindikationen.

Schließlich legte die klagende Patientin noch ein Attest der psychologischen Psychotherapeutin M. vor. Die Klägerin habe aufgrund ihrer Erkrankung Ängste beim Essen und Selbstwertprobleme entwickelt. Sie habe nicht in Gesellschaft essen oder lachen können. Diese Erlebnisse sowie die Auseinandersetzung mit der Beklagten würden psychotherapeutisch aufgearbeitet. Eine Unterstützung der Klägerin in ihrer Leidensgeschichte sei wünschenswert.

Das Sozialgericht Münster gab der Patientin daraufhin Recht und verurteilte die Krankenkasse zur Leistung bezüglich der implantologischen Versorgung im Oberkiefer gemäß §  13 Abs. 3 S.1 SGB V.

In zweiter Instanz wurde dieses Urteil sachverständig beraten abgeändert und der Anspruch durch das Landessozialgericht verneint und wie folgt begründet:

„Anders als es das Sozialgericht meint, fehlt es schon an einer medizinischen Gesamtbehandlung i. S. d. § 28 Abs. 2 S. 9 SGB V. Für eine solche reicht es – wie bereits dargelegt – nicht aus, dass mit der Wiederherstellung der Kaufunktion auch andere medizinische Zwecke erreicht werden (st. Rspr. des BSG, dazu grundlegend Urteil vom 07.05.2013 – B 1 KR 19/12 R, zuletzt bestätigt durch Beschluss vom 07.12.2022 – B 1 KR 48/22 BH). Nachvollziehbar war die Klägerin vorliegend zwar aufgrund des Zustandes ihrer Zähne bei der Nahrungsaufnahme eingeschränkt. Es erscheint auch nachvollziehbar, dass die Klägerin psychisch unter ihrer Erkrankung litt, weil sie zum einen das Abbrechen weiterer Zähne befürchtete und zum anderen beim Lachen und Sprechen optische und phonetische Beeinträchtigungen vorlagen. Es steht jedoch keinesfalls fest – worauf der gerichtliche Sachverständige zutreffend hinweist –, dass ein medizinisches Gesamtbehandlungskonzept vorlag, weil schon Behandlungsfrequenz und -zeitraum der hausärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung nicht nachgewiesen wurden. Überdies stand auch unter Berücksichtigung dieser Aspekte die Wiederherstellung der Kaufunktion eindeutig im Vordergrund. Die erforderliche medizinische Gesamtbehandlung muss sich aber aus verschiedenen, nämlich aus human- und zahnmedizinisch notwendigen Bestandteilen zusammensetzen, ohne sich in einem dieser Teile zu erschöpfen. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinausgehendes medizinisches Gesamtziel muss der Behandlung ihr Gepräge geben. Das Tatbestandsmerkmal der medizinischen Gesamtbehandlung schließt daher von vornherein Fallgestaltungen aus, in denen das Ziel der implantologischen Behandlung nicht über die reine Versorgung mit Zahnersatz zur Wiederherstellung der Kaufähigkeit hinausreicht (BSG, Beschluss vom 07.12.2022 – B 1 KR 48/22 BH).“Dieser Fall demonstriert wieder, wie schwierig es sein kann – trotz besonderen Ausnahmefalles –, die Ausnahmeindikationen zu erfüllen.

Dieser Beitrag ist im OJ Oralchirurgie Journal erschienen.

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