Implantologie 07.11.2023

Nicht immer geht es minimalinvasiv – Implantation mit Nervverlagerung



Nicht immer geht es minimalinvasiv – Implantation mit Nervverlagerung

Foto: Dr. Matthias Plöger

Strebt man im zweidimensional atrophierten Unterkieferseitenzahngebiet eine implantologische festsitzende Versorgung an, ist oftmals der Einsatz z. B. von autologen bzw. allogenen Knochenblocktransplantaten, die Augmentation mittels Schalentechnik nach Prof. Dr. Khoury9 oder seit Neustem auch die Augmentation mit Titan-Mesh16 Mittel der Wahl. Aufgrund der teilweise publizierten Nachteile der oben aufgeführten Verfahren (wie z. B. zweizeitige Vorgehensweise, Resorptionen des Augmentats, Durchblutungsstörungen des Augmentats, Schleimhautperforationen und postoperative Infektionen etc.) kann man auf ein alternatives Verfahren zurückgreifen, das durch die Weiterentwicklung der Piezosurgery praxisreifer (Reduktion der Nebenwirkungen) geworden ist – die laterale Nervtransposition des N. alveolaris inferior.

Erstmals berichteten Jensen und Nock 1987 von einer Technik zur Verlagerung des Foramen mentale.5 In den 1990erJahren wurde dieses Verfahren von Kan, Peleg und Ferrigno aufgegriffen und eine alternative Methode zur Nervverlagerung beschrieben. Zum damaligen Zeitpunkt erfolgte die Präparation des Nervkanals meist mittels traumatischer Kugelfräsen oder Diamantkugeln mit der Folge, dass über längere Zeiträume bzw. sogar permanent, Anästhesien, Parästhesien und Hypästhesien zurückbleiben konnten. Von diesen Nebenwirkungen wurden zum Teil in über 30 Prozent der Fälle in der Literatur berichtet.

Mit Aufkommen der neuen Generation der Piezosurgery-Geräte (z. B. von ACTEON, W&H, mectron oder EMS) können nun gezielt weichgewebige Strukturen geschont werden, da durch die Schwingung im Ultraschallbereich die betreffende Knochenstruktur im Prinzip verdrängt statt gesägt wird.3 Mithilfe dieser Methode ist eine deutlich reduzierte Rate an Nervirritationen von < 15 Prozent erzielbar.17 Diese gingen aber in den von den Autoren durchgeführten Eingriffen nach maximal vier Wochen vollständig zurück. Meist handelte es sich auch lediglich um ein Areal von ca. 5–10 mm Durchmesser im Mundwinkelbereich.

Falldarstellung

Im beschriebenen Fall wurde die 26-jährige Patientin vom Hauszahnarzt in unsere Praxis überwiesen. Die Patientin litt unter keinen relevanten Vorerkrankungen (Diabetes mellitus, systemische Knochenerkrankungen, Bisphosphonattherapie, Nikotinabusus). Klinisch zeigte sich im IV. Quadranten eine Schaltlücke von Regio 45 bis 47, bei einem ausgeheilten, ansonsten hoch atrophischen Alveolarfortsatz. Die Lückensituation bestand bei der noch jungen Patientin jedoch bereits seit ca. zehn Jahren. Der fortgeschrittene Knochenabbau lässt sich u. a. durch das erhöhte Remodelling des Knochens beim jüngeren Patienten erklären. Nach heutigem zahnmedizinischem Stand würde trotz des damaligen Patientenalters von ca. 16 Jahren die Situation nicht mehr so lange implantatprothetisch unversorgt bleiben (Implantate = Resorptionsprotektoren).

