Recht 04.09.2013
Oralchirurg, Anästhesist – Staatsanwalt!?
share
Wird von Patienten ein Behandlungsfehler vorgeworfen, kommt es bei einer gemeinsamen Behandlung häufig auf die Frage an, wem – sofern tatsächlich ein Fehler vorliegt – dieser Fehler zugerechnet wird, wer also dafür haften muss.
Häufig stellt sich diese Frage bei einer „arbeitsteiligen“ Behandlung, also dem Zusammenwirken von Chirurg und Anästhesist. Die zivilrechtliche Rechtsprechung zur Haftung bei horizontaler Arbeitsteilung ist eindeutig: Grundsätzlich haftet jeder der Beteiligten für seinen originären Tätigkeitsbereich. So hat das OLG Naumburg – VersR 2005,1401 – im Hinblick auf eine ambulante Operation entschieden, dass der Chirurg grundsätzlich nicht für Behandlungsfehler des Anästhesisten (hier: Überdosierung eines Hypnotikums; unzureichende postoperative Überwachung der Vitalfunktionen) einzustehen hat. Es stellte fest, dass grundsätzlich auch keine gegenseitige Überwachungspflicht der kooperierenden Ärzte besteht.
Diesen unangefochtenen zivilrechtlichen Grundsatz wollte das Amtsgericht Limburg in einer strafrechtlichen Entscheidung nicht mittragen, was bei ambulanten Operationen zu erheblicher Unsicherheit führte. Dieses Urteil konnte allerdings in der Berufungsinstanz beseitigt werden. Der Werdegang dieses Verfahrens, der folgend geschildert wird, macht deutlich, dass sowohl in medizinrechtlichen Haftungsverfahren als auch in medizinstrafrechtlichen Verfahren die Kompetenz und Erfahrung der Prozessbevollmächtigten oft von großer Bedeutung für den Ausgang der Verfahren ist.
Beispielverfahren: Tod eines Patienten
Der betroffene Oralchirurg führte in seiner Praxis im Rahmen der horizontalen Zusammenarbeit mit einem Anästhesisten regelmäßig ambulante Operationen in Vollnarkose, insbesondere an aufgrund von Behinderungen nicht kooperationsfähigen Patienten durch. Der Anästhesist brachte die erforderlichen Medikamente und Apparate in die Praxis des Oralchirurgen sowie nach Bedarf und eigener Einschätzung eine Anästhesiepflegekraft mit. Er war dem Oralchirurgen aus der langjährigen Zusammenarbeit als zuverlässig und gewissenhaft bekannt. Zu Zwischenfällen kam es zunächst nicht. Eine gesonderte schriftliche Vereinbarung über die Zusammenarbeit trafen der Oralchirurg und Anästhesist nicht, da jeder in seinem Fachgebiet tätig wurde, selbstständig die erforderliche Aufklärung der Patienten im jeweiligen Fachgebiet durchführte und selbstständig abrechnete.
Die Patienten wurden nach Abschluss des Eingriffs durch den Anästhesisten persönlich im ordnungsgemäß ausgestatteten Eingriffsraum postnarkotisch überwacht. Währenddessen widmete sich der Oralchirurg der ambulanten zahnmedizinischen Behandlung anderer Patienten in seiner Praxis, bis der Anästhesist mitteilte, dass die Überwachungsphase abgeschlossen sei und der nächste Eingriff in Vollnarkose beginnen könne. Nach Abschluss der postnarkotischen Überwachungsphase wurden die Patienten in einen Ruheraum verbracht, wo sich eine Begleitperson aufhielt und wo sie auf einen zahnmedizinischen Behandlungsstuhl zur Durchführung der oralchirurgischen Nachuntersuchung verlegt wurden. Nach Abschluss der Ruhephase wurden durch den Anästhesisten die Straßenfähigkeit der Patienten attestiert und diese nach Hause entlassen.
