Wissenschaft und Forschung 24.07.2013
Evolutionärer Kompromiss für einen langen Zahnerhalt
Wissenschaftler am Max-Planck-Institut
für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und am Senckenberg
Forschungsinstitut in Frankfurt am Main haben Belastungsanalysen an
unterschiedlich verschlissenen Vorbackenzähnen von Gorillas
durchgeführt. Dabei konnten sie zeigen, dass einzelne Bereiche der
Kaufläche Zugspannungen entgegenwirken, die während des Kauvorgangs
auftreten. Durch einen fortschreitenden Zahnverschleiß, der mit dem
Verlust an Zahnmaterial und dem Abbau des Kauflächenreliefs
einhergeht, werden Zugspannungen im Zahn reduziert. Der Preis ist
aber, dass die Nahrung dann nicht mehr so effektiv zerkleinert wird.
Verändert sich also im Laufe des Lebens durch Abnutzung die
Beschaffenheit der Kaufläche, ändern sich damit auch die
biomechanischen Anforderungen an das vorhandene Zahnmaterial – ein
evolutionärer Kompromiss zugunsten eines möglichst langen
Zahnerhalts.
Zunächst erstellten die
Wissenschaftler digitale 3-D-Modelle dreier Gorillabackenzähne mit
unterschiedlichen Verschleißspuren und analysierten dann unter
Anwendung einer am Senckenberg Forschungsinstitut entwickelten
Software (Occlusal Fingerprint Analyser) die individuellen
Zahn-zu-Zahn Kontakte. Anschließend untersuchten Stefano Benazzi
und Kollegen vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
mit Hilfe einer Methode aus den Ingenieurswissenschaften, der Finiten
Elemente Analyse (FEA), welche Rolle die spezielle Beschaffenheit der
Backenzähne von Homininen und Menschenaffen während des Kauvorgangs
spielt.
Die Ergebnisse zeigen, dass sich die
Zugspannungen im Zahn bei kaum oder wenig verschlissenen Backenzähnen
mit einem gut ausgeprägten Kaurelief (zur optimalen Zerkleinerung
der Nahrung) in den Rillen der Kaufläche konzentrieren. Die
verschiedenen Hügel eines Backenzahns stärken dann u.a. die
Zahnkrone gegen die Einwirkung von Spannungen während des
Kauprozesses. Durch den Verlust von Zahngewebe und eine Verringerung
des Kauflächenreliefs im Laufe des Lebens können die Hügel diese
Aufgaben nicht mehr so gut erfüllen. Dieses Defizit wird jedoch
ausgeglichen: Bei stärker abgenutzten Zähnen vergrößert sich die
Kontaktfläche beim Zahn-zu-Zahn-Kontakt, was letztlich zu einer
Streuung der auf die Kaufläche einwirkenden Kräfte beiträgt.
Grundlegende Schritte zur Erstellung eines so genannten volumetrischen Netzes und zur Erkennung der Kontaktflächen beim Gorillavorbackenzahn Nr. ZMB-31626 (2. Backenzahn, linker Unterkiefer), der keine Verschleißspuren aufweist. Die Zahn-zu-Zahn Kontakte wurden mit Hilfe einer am Senckenberg Forschungsinstitut entwickelten Software (Occlusal Fingerprint Analyser) analysiert. © Max-Planck-Institut
für evolutionäre Anthropologie
Dies legt nahe, dass der Zahnverschleiß
einen bedeutenden Einfluss auf die Evolution und strukturelle
Anpassung der Backenzähne hatte, sodass diese die beim Zubeißen
entstehenden Kräfte besser aushalten und so der Zahnverlust im Laufe
des Lebens eines Individuums reduziert werden kann. „Es handelt
sich hier möglicherweise um einen evolutionären Kompromiss für
einen langen Zahnerhalt. Auch wenn Zähne mit abgekautem Relief nicht
so effektiv sind, so erfüllen sie ihre Aufgaben immer noch besser,
als wenn sie frühzeitig ausfallen würden“, sagt Stefano Benazzi
vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Die
Zahnevolution und -biomechanik können wir nur dann verstehen, wenn
wir die Funktion des Zahns im Hinblick auf die dynamischen
Veränderungen von Zahnstrukturen im Leben eines Individuums
untersuchen.“
„Die Ergebnisse bringen uns bei der
Erforschung der funktionalen Biomechanik dentaler Merkmale und der
Entschlüsselung der evolutionären Entwicklung unseres Kauapparats
einen großen Schritt voran. Darüber hinaus sind sie möglicherweise
auch für die moderne Zahnheilkunde bei der weiteren Verbesserung von
Zahnbehandlungen von Bedeutung“, sagt Jean-Jacques Hublin, Direktor
der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für
evolutionäre Anthropologie.
Quelle: Max-Planck-Institut
für evolutionäre Anthropologie