Der Patientenwunsch im beschriebenen Fall bestand eindeutig in einem festsitzenden Zahnersatz, wobei sie die Situation relativ zeitnah gelöst haben wollte. Die anschließend durchgeführte 3D-DVT-Diagnostik (Abb. 1) zeigte eine für eine Implantation im Bereich 47 noch suffiziente und im Bereich 45 insuffiziente Kammbreite. Allerdings wird das Knochenlager in der vertikalen Dimension durch den Nervus alveolaris inferior begrenzt, d. h. in der Höhe sind nur ca. 4–5 mm Abstand zum Nervkanal vorhanden. Nach eindringlicher Beratung bezüglich Behandlungsalternativen entschied sich die Patientin für die im Anschluss erörterte Verlagerung des Nervus alveolaris inferior, um apikal des Nervkanals das Knochenlager nutzen zu können. Dabei wurde auf die Erläuterung möglicher Risiken des Eingriffs besonderer Wert gelegt, die vor allem in möglichen Parästhesien, Hypästhesien oder Anästhesien bestehen.


„Derzeit gibt es, abgesehen von einer herausnehmbaren Prothese, zwei mögliche etablierte Alternativbehandlungen zur Nervverlagerung: Knochenblock-Augmentation oder der Einsatz längenreduzierter Implantate.“



Operatives Vorgehen

Der Eingriff wurde unter antibiotischer Abschirmung mit Cefuroximaxetil 500 mg zweimal täglich und Metronidazol 400 mg zweimal täglich (entsprechend Körpergewicht) durchgeführt, einen Tag präoperativ beginnend um einen entsprechenden Serumspiegel zu erhalten. Diese Wirkstoffkombination hat sich in der Praxis der Autoren, vor allem bei Integration verschiedener Fremdkörper (Implantate, Knochenaugmentate, Membran etc.) und erhöhter Operationsdauer, bewährt. Nach auf Patientenwunsch durchgeführter Intubationsnarkose wurde zusätzlich das Operationsgebiet mit Infiltrationsanästhesie vestibulär zur Reduktion der Blutungsneigung (Abb. 2) anästhesiert. Die Inzision erfolgte auf dem Kieferkamm mit Entlastung am Zahn 43 (Abb. 3). Da der Nervus alveolaris inferior verlagert werden soll, ist die vollständige Darstellung des Foramen mentale unumgänglich (Abb. 4). In der Regel befindet sich das Foramen mentale apikal des zweiten Unterkieferprämolaren,2 was durch präoperative DVT-Diagnostik in diesem Fall bestätigt werden konnte. Für solche Eingriffe ist eine Lupenbrille mit dreifacher Vergrößerung zu empfehlen, um Irritationen am Nerv zu vermeiden.

Die Autoren favorisieren das Vorgehen nach Jensen und Nock. Dieses wurde auch im hier beschriebenen Fall angewendet. Nach Darstellung des Foramen mentale wird beginnend am Foramen nach distal eine Rinne präpariert (Abb. 5–7). Meist muss diese ca. 5–7 mm tief angelegt werden, bevor man auf den Nerv in seinem Verlauf stößt. Hier ist ein genaues und langsames Vorgehen mit Lupenbrille und Piezosurgery unumgänglich. Außerdem ist zu beachten, dass in vielen Fällen der Nerv einen durchschnittlich 3–4 mm langen Loop nach mesiolingual machen kann, bevor er die Richtung nach distal ändert. Ebenso werden häufig mediale Ausläufer von ca. 6 mm beobachtet (im DVT sichtbar), deren Durchtrennen möglicherweise zu marginalen Anästhesien führen kann. Um solche anatomischen Besonderheiten zu erkennen, ist eine 3D-Diagnostik mithilfe eines DVTs unumgänglich. Ein möglicher Loop muss dann mit der feinen Piezosurgery-Kugel freipräpariert werden, um den Nerv aus dem knöchernen Kanal ausschälen zu können. In den meisten Fällen lässt sich der Nerv bis Mitte/distal Regio 6 gut freipräparieren, bevor er dann ca. 3 mm tiefer in den Unterkiefer zieht (diesen Punkt kann man ebenfalls sehr gut in der 3D-Diagnostik des DVTs bestimmen), sodass ein weiteres Freilegen aufgrund schlechterer Sicht und stärker zu erwartenden Blutungen sehr erschwert ist. Wichtig ist in diesem Falle, intraoperativ adrenalingetränkte Tupfer zur Verfügung zu haben, um eine stärkere Blutung aus dem Kanal für eine bessere Sicht bei der Präparation zu reduzieren. Nachdem der Nerv dargestellt wurde, wird er vorsichtig mit dem Instrument PH12 (Hu-Friedy) nach Prof. Dr. Markus Hürzeler gelöst (Abb. 8), ins Vestibulum verlagert und mit einem Gilles-Häkchen gesichert (Abb. 9). Nun kann die Implantatbohrung sowie -insertion erfolgen: Im beschriebenen Beispiel wurden zwei Implantate (K3Pro Rapid 3,5 x 13 und 5,5 x 13, Argon) primärstabil inseriert (Abb. 10 und 11). Dazu ist es wichtig, das Implantat im Knochen apikal des Nervkanals zu verankern, um die nötige Primärstabilität zu gewinnen – vor allem, wenn wie im aktuellen Fall, in Regio 45 der vestibuläre Knochen bereits vollständig atrophiert ist. Von Vorteil sind dabei Implantate mit aggressiven Gewindegängen wie im beschriebenen Fall.