Im Jahr 2006 wurde ein an einem Williams-Beuren-Syndrom (WBS) leidendes zehnjähriges Kind in Vollnarkose durch den Oralchirurgen erfolgreich in Anwesenheit des Anästhesisten operiert, ohne dass es besondere Vorkommnisse gab. Im Jahr 2007 war aufgrund einer Überweisung durch einen Kieferorthopäden ein weiterer oralchirurgischer Eingriff erforderlich. Erst deutlich später gab es wissenschaftliche Hinweise darauf, dass WBS-Patienten in Bezug auf Vollnarkosen als Risikopatienten einzustufen sind und dass Eingriffe in Vollnarkosen an solchen Patienten nicht ambulant durchgeführt werden sollen. Der zweite Eingriff an dem Kind verlief zunächst erfolgreich und mit Beendigung der Operation zeigte das Kind bereits erste Reaktionen. Daraufhin verließ der Oralchirurg den Eingriffsraum, während der Anästhesist die postnarkotische Überwachung für einen nicht mehr genau festzustellenden Zeitraum von wahrscheinlich 20 bis 25 Minuten durchführte, bevor das Kind in den Ruheraum verlegt wurde, wo seine Mutter – eine ausgebildete MTA – wartete. Nach kurzer Zeit bemerkte die Mutter ein Abflachen der Atmung sowie eine bläuliche Hautverfärbung und schließlich ein völliges Aussetzen der Atmung, woraufhin sie um Hilfe rief. Der Anästhesist und der Oralchirurg begannen daraufhin unmittelbar mit der Reanimation des Kindes, die primär erfolgreich war. Sodann wurde das Kind rettungsdienstlich in ein Krankenhaus zur notfallmäßigen Behandlung gebracht und von dort aus in eine Kinderklinik verlegt, wo es eine Woche später starb, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben.
Offen blieb im Laufe des Verfahrens, ob es in der Kinderklinik möglicherweise einen Behandlungsfehler gab, weil dort auf einen mehrere Stunden andauernden Sauerstoffabfall von deutlich unter 90 % nicht adäquat reagiert wurde. In der ersten Instanz vor dem Schöffengericht wurde der Anästhesist wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, der Oralchirurg zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Die Freiheitsstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Beide Angeklagten erhielten zudem erhebliche Geldauflagen. Dem Anästhesisten wurde ein Überwachungsfehler vorgeworfen. Die Überwachung sei nicht lang genug erfolgt und notwendige Überwachungsgeräte (EKG, Sauerstoffsättigung) seien nicht zum Einsatz gekommen. Dabei ging das erstinstanzliche Gericht indes unzutreffend davon aus, dass die postoperative Überwachung nicht im Eingriffsraum, sondern im Ruheraum stattfand, der ausschließlich zahnmedizinisch ausgestattet war. Dem Oralchirurgen – der in der ersten Instanz nicht durch einen medizinrechtlich und strafrechtlich spezialisierten Rechtsanwalt vertreten wurde – lastete das Schöffengericht ein Organisationsverschulden an. Es habe zunächst an einer schriftlichen Vereinbarung betreffend der Zusammenarbeit gefehlt, weswegen die Aufgaben- und Verantwortungsbereiche nicht klar abgegrenzt gewesen seien. Er habe ferner den Ruheraum nicht adäquat apparativ ausgestattet und aus Gewinnstreben die postoperativen Überwachungszeiten möglichst gering halten wollen. Ferner seien die Zahnarzthelferinnen nicht notfallmedizinisch ausgebildet gewesen, was aber erforderlich gewesen wäre. Schließlich habe der Anästhesist einen derart offenkundigen Überwachungsfehler mit Blick auf die Kürze der Überwachungszeit begangen, dass dies auch für einen Zahnarzt und Oralchirurgen evident hätte sein müssen, sodass eine Berufung auf den Grundsatz der horizontalen ärztlichen Zusammenarbeit und die daraus resultierende Verantwortungsabgrenzung hier nicht möglich sei. Unmittelbar nach dem erstinstanzlichen Urteil leitete die Approbationsbehörde gegen beide Angeklagten ein Approbationsentziehungsverfahren ein und beabsichtigte den Entzug der Approbationen noch vor Rechtskraft des strafrechtlichen Urteils. Aufgrund der Intervention der Verteidigung wurde das Approbationsentziehungsverfahren sodann bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens ruhend gestellt. Gegen das Urteil des Schöffengerichts legten sowohl die Staatsanwaltschaft und die als Nebenkläger agierenden Eltern des Kindes einerseits als auch die beiden Angeklagten andererseits Berufung ein.
(Die Schilderung des Verfahrens ist auf die wesentlichen Aspekte des Falls beschränkt und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.) Lesen Sie den weiteren Verlauf des Falles in der vierten Ausgabe des Oralchirurgie
Journals 2013.
Autoren: RA Frank Heckenbücker und RA Prof. Dr. Karsten Fehn