Der Nervkanal wird anschließend mit Knochengranulat (autolog/allogen mit xenogenem Resorptionsschutz) verfüllt, mit resorbierbarer Kollagenmembran (kreuzvernetzt, lange Resorptionszeit z. B. OSSIX® Plus, REGEDENT) und Pins versorgt und mit z. B. A- und I-PRF (nach Choukroun und Ghanaati, mectron) bedeckt (Abb. 12–14). Wichtig ist der anschließende spannungsfreie Wundverschluss. Abbildung 15 zeigt das postoperative DVT. In der Einheilphase sollte kein Kaudruck auf das Operationsgebiet ausgeübt werden. Auch bei diesem Vorgehen erfolgt die definitive prothetische Versorgung nach vier bis sechs Monaten Einheilzeit. Es muss unbedingt dokumentiert und der Patient darüber aufgeklärt werden, dass der Nerv nun distal der Implantate austritt und im Weichgewebe des Vestibulums verläuft. Dabei ist eine gute intraoperative Fotodokumentation der Nervtransposition eine Conditio sine qua non, auch für mögliche Jahre/Jahrzehnte später stattfindende chirurgische Interventionen (Periimplantitis etc.).13 In diesem Fall wurde auf eine provisorische Versorgung in der Einheilphase verzichtet, da die Patientin auf der linken Kieferseite vollbezahnt ist und kein vertikaler Knochenaufbau durch eine provisorische Brücke geschützt werden muss. Die definitive Versorgung erfolgte mittels implantatgetragener Brücke.

Tabelle 1 Sensorische Störung nach Nervenverlagerung in abhängigkeit des Nachuntersuchungszeitraumes 13

Komplikationen

Das Hauptrisiko bei diesem beschriebenen Eingriff besteht in einer temporären oder permanenten Irritation/Schädigung des Nervus alveolaris inferior. In der Praxis der Autoren wurden keine permanenten Irritationen des Nervs beobachtet. Es lagen lediglich Hypästhesien von < 15  Prozent der Fälle bei 100 durchgeführten Nervverlagerungen in den letzten 25  Jahren vor. Diese Hypästhesien dauerten i. d. R. nicht länger als vier Wochen an und konzentrierten sich meist auf einen Mundwinkelbereich von ca. 5–10 mm Durchmesser. An dieser Stelle soll angemerkt sein, dass die Hypästhesien vor Einführung der Piezosurgery in der Praxis der Autoren häufiger auftraten und bis zu sechs Monate andauerten.

Außerdem kommt die wachsende individuelle Lernkurve des Operateurs dazu. Als Hypästhesie zählt in diesem Fall, wenn der Patient eine reduzierte Reaktion auf Sensibilitätsprüfungen wie leichte Berührung, Pinselstrich oder Zweipunkt-Diskriminierung zeigt.2 Diese Prüfungen werden immer im Vergleich zur Gegenseite durchgeführt. Meist zeigt der Patient in den ersten zwei bis vier Wochen nach der Operation ein seitenungleiches Empfinden auf Pinselstrich, nimmt aber die spitze Sonde, welche die Haut tifer eindrücken kann, wahr.

Ähnliche Zahlen ergab auch die Literaturrecherche (Tab. 1). Rosenquist beschrieb in seiner Studie von 1992 keine sensorischen Störungen bei zehn Fällen und 26 inserierten Implantaten im Untersuchungszeitraum von zwölf Monaten.15 Zum gleichen Ergebnis kam auch Peleg 2002, er untersuchte ebenfalls zehn Fälle mit 23 inserierten Implantaten über sechs Wochen und stellte keine dauerhaften Störungen fest.11 Auch Jensen 1994 und Ferrigno 2005 konnten lediglich zehn Prozent sensorische Störungen nach zwölf Monaten feststellen.1, 4 In der retrospektiven Untersuchung von Kan 1997 verglich dieser die beiden Operationsmethoden, d. h. Verlagerung am Foramen und Herauslösen von Knochendeckel, wobei dieser bei zweiterem Verfahren signifikant geringere sensorische Störungen über einen längeren Untersuchungszeitraum feststellen konnte.8 In Bezug auf die Implantatüberlebensrate konnten von allen Autoren keine Unterschiede zu einer Implantation ohne Nervverlagerung festgestellt werden. Eine in Einzelfällen beschriebene Spontanfraktur des Unterkiefers konnte weder bei den Autoren dieses Beitrags noch bei ihrer Literaturrecherche festgestellt werden.

Diskussion

Mithilfe einer Nervverlagerung ist es möglich, bei einer reduzierten Restknochensubstanz vor allem in der vertikalen Dimension, eine Freiendsituation mit zeitlich reduziertem, d. h. einzeitigen Vorgehen (Augmentation und Implantation in einer Sitzung) zu lösen. So können möglicherweise Komplikationen bei zweizeitigen Vorgehensweisen, z. B. vertikale/horizontale Resorptionen von Augmentaten, vermieden werden. Außerdem sind keine Unterschiede in der Implantatüberlebensrate im Vergleich zu einer Standardimplantation festzustellen.

Demgegenüber stehen die hohen operativen Anforderungen des Verfahrens an den Operateur, die meist mit einer entsprechenden Operationszeit einhergehen. Das Risiko einer Nervirritation wird durch Einsatz der Piezosurgery deutlich reduziert,17 kann aber nicht vollkommen ausgeschlossen werden. Dem Patienten wird üblicherweise mitgeteilt, dass meist sechs bis acht Wochen mit reversiblen Parästhesien gerechnet werden muss, aber auch eine permanente Parästhesie/Hypästhesie nicht komplett ausgeschlossen werden kann. Eine ausführliche Aufklärung darüber, Aufzeigen von Alternativbehandlungen und eine entsprechende Bedenkzeit müssen dem Patienten gewährt werden. Zudem sollte dies alles schriftlich fixiert werden.

Derzeit gibt es, abgesehen von einer herausnehmbaren Prothese, zwei mögliche etablierte Alternativbehandlungen zur Nervverlagerung: Knochenblock-Augmentation oder der Einsatz längenreduzierter Implantate. Neuste Untersuchungen von Priv.-Doz. Dr. Dr. Eik Schiegnitz und Priv.-Doz. Dr. Dr. Keyvan Sagheb bescheinigen auch dem Einsatz individuell CAD/CAM-hergestellter Titan-Meshes sehr gute Ergebnisse in puncto Knochengewinn und Komplikationsrate.16

Hinweis: Gekürzte Version aus Plöger, M.; Opitz, V.: Nervverlagerung im Unterkiefer. Implantation geht nicht immer minimalinvasiv. Z Zahnärztl Implantaol 2021; 37: 36−43; Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Ärzteverlags.

Die Literaturliste können Sie sich hier herunterladen.

Dieser Fachbeitrag ist im IJ Implantologie Journal erschienen.

Weiterer Autor: Dr. Volker Opitz

Mehr Fachartikel aus Implantologie

ePaper